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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Paco Ignacio Taibo II
Mexikanischer Schriftsteller und Historiker

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Lesedauer: 12 Minuten

Ché – ein Zufall in der Geschichte?

Der 30. Jahrestag der Ermordung von Ernesto Ché Guevara rückt näher, und wie immer ist aus diesem Anlaß mit einem Ché-Boom zu rechnen. Nun haben auch Sie in Mexiko eine Biographie des wohl berühmtesten Guerilleros geschrieben (inzwischen in Deutsch bei Nautilus unter dem Titel „Ché – Die Biographie des Ernesto Guevara“ erschienen – die Interviewer). Abgesehen von dieser, welche ist denn bisher die beste Ché-Biographie?

Ich glaube, keine. Es gab bislang noch keine ernsthafte Biographie über den Ché. Nur Bruchstücke, aber eben keine Biographie. Deshalb habe ich mich ja entschlossen, eine zu schreiben.

Gibt es aus Ihrer Sicht einen bestimmten Abschnitt im Leben des Ché, der hervorzuheben wäre oder halten Sie alle für gleichermaßen wichtig?

Nein, ich denke, gerade dadurch, daß ich die Teile seines Lebens zu einem Ganzen gefügt habe, sehe ich ihn als eine Figur, die einen langen Weg zurücklegt, von der Kindheit, Jugend, über seine Reisen, seine Entdeckung Lateinamerikas, die Kontakte zu den Kubanern, seine Teilnahme an der kubanischen Revolution, die Zeit im Industrie- und Bau-Ministerium, bis hin zu seinem Weggang, erst nach Afrika, später nach Bolivien. Die Figur besitzt Kohärenz.

Sie haben lange und intensiv recherchiert und sind dabei sicher auch auf neue Fakten gestoßen. Inwiefern hat sich dadurch Ihr Bild von Ché verändert?

Ich würde sagen, es ist konkreter, genauer geworden. Anfangs waren mir selbst nicht mehr jene Elemente gegenwärtig, die einer solch komplexen Persönlichkeit Einheit verleihen. Mein Bild war in unzählige kleine Anekdoten zerstückelt, die zusammenhangslos nebeneinander standen. Da war zum einen das „Bolivianische Tagebuch“, seine „Episoden aus dem Revolutionskrieg“, in denen er seine kubanischen Guerillaerfahrungen verarbeitet, einige Erzählungen. Und außerdem gab es noch die etwas undurchsichtige Geschichte in Afrika. Aber er war keine richtige Figur. Erst am Ende, als ich das Buch fertig hatte, hatte ich den Eindruck, daß ich jetzt endlich eine kohärente Figur vor mir hatte.

Es gibt Abschnitte in seinem Leben, die fast gänzlich unbekannt sind. Beispielsweise die afrikanische Episode 1965 im Kongo, seine Zeit (1961-1965) als Industrieminister in Kuba. Niemand hat diese vier Jahre genauer unter die Lupe genommen. In diesem Zusammenhang sind nicht seine Reden oder die von ihm vertretenen Theorien so wichtig, sondern vielmehr, wie er das Industrie-Projekt vorangetrieben hat. Worin bestand der Unterschied zu anderen Konzepten, welche Varianten gab es in diesen vier Jahren in Kuba? Das war eine sehr spannende und bewegende Geschichte. Immerhin acht Kapitel habe ich dafür in meinem Buch benötigt.

Wie würden Sie die Bilanz seines Lebens beschreiben, sofern dies möglich wäre?

Nein, ich glaube, das kann man nicht. Ich habe gerade diese Art von Biographie gewählt, weil ich keine „Bilanz“ aufstellen wollte. Es wird eine Geschichte erzählt und jeder Leser muß sich damit selbst auseinandersetzen und seine Schlußfolgerungen ziehen. Ich nehme dem Leser diese Mühe nicht ab. Ein paar Dinge sind für mich offengeblieben, aber nicht als Autor, sondern als Leser. Als Leser meines eigenen Buches denke ich über die Beharrlichkeit nach, über die wir auch vorhin beim Gespräch diskutiert haben, über die Beharrlichkeit als „moralischer Motor“. Auch das Gerechtigkeitskonzept Guevaras erschient mir wesentlich, sein sehr eiserner Egalitarismus, der etwas Unnahbares austrahlte. Aber das sind Überlegungen als Leser, nicht als Autor des Buches. Als Autor habe ich nur eine Geschichte erzählt.

