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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Walter Prudencio Magne Veliz
Botschafter Boliviens in Deutschland

Sven Schaller | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Boliviens Botschafter in Deutschland Walter P. Magne Veliz - Foto: Quetzal-Redaktion, rumiHerr Botschafter, aus welcher Region in Bolivien kommen Sie?

Vom Hochland, aus der Stadt Oruro.

Wie ist die aktuelle sozio-politische Situation in ihrer Geburtsstadt?

Es gibt derzeit in ganz Bolivien eine spezielle Situation mit einigen Besonderheiten in den Städten. Ganz Bolivien befindet sich in einem Prozess des Wandels.

Welche Veränderungen sind das?

Die wichtigste Veränderung findet derzeit ihren Ausdruck in der Ausarbeitung der neuen politischen Verfassung. Es ist klar, dass die konservativen Sektoren ihre Privilegien nicht verlieren wollen und die Mehrheit der Bevölkerung – wir sprechen von 67 Prozent – den Wandel möchte, weil in der neuen politischen Verfassung folgendes festgeschrieben wird: das Eigentum des bolivianischen Volkes an den natürlichen Ressourcen, die Einbindung der indigenen Kulturen, die Option für den Frieden, eine plurale Wirtschaft, die Priorität der Finanzierung von Programmen für Bildung, Gesundheit und Umwelt, der Schutz des Ökosystems und das Verbot von Gentechnik-Produkten und viele andere Aspekte.

Bezogen auf die landesweiten Probleme: Welche Bedeutung hätte die neue Verfassung für Bolivien?

An erster Stelle die Einbeziehung der indigenen Völker mit ihren Werten, Weisheiten und Technologien. Das ist das Wichtigste. Außerdem wird die Aufnahme von Wasser und Ernährung als verfassungsmäßiges Grundrecht eine gerechte Gesellschaft schaffen.

Hier in Europa liest man oft vom Konflikt zwischen den Regionen in Bolivien. Wie sehen Sie die Situation?

Das ist kein Konflikt zwischen Regionen. Es ist ein Konflikt mit einer alten Oligarchie, die versucht, eine ganze Region einzubinden. Aber in dieser Region ist der MAS stark vertreten.

Was wird sich für die indigenen Völker ändern, wenn die neue Verfassung in Kraft tritt?

Dass sie die Eigentümer der natürlichen Ressourcen sein werden, die sie besitzen. Wenn die transnationalen Konzerne irgendeinen Reichtum einer Region ausbeuten wollen, können sie nicht mehr wie früher handeln. Sie müssen einen Antrag an die Regierung stellen, und die Regierung muss ein Einvernehmen mit dieser indigenen Kommune erzielen, in diesem Fall ein Referendum einberufen, wie mit den natürlichen Ressourcen verfahren werden soll.

Viele indigene Völker in Lateinamerika empfinden viel Sympathie und setzen Hoffnung in das, was bisher in Bolivien unter der Regierung von Präsident Evo Morales geschehen ist. Können Sie ein paar zentrale Projekte der Regierung nennen, die das Leben der Bolivianer nachhaltig verändern werden?

Die Einbeziehung der indigenen Völker bedeutet eine Anerkennung der Geschichte in unserem Land. Man muss sich vor Augen führen, dass in Bolivien mehr als 60 Prozent indigen sind. Und die ganze Zeit hat die neoliberale Politik versucht zu verneinen, dass diese multikulturelle Realität in Bolivien existiert. Wir sprechen davon, dass die Anerkennung der indigenen Völker ein Recht ist und dass das einzige, was wir tun, darin besteht, diese Rechte verfassungsmäßig anzuerkennen. Außerdem ist der Kampf gegen die Korruption zu erwähnen, der eine gerechte Gesellschaft erlauben wird.

Mit Blick auf die Zukunft: Was wird das nächste Projekt nach der Verfassung sein?

Die Umsetzung des neuen Sozialvertrages. Dieser Sozialvertrag ist die neue Verfassung. Es wird dauern, bis er umgesetzt ist. Es ist nicht so, dass sich nach der Zustimmung für die neue Verfassung automatisch alles in unserem Land ändert. Nein, das ist ein Prozess. Die Menschen, die Bolivianer müssen sich diese Verfassung aneignen. Das funktioniert nicht mechanisch. Das ist ein sozialer Prozess. Das ist ein kultureller Prozess. Das bedeutet also, dass in der Schule, in den Berufsverbänden, in den Gewerkschaften auch debattiert werden muss, was die neue Verfassung für Bolivien darstellt. Es sind die jungen Leute, die diese Verfassung leben werden. Diese Generation wird sie vielleicht nicht leben. Das bedeutet, die Verfassung ist für die Zukunft gemacht.

Bolivien ist bis heute sehr abhängig vom Export von Rohstoffen. Wie soll die Wirtschaft entwickelt werden?

Was auch in unserer Verfassung steht, ist, dass Bolivien seine Rohstoffe industrialisieren muss. Und es ist zudem die Entscheidung der bolivianischen Regierung, dass Bolivien ein ökologisches Land sein soll. Wir hoffen, dass in zehn Jahren dieser Wunsch in Erfüllung geht, weil es eine riesige Arbeit darstellt, über organischen Dünger zu verfügen, organisches Saatgut zu haben, eine Zertifizierung für organische Lebensmittel zu erhalten. Wir wollen, dass eine Kohärenz zwischen unserer „Kosmovision“[1] und der Praxis besteht. Und das ist ebenfalls ein Prozess. Der Prozess der Entfremdung, den der Neoliberalismus gebracht hat, die Absicht, die Kulturen zu homogenisieren, die Absicht, die Vielfältigkeit zu verlieren und alles nur zu billiger Arbeitskraft zu konvertieren, ist etwas, wogegen wir uns wehren. Wir wollen, dass alle Arbeiter, alle Bauern, alle Menschen in Würde leben. Und das werden wir mit einer kohärenten Politik erreichen, die die Natur respektiert, die uns aber auch erlaubt, unsere eigenen Ressourcen zu industrialisieren.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Solidar-Ökonomie, die traditionelle Solidarität zwischen den comuneros, die gemeinsame Bewirtschaftung der Sierra, die Sie auch erlebt haben?

