Die Schwierigkeit, Bolivien unabhängig zu machen, besteht in der Unvereinbarkeit zwischen Weltbildern und Praktiken der Kolonisierten mit den Machtstrukturen der wirtschaftlich-mächtigen Elite („Oligarchie“), die sich genauso als Teil des bolivianischen Staates sieht. Und damit stehen wir vor einem Definitionsproblem. Was ist die bolivianische Identität? Gibt es eine bolivianische „Nation“? Ist die „Nation“ der Weg zur Dekolonisierung und zur Beseitigung von (gegenseitigem) Rassismus? Anhand dieser Fragen unternimmt Makaran (cf. Makaran 2016) einen kritischen Exkurs zu den Anfängen der plurinationalen Staatsgründung 2006.
Bolivien selbst und die internationale Gemeinschaft erwarteten eine radikale, vielversprechende oder aber in jeder Hinsicht noch nie vorher dagewesene Wende. Makaran beschreibt die Gründung der plurinationalen bolivianischen Verfassung als einen diplomatischen Kraftakt zwischen verschiedenen ideologisch-politischen, ethnischen und kulturellen Lagern. Ihrer Meinung nach ist das Projekt der Plurinationalität jedoch gescheitert. Konkret sieht sie dieses Versagen in der Aufrechterhaltung des Nationalismus und der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen „westlichen“ Ordnung. In der Konstitution eines starken, alles überdachenden Staats und einer übergeordneten „nationalen“ Identität, seien die indigenen autonomen, selbstbestimmten Nationen nur eine Ergänzung, verortet innerhalb der Hegemonie eines „westlich“ aufgebauten und interpretierten Nationalstaats (cf. Makaran 2016: 18).
Da dieser „westliche“ Nationalstaat weder die politischen Praktiken der indigenen „Nationen“ aushalten kann, weil sie dem Prinzip der Parteien-/bzw. repräsentativem Demokratien zuwiderlaufen (Rotationsprinzip und deliberative Demokratie), noch die ökonomischen Modelle (Gemeinschaftsökonomie) der indigenen Gemeinschaften neben dem Kapitalismus tolerieren kann, garantiert er weiterhin eine Überordnung „westlicher“ Prinzipien und eine Abstufung indigener sozialer Systeme. In diesem Sinne ist er eben doch kein Staat der Gleichstellung, wie er von Vizeminister García Linera propagiert wird. Ein Aymara-Abgeordneter repräsentiert im Parlament immer noch den bolivianischen Staat und nicht die Aymara-Nation Boliviens (cf. Makaran 2016: 21).
Inwieweit hat die Unterordnung indigener politischer Systeme oder die Eingliederung individueller indigener Staatsrepräsentant:innen Auswirkung auf den Fortbestand des Rassismus? Molina führt an, dass sich auch im plurinationalen Staat die Tendenz fortsetzt, sich nicht mehr mehrheitlich als indigen zu betrachten (cf. Molina 2021: 38). Der Bedeutungsverlust ethnischer Identität ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit dem Anstieg von Nationalismus per se, sondern mit dem „westlichen“ Nationalismus im Speziellen. Schließlich gibt es ebenfalls „indigenen Nationalismus“. Man erinnere sich nur an die Guerillagruppe Tupaq Katari mit dem Ziel einen indigenen sozialistischen Staat zu errichten. Letzterer Fall ist besonders paradox, da es sich um eine Synthese verschiedenster „westlicher“ Ideen (Sozialismus; Staat) auf der Basis ethnischer Identität (Quechua, Aymara) handelt. Auch die Verfechter:innen des Projekts waren unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft. So entstammte Ex-Guerrillero García Linera der weißen oberen Mittelschicht, war jedoch trotz allem oder gerade deshalb entschlossen, das Projekt einer „indigenen Nation“ an der Seite des Aymara-Anführers Felipe Quispe umzusetzen (cf. Makaran 2016: 17).
