„Angst vor Borges“ ist der Titel eines Zeitungsartikels von Juan Antonio Rodríguez Tous, den das spanische Regionalblatt ‚El Diario Montanes‘ im August 1994 veröffentlichte. Angst bedeutet für Rodriguez Tous, daß dem Leser nach der Lektüre von Borges Erzählungen nur zwei Möglichkeiten bleiben, ihn auf ewig zu verehren oder für immer abzulehnen, denn seine Werke sind in gleichem Maße anziehend wie abstoßend und bereiten sowohl Vergnügen als auch Entsetzen, Entsetzen vor den Grenzen der Literatur.
Abstoßend erscheinen die Texte des 1986 in Genf verstorbenen argentinischen Schriftstellers, weil seine Parabeln über die Urteilskraft des Lesers oft einen beunruhigenden Effekt auslösen.
M. Villar Raso (1) betrachtet die Literatur Borges oberflächlich wesentlich geordneter und klarer als die Poes, meint aber, daß sich darunter ein teuflischer Geist fände, dessen Ziel es sei, unseren rationalen Glauben zu erschüttern. Für Villar Raso scheint Borges mit dem Leser zu spielen, so daß für ihn der Begriff ‚Spiel‘ ausschlaggebend ist, um Borges Erzählungen zu verstehen.
Wirkt die Literatur Borges tatsächlich abstoßend, und wenn ja, hängt dies mit einem eventuellen Sinnverlust seiner Stücke zusammen? Ist es nicht vielmehr eine Faszination, die von seinen Stücken ausgeht, die dem Leser vielfältige Lese- und Interpretationsmöglichkeiten anbieten? Richtig scheint zumindest, daß Borges mit dem Leser spielt, d.h., es verlangt viel Mitdenken seitens des Leser, um dem Verlauf seiner Geschichten folgen zu können.
Versuchen wir anhand einer These des Franzosen Jean Baudrillard herauszufinden, inwieweit ein Sinnverlust in der Literatur Borges offensichtlich wird. Baudrillard beschäftigt sich in seinem Werk „Simulation et simulacre“ (2) mit den Massenmedien und geht u.a. von der These aus, daß Information Sinn und Bedeutung zerstört bzw. aufhebt, und daß es ein Zusammenwirken von Information und Bedeutung gibt. Dies erklärt er am Beispiel der Hörertelefonate, die vortäuschen, viele Informationen zu geben, die jedoch im Grunde keine sind und denen die eigentliche Grundinformation fehlt; damit kommt es zu einer Übersättigung der Bedeutung, so daß diese zerstört wird. Dies bezeichnet Baudrillard als Simulation der Wirklichkeit, d.h., man bildet sich mit Hilfe eines Trugbildes eine Wirklichkeit, die eigentlich überhaupt nicht existiert. Schlüsselwort der Simulation ist dabei der Begriff „medium is message“ (3), was bedeutet, daß die Form der Nachricht wichtiger geworden ist als ihr Inhalt. Wenn also das Medium selbst die Nachricht ist, aber keine Nachricht mehr bleibt, erübrigt sich ebenfalls das Medium. Und doch bleibt eine Faszination für die Massenmedien erhalten.
Wie wird nun die Information in Borges Erzählungen zu einer Nicht-Information?
Betrachten wir zuerst die Erzählung „El inmortal“ („Der Unsterbliche“). Die Struktur des Textes erinnert an die Märchen aus 1001 Nacht (4), die mit einer Rahmenerzählung beginnen, in der der Erzähler dem Leser mitteilt, wie er zu der Geschichte der anschließenden Binnenhandlung gekommen ist. Auch in unserer Erzählung erfahren wir von einem Ich-Erzähler, der gleichzeitig Herausgeber und Übersetzer der Geschichte ist, den Grund für die Niederschrift:
„In London hat der Antiquar Joseph Cartaphilus aus Smyrna der Prinzessin von Lucinge Anfang Juni 1929 sechs Bände in kleinem Quartformat von Popes ‚Ilias‘ angeboten. Die Prinzessin erwarb diese und während er sie ihr überreichte, sprachen sie einige Worte miteinander. Wie sie uns mitteilt, war er ein magerer und blasser Mann, mit grauen Augen und grauem Bart, mit sonderbar verschwommenen Zügen. Er bewegte sich fließend in mehreren Sprachen, ohne sich dessen bewußt zu werden; in kurzer Zeit wechselte er vom Französischen ins Englische und vom Englischen zu einer rätselhaften Mischung aus Saloniki-Spanisch und Macao-Portugiesisch. Im Oktober erfuhr die Prinzessin durch einen Passagier der „Zeus“, daß Cartaphilus auf der Schiffsrückreise nach Smyrna ums Leben gekommen sei und man ihn auf der Insel los begraben habe. Im letzten Band der ‚Ilias‘ fand sie dieses Manuskript. Das Original ist in englischer Sprache, durchsetzt mit vielen Latinismen. Unsere Fassung ist wörtlich übernommen.“
Die explizite Nennung von genauen Daten, Orten, Namen und Werken erzeugt den Eindruck, als handele es sich hier um ein wirklich stattgefundenes Ereignis.
Dieser Eindruck verstärkt sich noch dadurch, daß der Erzähler in der 1. Person Plural erzählt und damit den Anschein eines objektiven Berichtes erweckt.