Es gibt einige Prinzipien: Zusammengehörigkeit und Gegenseitigkeit sind spezifische Elemente unserer Kultur. Und all dies im Rahmen der Normen, die im Laufe der Zeit existiert haben. Auf dem Gebiet der Wirtschaft zum Beispiel, gibt es verschiedene Produktionsweisen, die man in Bolivien findet. Und das steht in Verbindung mit den Unternehmen. Wir akzeptieren, dass es private Unternehmen gibt, aber auch Staatsfirmen, wir akzeptieren Kooperativen, wir akzeptieren aber auch die kommunitäre Dynamik, die ihrer eigenen Logik folgt. Und wir werden die kommunitäre Wirtschaft unterstützen, auch die Genossenschaften, die staatliche und die gemischte Wirtschaft, die sich aus der Beziehung eines staatlichen und eines privaten Unternehmens ergeben kann.

Bezogen auf die Politik, glauben Sie, Bolivien könne der Motor für ein neues Konzept der partizipativen Demokratie sein?

Bolivien versucht, seine eigene Zukunft zu bauen. Aber die Veränderungen in jedem Land sind spezifisch – abhängig von seiner Geschichte. Man kann nicht kopieren, was gerade in Bolivien geschieht. Man kann es jedoch als Beispiel nehmen. Und andere Länder nehmen es schon als Beispiel, machen sogar in vielen Fällen bessere Vorschläge als wir, aber auf Grundlage unserer Erfahrung. Das ist begrüßenswert. Wir haben auch von anderen Gesellschaften, von anderen Ländern gelernt. Und wir haben deren Vorschläge verbessert. Aber, um noch einmal das vorher Gesagte aufzunehmen, jede Gesellschaft hat ihre eigene Geschichte und ihre eigenen sozialen Forderungen, auf die sie reagieren muss. Man kann keine mechanische Veränderung oder Kopie von einem ökonomisch-sozialen Modell auf ein anderes Land übertragen.

Was ist Ihr persönliches Engagement für Bolivien?

Es gibt ein Engagement, damit die indigenen Völker ihre Rechte erhalten und in einer transparenten Art Zugang zur Nutzung dieser Rechte erlangen. Mit Blick auf meine persönliche Arbeit setze ich mich für den Erhalt der Vielfalt Boliviens ein und unterstütze die indigenen Völker und ihre Ziele, welche in diese politische Verfassung Eingang gefunden haben.

Was missfällt Ihnen in Bolivien? Sind Sie mit allem einverstanden, was derzeit passiert in Ihrem Land?

Ich bin mitverantwortlich für diesen Prozess des Wandels. In einem Prozess der Veränderung gibt es immer gewisse Entsagungen. Wir können also nicht von Gefallen sprechen. Wir müssen von der Verantwortung mit diesem Prozess des Wandels sprechen. Das Persönliche lässt man manchmal beiseite. Wir sprechen von neun Millionen Menschen, die ein Fernziel brauchen, und das verlangt auch persönlichen Verzicht.

Eine persönliche Frage: Sie sind seit drei Jahren hier in Deutschland. Haben Sie sich schon an das Essen, das Klima, die Kultur gewöhnt?

Ja, durchaus. Aber mich interessiert auch, von anderen Kulturen zu lernen. Ich teile alles, was die gastronomische Kultur in diesem Land anbelangt. Jeden Tag lernt man etwas über ökologische Nahrung und seinen Einfluss auf die Umwelt. Hier kann man zum Beispiel Essen aus Indien, China, Griechenland und vielen anderen Ländern finden. Das bereichert den Menschen. Die Möglichkeit zu haben, in diesem Land zu leben, erlaubt, gesunde gastronomische Kulturen kennenzulernen.

Zum Schluss des Interviews: Haben Sie einen Wunsch für die Welt, für Lateinamerika…?

Der Wunsch ist, dass wir im Dialog leben. Wir sollten immer versuchen, uns zu verstehen, denn unser Ziel ist es, gut und in Harmonie mit der Mutter Erde und unseren Nachbarn zu leben. Das ist es, was wir erreichen wollen.

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[1] Die andine Kosmovision geht davon aus, dass es parallele Welten gibt, die miteinander in Verbindung stehen. Sie verbindet die materiellen, gedanklichen und spirituellen Ebenen. Der Mensch ist dabei nur Teil eines unermesslich großen Ganzen, der nicht über den anderen Elementen der Schöpfung steht. Er steht mit ihnen vielmehr auf einer Ebene und bildet mit ihnen eine sich im Gleichgewicht befindende Gemeinschaft. Der Respekt der indigenen Völker vor der Natur, speziell der pacha mama, der Mutter Erde, erklärt sich mit diesem Konzept genauso wie deren Präferenz für traditionelle Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens gegenüber dem westlich geprägten Individualismus. [Anm. des Übersetzers.]

Das Gespräch fand am 01.11.2008 in Mannheim statt. Die Originalversion auf Spanisch findet sich hier.

Übersetzung: Sven Schaller

Bildquelle: Quetzal-Redaktion, rumi

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