Wie viele Marginalisierte erkannt haben, ist die Aneignung und Selbstgestaltung von Strukturen, die ehemals vom unterdrückenden Regime ausgingen, ein erster Schritt zur Emanzipation. Demzufolge könnte Nationalismus von Rassismus (gegen die kolonisierten Indigenen) sogar entkoppelt werden. Laut Stuart Hall ist „Nationalismus“ nicht einmal eine politisch eindeutig verortbare Ideologie und lässt sich vor politisch vollkommen verschiedene Karren spannen:
Der Begriff ʽNation’ besitzt […] ebenso wenig wie ʽEthnizität’ eine notwendige politische Anbindung. Obgleich wir uns viele Situationen ins Gedächtnis rufen können, in denen die Nation für regressive, archaische und reaktionäre politische Kräfte eingespannt worden ist – also zwangsweise an die Grenzpfähle der rassischen, ethnischen, religiösen und kulturellen Abschließung geheftet wurde – hat der Nationalismus gelegentlich auch eine progressive politische Rolle gespielt [etwa bei den] aus dem Antikolonialismus hervorgegangenen nationalen Befreiungsbewegungen. In dieser Variante hat der Nationalismus sowohl an den Kämpfen um die afrikanische Dekolonisation als auch am afroamerikanischen Kampf gegen rassische Ausgrenzung und Unterdrückung seinen Anteil gehabt. ʽNation’ ist […] ein janusköpfiges Phänomen (Hall 2018: 170-71).
Nationalismus sei für die Dekolonisierung der vormaligen Imperien sogar unabdingbar gewesen (cf. Le Sueur 2003: 189). Allerdings müsste man mit Fanon konkretisieren und von einem antikolonialen Nationalismus sprechen, der nur zum Zweck des Befreiungskampfes existiert.
Theoretisch sind Rassismus und Nationalismus zwei gegensätzlich funktionierende Systeme. Trotzdem weisen sie in ihrer Stoßrichtung oft erschreckende Parallelen und Anknüpfungspunkte auf. Stuart Hall charakterisiert Rassismus ausführlich als ein äußerlich starres System, was sich an krampfhaft konstruierter Binarität und negativ ausgelegter Differenz festklammert (cf. Hall 2018: 92). Gleichzeitig sind die Inhalte, mit dem dieses „rigide“ Gerüst gefüllt wird, flexibel und immer an die historische Situation anpassbar (cf. Hall 2018: 92, 166). Im Kontrast zum Rassismus ist Nationalismus bestrebt, Differenzen zu homogenisieren, d.h. trotz aller kulturellen und ethnischen Unterschiede, eine scheinbar „zeitlose, mythisch-evolutionäre“ Einheit bilden (cf. Hall 2018: 153-54).
Unheimliche Nähe zeigen Rassismus und extremer Nationalismus allerdings, was die negative Interpretation bestehender Differenzen angeht. Da Nationalismus bestrebt ist, Differenzen gleichzumachen, oder zumindest nur in einem der „Nation“ untergeordneten Diskurs zuzulassen, kann das Festhalten an Diversität als Gefahr gegen die „Einheit der Nation“ gesehen und letztendlich mit den gleichen Mitteln bekämpft werden, denen sich der Rassismus bedient. Daher kommt es, dass in Ländern, bei denen die „stets verletzliche und auffallend kränkliche Pflanze [der] nationalen Identität“ durch z.B. Globalisierung und Migrationsströme hinterfragt wird, rassistische Rhetorik zur „Verteidigung“ der „nationalen“ Identität wieder auf dem Vormarsch ist (cf. Hall 2018: 163-64).
Obgleich zu bezweifeln ist, dass der indigene Staat im Wunschdenken García Lineras zur Abschaffung des Rassismus geführt hätte (im schlimmsten Fall zum verstärkten Rassismus durch die feindlich eingestellte ex/neo-koloniale Elite oder zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse), hat auch der plurinationale Staat weder zu einer zufriedenstellenden, diskriminierungsfreien „nationalen“ Identität geführt, noch den Nährboden für Rassismus entzogen. Natürlich müssen politische Maßnahmen gegen Rassismus durch das Organisationssystem der Gesellschaft gestützt sein. Um auf Makarans Argument zurückzukommen befeuert die Prävalenz des „westlichen“ Staatsmodells durchaus die zweitrangige, oder ergänzende Stellung indigener Ordnungen und trägt indirekt zur Erhaltung kolonial verinnerlichter Hierarchien bei (cf. Mankara 2016: 18). Dadurch, dass das „westliche“ System eben nicht angeeignet und verändert wurde, sondern kolonial geprägte Minderwertigkeitskomplexe gegen die eigene ethnische Zugehörigkeit überdauern, ist auch die Einstellung gegenüber sich selbst, deckungsgleich mit dem Rassismus der (ex)-kolonialen Elite. Es ist also der fixierte, ideologisch gefestigte Charakter des „westlichen“ Nationalstaatenmodells, der zu kolonial aufgeladen ist, um auf verschiedene soziale Entwürfe der indigenen Bevölkerungen zu reagieren, d.h. je nach Situation auf die Weltsichten der verschiedenen Gesellschaftsmitglieder einzugehen und sich entsprechend aktiv zu wandeln.
