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Unser armer Individualismus (Literaturauszug)

Jorge Luis Borges | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Die Illusionen der Patrioten sind grenzenlos. Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung machte sich Plutarch über die Leute lustig, die behaupteten, der Mond von Athen sei besser als der Mond von Korinth. Milton bemerkte im siebzehnten Jahrhundert, Gott pflege zuallererst sich Seinen Engländern zu offenbaren. Fichte erklärte Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Charakter zu haben und deutsch zu sein sei offensichtlich dasselbe. Hierzulande wimmelt es von Nationalisten. Bewegt sind sie, nach ihren Worten, von dem achtbaren oder unschuldigen Vorsatz, das Beste im argentinischen Wesen zu pflegen. Doch kennen sie die Argentinier nicht; in der Polemik machen sie deren Wesensbestimmung gewöhnlich von irgendeiner äußeren Tatsache abhängig: von den spanischen Conquistadoren (beispielsweise) oder von einer imaginären katholischen Überlieferung, oder vom »angelsächsischen Imperialismus«.

Im Unterschied zu den Nordamerikanern sowie nahezu allen Europäern identifiziert sich der Argentinier nicht mit dem Staat. Das mag daran liegen, daß in diesem Land die Regierungen gewöhnlich miserabel sind, oder ganz allgemein, daß der Staat eine unbegreifliche Abstraktion ist*; soviel steht fest, daß – der Argentinier ein Einzelmensch, kein Bürger ist. Ein Aphorismus wie der von Hegel: »Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee« würde ihm wie blutiger Hohn klingen. Die Filme, die in Hollywood gedreht werden, erheben immer wieder Anspruch auf unsere Bewunderung, indem sie uns einen Mann (zumeist einen Zeitungsreporter) vorführen, der die Freundschaft eines Verbrechers sucht, um ihn sodann der Polizei zu übergeben. Der Argentinier, für den die Freundschaft eine Passion und die Polizei eine maffia ist, empfindet diesen »Helden« als einen unbegreiflichen Lumpen. Er teilt mit Don Quijote das Gefühl, »daß jeder bei seinen eigenen Sünden bleiben soll«, und »daß es nicht wohlgetan ist, wenn anständige Menschen sich über andere Menschen zum Henker machen und sich in Sachen mischen, die sie nichts angehen« (Don Quijote I, XXII). Mehr als einmal hat mich angesichts der leeren Gleichförmigkeit des spanischen Stils der Argwohn beschlichen, daß wir von Spanien heillos verschieden seien; diese beiden Zeilen im Quijote haben mich hinlänglich überzeugt, daß ich im Irrtum bin; sie sind gleichsam das stille und geheime Symbol unsere Wesensverwandtschaft. Das bestätigt auf tiefsinnige Art eine Nacht in der argentinischen Literatur: jene gräßliche Nacht, in der ein Sergeant der Landpolizei in den Schrei ausbrach, er könne nicht dulden, daß man einen tapferen Kerl töte, und sich kämpfend gegen die eigenen Soldaten stellte, an die Seite des Deserteurs Martin Fierro.

Für den Europäer ist die Welt ein Kosmos, in dem jeder mit der Tätigkeit, die er versieht, innerlich übereinstimmt; für den Argentinier ist sie ein Chaos. Der Europäer und der Nordamerikaner sind der Ansicht, daß ein Buch, das irgendeinen Preis erhält, gut sein muß. Der Argentinier gibt die Möglichkeit zu, daß es nicht schlecht ist, obwohl es einen Preis erhalten hat. Im allgemeinen mißtraut der Argentinier den Umständen. Mag sein, er kennt die Sage nicht, die behauptet, daß es innerhalb der Menschheit immer sechs-unddreißig Gerechte – die sogenannten Lamed Wufniks – gibt, die einander nicht kennen, von deren stillschweigendem Vorhandensein indessen der Bestand der Welt abhängt; wenn er diese Sage hört, wird er nicht darüber verwundert sein, daß diese Hochzurühmenden unbekannt und namenlos sind. Sein volkstümlicher Held ist der einzelne Mann, der mit seiner Gruppe im Kampf steht, sei es im gegenwärtigen Augenblick (Fierro, Moreira, Hormiga Negra), sei es in der Zukunft oder in der Vergangenheit (Segundo Sombra). Andere Literaturen haben ähnliche Taten nicht zu verzeichnen. Betrachten wir beispielsweise zwei große europäische Schriftsteller: Kipling und Franz Kafka. Auf den ersten Blick haben beide nichts gemeinsam; doch ist das Thema des einen die Verteidigung der Ordnung, irgendeiner Ordnung (der Straße in Kim, der Brücke in The Bridge-Builders, der römischen Mauer in Puck of Pook’s Hill); das Thema des anderen ist die unerträgliche und tragische Einsamkeit des Menschen, der keinen, auch nicht den bescheidensten Platz in der Ordnung der Welt sein eigen nennt.

Man wird sagen, die Züge, die ich hervorgehoben habe, seien ausgesprochen negativ oder anarchisch; man wird darüber hinaus sagen, daß sie politisch unverwertbar seien. Ich wage, das Gegenteil anzudeuten. Das dringendste Problem unserer Zeit (das mit prophetischem Scharfblick bereits der nahezu vergessene Spencer namhaft gemacht hat) ist die ständig zunehmende Einmischung des Staates in den Handlungsbereich des einzelnen; im Kampf gegen dieses Übel, das auf die Namen Kommunismus und Nazismus lautet, könnte dem argentinischen – Individualismus, der bisher vielleicht nutzlos und verderblich war, Rechtfertigung und sittlicher Auftrag zuteil werden.

Ohne Hoffnung, jedoch voll Sehnsucht denke ich an die abstrakte Möglichkeit einer Partei, die den Argentiniern in gewissem Sinn gleichgeartet wäre; einer Partei, die uns (sagen wir) ein streng beschränktes Mindestmaß von Regierung in Aussicht stellen würde.

Der Nationalismus möchte uns mit dem Anblick auf einen unendlich lästig fallenden Staat betören; diese Utopie, wenn sie auf Erden Wirklichkeit würde, wäre im Besitz der providentiellen Kraft, daß alle ihre Antithese herbeisehnen und schließlich auch realisieren würden.

Erzählung aus: Jorge Luis Borges:
Befragungen (1952). entnommen aus: Borges: Ausgewählte Werke (Bd.3), Berlin, Verlag Volk und Welt, 1987.
Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hauser Verlages München, Wien.

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*Der Staat ist unpersönlich: der Argentinier hat lediglich Sinn für die persönliche Beziehung. Deshalb ist für ihn die Entwendung öffentlicher Gelder kein Verbrechen. Ich stelle eine Tatsache fest: weder verteidige noch entschuldige ich sie.

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