Sie sind nicht nur ein bekannter Schriftsteller, sondern auch Historiker. Welchen Platz nimmt Ché in der lateinamerikanischen Geschichte ein?

In der lateinamerikanischen Geschichte gibt es zu viele „Interpreten“, aber sehr wenige Erzähler. Alle wollen nur schnell interpretieren. Für mich als Leser – ich möchte nicht als Historiker darüber urteilen – ist Ché die Schlüsselfigur, um das revolutionäre Ansinnen der 60er Jahre zu verstehen. Er ist der lebendige Ausdruck der Vorstellung, daß die Revolution in Lateinamerika damals möglich war. Dieses Konzept der „revolución posible“ hat er vehement vertreten.

Diese Revolution hat aber trotz verschiedener Anstrengungen und Anläufe stattgefunden. Welche waren die Gründe für ihr Scheitern?

Ganz einfach. Ich denke, daß sie nicht möglich war. Die Tatsache, daß sie moralisch notwendig war, macht sie eben noch lange nicht möglich.

Und jetzt? Welche Möglichkeiten hätte ein solcher Versuch?

Jetzt noch viel weniger. Wir leben in einer Zeit noch viel größerer Schwierigkeiten. Heute können wir mit etwas Glück – zumindest in einigen lateinamerikanischen Ländern – demokratische Veränderungen erreichen. Keine radikalen Transformationen. Und das auch nur mit Glück. Ohne Glück werden sie uns wieder plattmachen.

Eine Revolution wäre also notwendig, ist aber nicht möglich. Wie könnte man diesen Wiederspruch auflösen oder erklären?

Die Möglichkeit einer Revolution wird durch die zeitliche Dimension entschieden. Die Frage der moralischen Notwendigkeit ist hingegen von universeller Dimension. Das ist der Unterschied. Ist man einmal so weit zu sagen, daß auf diesem Kontinent eine Revolution vonnöten ist, dann bleibt das Problem der Zeit. Es kann 60 oder 80 Jahre dauern, ehe der Zeitpunkt heranrückt, daß aus dieser Notwendigkeit eine Möglichkeit wird. Ob ich das dann noch erleben werde oder nicht, was macht das schon. Du verbindest das nicht primär mit der Zeit, sonder mit der Notwendigkeit, mit der moralischen, politisch-sozialen Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen der Strukturen, der sozioökonomischen Beziehungen, der Machtverhältnisse in Lateinamerika. Wenn du das einmal akzeptiert hast, dann läßt dich die Zeit nicht verzweifeln.

Ché lebte unter dem Druck, daß die Revolution möglich schien, greifbar nahe sogar. Und vielleicht war es tatsächlich so. Es entscheiden ja manchmal Kleinigkeiten. Die Revolution hätte damals in Bolivien siegen können, der Militäputsch in Chile 1973 hätte scheitern können. Es war alles nicht so eindeutig, wie es im Nachhinein oftmals scheint. Die Geschichte ist nicht deterministisch festgelegt.

Sie ist also offen?

Ja, genau. Geschichte ist immer offen. Wenn ich denn mal ein ernsthafter Historiker bin, der ich jetzt nicht bin, dann würde ich gerne ein Buch mit dem Titel „Die Rolle des Zufalls in der Geschichte“ schreiben. Ich möchte im Gegensatz zum Neanderthal-Marxismus zeigen, daß es in der Geschichte nur Zufälle gibt.

Dann war Ché also auch so ein Zufall?

Ja klar.

Wir möchten noch einmal auf den kontinentalen Charakter der revolutionären Kämpfe in Lateinamerika zurückkommen. Welche waren damals die Gründe für das Scheitern dieser Bemühungen?

Ich denke, das kann man nicht in kurze Worte fassen. Dazu muß man eine lange Geschichte erzählen. Zuerst müßte man die großen zeitlichen Unterschiede festhalten. In Guatemala ging es gerade los, als es in Honduras zu Ende ging; es begann in Uruguay, als es in Argentinien vorbei war. Diese „rhythmischen“ Unterschiede ermöglichten aber die Konzentration von Kräften. Diese Konzentration wiederum veranlaßte den Feind, an bestimmten Stellen anzugreifen. Ein anderes Problem waren die vorpreschenden Attacken verschiedener Sektoren als Zeichen einer unreifen Volksbewegung. Teile der fortschrittlichsten Linken warfen sich in den Kampf, als ob es schon eine revolutionäre Situation gegeben hätte. Sie glaubten, dem Beispiel Kubas zu folgen, als wenn dort alles nur durch den Willen entschieden worden wäre. Aber in Kuba verhielt sich die Sache eben anders. Es existierte eine revolutionäre Situation, das Batista-Regime steckte in einer tiefen Krise. Aber noch Jahre später konnte man nachlesen, daß die kubanische Revolution nur dank des Willens der Kämpfer stattgefunden hätte. Selbst Ché hat das so gesehen.