Besondere Aufmerksamkeit sollte auch einer Beobachtung gelten, die Molina sehr eindringlich untermauert: Eine bolivianische, „nationale“ Identität ist ihm zufolge immer rassistisch besetzt. Dies ist nicht nur auf den „westlichen“ Charakter des Nationalstaats zurückzuführen, sondern vor allem auf die Tatsache, dass sich die „weiße“ Elite stets auf die bolivianische, d.h. „nationale Identität“ berufen hat, um rassistisch motivierte Privilegien zu tarnen und abzusichern:
[Unter der MAS-Regierung] kam es zu einem Strategiewechsel der Weißen. Anstatt die Existenz des Rassismus abzustreiten („Wir sind alle mestizos“) gingen sie dazu über, einen Rassismus zu benennen, der ihnen zufolge gegen sie gerichtet war. Die politische Wende […] der MAS […] hatte eine lange historische Linie der Bevorzugung und Begünstigung durchbrochen, welche durch die Absorbierung der verschiedenen nationalen Identitäten unter einer „Dachidentität“ der mestizos bolivianos und damit dem „Verschwinden“ der Weißen garantiert gewesen war. Während der unbegrenzten Vorherrschaft der Weißen war oder wollte ihrer Meinung nach niemand rassistisch sein. Erst als ihre traditionelle Vormachtstellung durch eine neue historische Realität ins Wanken gebracht wurde, fühlten sie sich durch die Indigenen rassistisch diskriminiert (Molina 2021: 141).1
Das Herunterspielen ethnischer Differenzen und den „universalisierenden“ Identitätsanspruch sieht Molina als symptomatisch für verschleierten Rassismus (cf. Molina 2021: 145). Die Opferrolle, in der sich die eher rhetorisch und nicht materiell entmachtete weiße Oberschicht während der MAS-Regierung sah (cf. Molina 2021: 145), wurde unterstrichen durch Gesten, die der indigenen politisch-ethnischen Ausrichtung widersprechen sollten. So spielte die Betonung der „bolivianischen“ Identität eine entscheidende Rolle und die Präsentation der bolivianischen Trikolore im Gegensatz zur wiphala2 (cf. Molina 2021: 145-46). Auch Lucero schließt sich Molina an, wobei er darauf hinweist, dass das Nationalstaatenmodell eng mit den historischen „kolonialistischen, eurozentristischen Ideologien der hispanidad und mestizaje“ verknüpft ist:
Despite their differences, both hispanidad and mestizaje reproduced and reinforced the homogenizing logic of the nation-state, which stigmatizes the ethnic differences of the present (Lucero 2008:14).
Aus diesem Grund ist es höchst problematisch in Bolivien eine „nationale“ Identität „westlicher“ Natur zu propagieren, ohne sich zu Schulden kommen zu lassen, rassistische Hierarchien verbergen, d.h. aufrecht erhalten zu wollen. Während Reinagas Modell einer ethnisch basierten Inka-Nation, das vor allem eine bestimmte homogenisierte Ethnie hervorhebt, eine rassistische Tendenz haben könnte, hat der „westliche“ homogenisierende Nationalismus die verhängnisvolle Ausrichtung, ethnische Differenz als Problem zu werten (cf. Stuart Hall 2018: 158). Daher weist er einen ebenso großen Nährboden für Rassismus auf.
Als einen Weg aus dieser Sackgasse möchte man das sehr idealistische Gedankenexperiment wagen und hinterfragen, wie eine gemeinschaftsstiftende Identität aussehen würde, die den Raum für (gegenseitigen) Rassismus entziehen soll. Im Umkehrschluss zum historischen und aktuellen Dilemma müsste es sich um eine offene, allenfalls „nationalartige“ (also nicht mit hegemonialen Diskursen gefüllte, nicht rein „westlich“ angelegte) gemeinschaftsstiftende Identität handeln. Wenn Kollektive oder Individuen nicht mehr zwanghaft auf bestimmte Räume und Traditionen fixiert werden, können rassistische Zuweisungen und Vorurteile unterhöhlt werden. Diese Forderung nach der Abschaffung einer festen Platzzuweisung ist übrigens auch ein Kernelement des Feminismus (cf. Uremović 1994: 33-34). Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Rassismus nach dem gleichen Unterdrückungsprinzip wie etwa das Patriarchat funktioniert (cf. Scherr 2017: 238).
