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Víctor Montoya – Microcuentos – Teil 12

Víctor Montoya | | Artikel drucken
Lesedauer: 3 Minuten

QUETZAL veröffentlicht exklusiv die deutsche Übersetzung einer weiteren Reihe von Microcuentos“ des chilenischen Schriftstellers Víctor Montoya.

 

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Das Monstrum

Als er dahinterkam, dass seine Frau ihn mit einem anderen betrog, riss er sie an den Zöpfen und drohte: Immer wenn dein Verstand ruht, werde ich das Ungeheuer sein, das dich bis in deine Alpträume verfolgt.

Nicht nötig, erwiderte sie. Du bist bereits das Scheusal meines Lebens, ob ich wache oder schlafe.

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Als Christus von Judas geküsst wurde, schaute er ihn mitleidig an und sagte: Ich werde am Kreuz sterben und du mit dem Strick um den Hals …

Judas senkte den Blick und von Gewissensbissen geplagt dachte er bei sich: Den Tod verdienen wir beide, du als Sohn des Herrn und ich als erbärmlicher Verräter.

Zwischen Drinks

Bis ich dich sehe, oh mein Herr Jesus, sagte ein Säufer und leerte das Glas in einem Zug.

Und warum führst du Christus im Munde, wenn uns auf dem Boden der Flasche der Teufel erwartet?, fragte der andere.

Weil ich selbst auf dem Weg von einem Drink zum nächsten mich lieber an den Himmel als an die Hölle wende, seufzte der Betrunkene.

Edvard Munch

In einer Werkschau, zwischen Damen in Pelzmänteln und Herren mit Zylindern, nahm der Galerist einen Schluck Champagner und sprach: Jeder, der diese Gemälde betrachtet, versteht, dass Edvard Munch, – verfolgt von Angst und Einsamkeit – , selbst derjenige war, dessen Schrei vom Pinselstrich des Wahnsinns durchzogen wurde.

Der Zahn

Ein Kind nahm die Geschichte, die seine Mutter ihm erzählt hatte, für bare Münze. Es legte seinen Milchzahn in eine Dose und ging zu Bett, im Glauben, dass er sich in ein Geldstück verwandeln würde. Tags drauf, als das Kind in der Dose nachschaute, fand es nicht mehr als den Schwanz einer Maus, die gestorben war, nachdem ihr der Zahn im Halse stecken geblieben war.

Der Illusionist

Seit seiner Jugend machte er Hokuspokus. Halstücher, Spielkarten, Blumen, Kaninchen und Tauben ließ er verschwinden und zog sie dann mal aus dem Hemdsärmel, mal aus dem Zylinder hervor. Als er alt war, täuschte er niemanden mehr, nicht einmal die bärtige Frau vom Zirkus. Er verlor die ganze Manneskraft und sein Zauberstab, der sich früher wie eine verwunschene Schlange aufgerichtet hatte, fiel wie ein Regenwurm in den ewigen Schlaf.

 

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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Bildquelle: Quetzal-Redaktion_gt

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