Interessanterweise geht er dann nach Bolivien, wo es bereits eine gewisse revolutionäre Reife gab. Es hätte funktionieren können. Und das, obwohl er dort keine Revolution machen wollte. Er war zufällig gefangen in dieser Situation, stolperte quasi in die Revolution hinein, die er dort nicht suchte.

Um noch einmal auf Kuba zurückzukommen. Welche Veränderung hat es dort im Laufe der Jahre hinsichtlich der Perzeption der Persönlichkeit von Ché gegeben?

Das ist sehr schwierig zu erklären. Für mich sind nur die letzten beiden Etappen klar. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre verwandelte sich Che in einen weltlichen Heiligen, von dem nur die reinsten und freundlichsten Dinge erzählt werden. Hinter dem Motto „Seremos como el Ché“ (dt.: Wir werden wie Che sein) verbarg sich ein propagandistischer Ziel. Die kubanische Jugend sollte so sein wie der Ché, was aber nicht der Wirklichkeit entsprach. Wenn man in Kuba wirklich so gewesen wäre wie Ché, dann hätte man noch links von der Kommunistischen Partei gestanden. Man wäre sehr schnell an die Grenzen relativ starrer Strukturen gestoßen, ohne revolutionären oder politischen Raum. Eine Reihe von Umständen veränderte aber dieses Bild, und Stück für Stück nahm der Slogan eher symbolischen Charakter an.

Auf der anderen Seite wird dem Bild Chés im Volk eher zurückhaltend begegnet, liebevoll oder in Erinnerung an sein Tagebuch, ich glaube jedoch nicht, daß es einen nachhaltigen Eindruck auf politischer Ebene gibt. Aber das wäre ein anderes Thema. Dann müßte man ein Buch über das Bild von Ché in Lateinamerika schreiben.

Ich habe versucht, nicht auf die Frage zu antworten, was geschehen wäre, wenn Ché heute noch in Kuba leben würde. Das ist nicht die richtige Fragestellung. Man müßte vielmehr fragen, wie wäre Ché heute, mit 30 Jahren mehr Lebenserfahrung, Rückschlägen, Abnutzung… Wenn mir diese Frage nicht beantwortet werden kann, ist auch die erste nicht zu beantworten.

Sie haben zusammen mit zwei kubanischen Journalisten ein Buch über den Aufenthalt von Ché Guevara 1965 im Kongo geschrieben, dessen deutsche Fassung Sie heute vorgestellt haben. Welche Bedeutung haben die sieben Monate in Afrika für das Projekt von Ché? Mir ist nicht klar, ob die Episode in Afrika einem Vorspiel für Bolivien darstellt.

Die afrikanische Episode war ein Zufall. Ein Zufall, der sich aus einer gewissen Situation in Lateinamerika ergab, die es Ché nicht ermöglichte zu handeln. Und so geriet er in eine Falle, die er sich selbst gestellt hatte, die Falle der Dringlichkeit. Ché war ein Mensch, dessen Ungeduld schon fast sprichwörtlich war, jedem bekannt. Er war kein geduldiger Mensch. Hatte er einmal eine Entscheidung getroffen, mußte sie gleich umgesetzt werden. Ihm fehlte die Geduld zu sagen: Gut, Lateinamerika braucht noch ein Jahr Vorbereitungszeit, warten wir noch ein Jahr und arbeiten derzeit in Kuba. Nachdem er sich einmal aus Kuba verabschiedet hatte, schnappte die Falle zu. Er konnte nicht zurück.

Eine kleine Zwischenfrage: Nach der Zeit im Kongo war er in der Tschechoslowakei…

Ja, er war illegal dort. Er war in einem Sicherheitsquartier versteckt, eingeschlossen mit drei weiteren Personen, sein ganzes Umfeld war kubanisch. Die Tschechen wußten nicht, daß er in Prag war. Er kam außerdem gerade aus einer persönlichen physischen Krise, war sehr abgekämpft, mußte aus Afrika raus. Früher oder später hätten die Nordamerikaner, die ihn schon fieberhaft suchten, seine Anwesenheit dort bemerkt. In Tansania war er nicht mehr sicher. Man suchte einen Ort außerhalb Kubas und die Wahl fiel auf Prag. Dort lebte er wie im Untergrund.