Eine solche Auflösung der zwanghaften Platzzuweisungen würde natürlich eine bilaterale Entwicklung voraussetzen. D.h. die Stigmatisierung von als „indigen“ betitelten Berufen müsste aufgehoben werden und eine freie Karriereentscheidung möglich gemacht werden, sowohl bei indigenen, als auch bei Nicht-Indigenen oder mestizos. Diese unvoreingenommene Entscheidung/Entfaltung sollte natürlich in allen politischen, kulturellen und sozialen Sphären möglich gemacht werden. Eine gemeinschaftsübergreifende Identität sollte hier auf keinen Fall instrumentalisiert werden, um ethnische Differenzen zu ignorieren, oder zu annullieren. Damit Differenzen positiv ausgelegt werden können, um sowohl Rassismus als auch homogenisierenden Nationalismus zu umgehen, ist die Strategie aus dem Feminismus von Migrant:innen ein hilfreicher Ausgangspunkt:
[…] für eine antirassistisch-feministische Logik […] ist es wichtig Unterschiede nicht als feste Eigenschaften, sondern als etwas Veränderliches und Sich-Veränderndes zu sehen […] Eine Widerspruchskultur ist noch zu entwickeln: das Erlernen der Möglichkeit, in Widersprüchen zu denken, Widersprüche zu erkennen und zu analysieren, anstatt diese zu vereindeutigen und einer dichotomischen Entweder-oder-Logik zu verfallen (Uremović 1994: 45).
Um mit Fanon zu sprechen, wäre die „national(artige) Identität“ im Idealfall also nichts weiter als ein kurzzeitiges Konstrukt, aus der ein positiver Gemeinschaftssinn extrahiert wird und die man dann verwirft, bevor sie an den Punkt der diskriminierenden Gleichmacherei und der Dämonisierung von (ethnischen) Differenzen kommen kann. Das sind zugegebenermaßen sehr utopisch anmutende Ideen. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass in jeder „nationalen“, d.h. imaginären Gemeinschaft große Differenzen, auch innerhalb von Traditionen, sprachlicher Variation und ethnischer Zugehörigkeit, Fakt sind (cf. Hall 2018: 154). Und trotz dieser gähnenden Differenzen, schaffen es Mitglieder einer „Nation“, ein auf Annahmen basierendes, aber in der Realität umgesetztes Solidaritätsgefühl aufzubauen. Dass diese emotionale Verbundenheit auch international möglich ist, beweist die Flexibilität „nationaler“ Konstrukte, obwohl jeder Nationalstaat auf der Stabilität des Systems beharrt. Kurz gesagt, könnte eine gemeinschaftsstiftende, aber aktiv wandelbare Identität, in der Differenzen diskutiert und gelebt werden dürfen und die nicht als unveränderbar-ewig-kontinuierliches „Naturgesetz“ hingestellt wird, Auswirkung auf die Bekämpfung von Rassismen haben.
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Literatur:
Blackwell, Maylei (2011): ¡Chicana Power!: Contested Histories of Feminism in the Chicano Movement. Austin: University of Texas Press.
Fanon, Frantz (1952): Black Skin, White Masks. NY: Grove Press.
Fanon, Frantz (1963): The Wretched of the Earth. NY: Grove Press.
Hall, Stuart (2018): Das verhängnisvolle Dreieck: Rasse, Ethnie, Nation. Berlin: Suhrkamp.
Le Sueur, James D. (2003): The Decolonization Reader. NY, London: Routledge.
Lucero, José Antonio (2008): “Fanon in the Andes”, in: International Journal of Critical Indigenous Studies, Vol. 1. Washington: Creative Commons Attribution 4.0 International. S. 13-22.
Makaran, Gaya (2016): ¿Nación de naciones? (Pluri)nacionalismo boliviano en el gobierno de Evo Morales. La Paz: Centro de Investigaciones en ciencias sociales y humanidades desde América Latina.
Molina, Fernando (2021): Racismo y Poder en Bolivia. La Paz: Oxfam, Friedrich Ebert Stiftung, Plural Editores.
Reinaga, Fausto (1969): La Revolución India. La Paz: Partido Indio Boliviano.
Scherr, Albert (2017): „Rassismus, Post-Rassismus und Nationalismus. Erfordernisse einer differenzierten Kritik“, in: PERIPHERIE – Politik, Ökonomie, Kultur, Vol. 37. SSOAR: Open Access Repository [http://doi.org/10.3224/peripherie.v37i2.05] (Zugriff am 21.09., 11.59 Uhr). S.232-249.
Uremović, Olga (1994): Frauen zwischen Grenzen: Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
Bildquellen: [1, 3] Quetzal-Redaktion_soleb [2] Quetzal-Redaktion_gc
1 Eigene Übs.
2 Flagge der indigenen Völker in Bolivien