Und wußte die tschechoslowakische Regierung Bescheid?

Meines Wissens nicht. Man müßte die Archive des tschechoslowakischen Geheimdienstes öffnen, um das zu erfahren. Er hatte auf jeden Fall keine Erlaubnis, war abgeschnitten von jeder Kommunikation. Ein Hinweis dafür ist, daß er zu einer der fünf Personen, die ihn damals begleiteten, sagte, daß er nicht wolle, daß der Geheimdienst von seiner Anwesenheit erfahre. Heute wüßten es die Tschechen, morgen die Jugoslawen und übermorgen die Amerikaner. Er war sehr mißtrauisch, und damals waren die Beziehungen zu Osteuropa sehr schlecht.

Aber hatte er denn keine internationalen Kontakte?

Er wollte das nicht! Er brauchte die Tschechoslowakei nur als Startrampe. Es hätte auch Deutschland, Spanien oder Frankreich sein können, aber er hat die Tschechoslowakei gewählt. Vielleicht auch deshalb, weil im Falle seiner Entdeckung die Folgen wahrscheinlich weniger schwerwiegend gewesen wären.

Abschließend noch einmal kurz zur aktuellen Situation in Mexiko. Worin besteht der hauptsächliche Unterschied zwischen der Guerrilla-Bewegung zu Zeiten des Ché und der heutigen, aktuellen Bewegung?

Da muß man unterscheiden. Eine der beiden Organisationen, die heute unter Waffen stehen, die EPR, ist orhtodoxer, traditioneller. Sie sehen sich selbst revolutionäre Avantgarde, während die Zapatisten diesen traditionellen Weg verlassen haben. Sie verstehen sich nicht als eine solche Avantgarde, sondern vielmehr als Teil einer nationalen Bewegung, die verschiedene Kräften, Ideen und Rhythmen umfaßt. Sie sind somit ein Teil einer sehr viel größeren Bewegung, die sowohl Parteien umfaßt, als auch die soziale Bewegung.

Haben die Zapatisten auch eine kontinentale Dimension?

Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist noch zu früh, um über den Zapatismus in allgemeinen Termini zu sprechen. Ich glaube, daß sie eine Präsenz haben, daß ihre neuen Formulierungen die Menschen aufhorchen lassen, großen Einfluß in der ganzen Welt haben. Aber es ist noch zu früh, um zu sagen, ob dieser Einfluß etwas verändert. Das Interessante am Zapatismus sind seine Eigenheiten, seine volksverbundene Basis, die gemeinschaftlichen Strukturen der indianischen Bevölkerung in Chiapas, auf die sich die Organisation gründet. Letztendlich ist der Zapatismus die bewaffnete Bewegung der indigenen Bevölkerung, die in großen Versammlungen gemeinsam entscheidet. Das ist neu in der lateinamerikanischen Geschichte.

Wie ist das Verhältnis der Zapatisten zu anderen oppositionellen Kräften in Mexiko?

Die bedeutendste Partei links vom der Regierungspartei PRI (dt.: Partei der Institutionellen Revolution) ist die PRD (dt.: Partei der Demokratischen Revolution). Sie repräsentiert auch einen anderen wichtigen Teil der sozialen Bewegung. Ich glaube, daß es ein stilles Einverständnis darüber gibt, das wir eine strategische Allianz gegen die Diktatur der PRI darstellen, eine Allianz aller aufstrebender Kräfte, die sowohl die Zapatisten als auch die PRD einschließt.

Im Land gibt es große soziale Spannungen, die sich immer mehr verschärfen, doch der Regierungsapparat gibt nicht nach, sucht keinen Ausweg, keine Alternativen. Er krallt sich fest an den traditionellen Strukturen der autoritären Macht, Wahlbetrug etc. Die linke Opposition verfügt über ein klares politisches Konzept. Man ist sich einig, daß man den gesamten politischen Apparat Mexikos zum Teufel schickt. Problematisch ist die Durchsetzung dieses Wunschdenkens. Dazu ist eine sehr breite nationale Front notwendig. Dabei geht es weniger um die Frage, wie man 200 verschiedene Gruppen unter einen Hut bringen kann, sondern einen Weg zu finden, diesen Kreis zu schließen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde von der Redaktion im Oktober 1996 geführt.

Übersetzung aus dem Span.: Daniela Trujillo/Peter Gärtner

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