Der Leser erhält hier viele Informationen, die sich im Laufe der Lektüre als nicht wichtig erweisen, da sie zum Textverständnis nichts beitragen. Er folgt also interessiert der Geschichte, die Cartaphilus als den römischen Tribun Marco Flaminio Rufo ausweist, der vom Wasser eines Flusses am Rande der Welt getrunken hat und damit die Unsterblichkeit erlangte. So lernte er den ebenfalls unsterblich gewordenen Homer kennen, und hauste über Jahrhunderte als Höhlenmensch. Als er die Unsterblichkeit als Fluch zu empfinden begann, machte er sich auf die Suche nach dem Fluß, dessen Wasser ihn wieder sterblich machen konnte, und den er 1921 in Eritrea fand.
Im fünften Kapitel muß der Leser jedoch feststellen, daß alles bisher Gelesene unwirklich ist, da aus allen bisher genannten Figuren plötzlich eine einzige wird, Flaminio Rufo = Argos = Homer = Cartaphilus, in der sich alle vereinen.
Es erscheint dem Leser wie ein Labyrinth, durch das er sich hindurchfinden muß.
Am Ende des Textes löst sich die Information sozusagen vollständig auf, da alles Geschriebene ausdrücklich in Zweifel gezogen wird:
„Nach einem Jahr habe ich diese Seiten erneut durchgesehen. Ich weiß mit Sicherheit, daß sie sich an die Wahrheit halten, aber in den ersten Kapiteln, und noch in bestimmten Abschnitten der anderen, meine ich etwas Falsches festzustellen.(..). Die Geschichte, die ich erzählt habe, erscheint unwirklich, weil sich in ihr die Begebenheiten zweier verschiedener Männer miteinander vermischen.“
Schließlich erfährt der Leser noch, daß letztendlich doch nur Wörter, als eine Art Hülse ohne Bedeutung, übrigbleiben: „Je näher das Ende rückt, desto weniger Bilder der Erinnerung bleiben; es bleiben nur Wörter. Es ist nicht erstaunlich, daß die Zeit die Wörter, die mich einst repräsentierten, mit denen verwechselt, die Symbole für das Glück jenes Menschen waren, der mich so viele Jahrhunderte begleitet hat. Ich war Homer; in Kürze werde ich Niemand sein, wie Odysseus; in Kürze werde ich alle sein: ich werde tot sein.“
Es erstaunt dann auch den Leser nicht mehr, wenn der Erzähler die Falschheit des Dokumentes in einem Postskriptum zugibt, indem er einen Wissenschaftler, der das Manuskript untersucht hat, die Falschheit des Dokumentes bestätigen läßt. Damit hat sich jegliche Information und auch jede Nachricht in nichts aufgelöst und der Leser sieht sich damit konfrontiert, in all der Sinnlosigkeit doch noch einen Sinn zu finden, sich als eine Art Co-Autor zu betätigen, um das Rätsel zu lösen. Borges lesen ist vielleicht doch ein Spiel, auf das sich allerdings nur ein aktiver Leser wird einlassen können.
Eine zweite Erzählung, „El idioma analítico de John Wilkins“ („Die analytische Sprache von John Wilkins“), führt uns an die Grenzen unseres Denkens und damit an die Grenzen der Literatur. Schon Michel Foucault hat diese Erzählung als Ausgangspunkt für sein Werk „Die Ordnung der Dinge“ genommen. (6) Foucault geht davon aus, daß die Erkenntnisse der Humanwissenschaften daher rühren, daß man das Normale immer nur über das Anormale erklären und auch verstehen kann. Daher sollte die in Borges Erzählung aufgeführte Einteilung der Tiere in einer gewissen chinesischen Enzyklopädie nicht seltsam anmuten, die Tiere untergliedert in: „a) die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Ferkel, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) dieser Gruppe zugehörige, i) die sich wie Verrückte benehmen, j) unzählbare, k) mit sehr feinem Kamelhaarpinsel gezeichnete, 1) et cetera, m) die gerade den großen Krug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“
Die Grenze des Denkens liegt im logisch nicht Denkbaren, also wird durch die alphabetische Anordnung die Grenze der Vorstellungskraft überschritten und führt zur Unmöglichkeit, in dieser Richtung weiterzudenken. Borges stellt hier Elemente nebeneinander, die semantisch und räumlich in keiner Beziehung zueinander stehen. Das Nebeneinander von Tieren verschiedener Kategorien – realer oder erfundener – erscheint nur auf ein und derselben Buchseite möglich, nicht jedoch im logischen Gedankengebäude. So erschafft Borges linguistische Monstrositäten, die aus einer syntaktisch-kontextuell unvorstellbaren Beziehung resultieren, da zwischen den Kategorien eine Unvergleichbarkeit besteht.
Diese Art zu schreiben führt wiederum zu der Frage nach dem Sinn: durch die Unmöglichkeit des Vergleichens der einzelnen Kategorien werden sie jeder Bedeutung enthoben. Hier ist wieder der Leser gefragt, diese im Laufe der Lektüre wiederzuerlangen.
Borges Strategie, die Methode einer Klassifikation zu verdrehen, ruft ein beunruhigendes Gefühl hervor. Aber es scheint notwendig und wichtig, nicht nur die irritierenden Aspekte einer Borges-Lektüre zu sehen, sondern auch den Reiz, der von seinen Erzählungen ausgeht, die eine große Anzahl von Denkmöglichkeiten bieten. Borges öffnet dem Leser Wege zu einem neuen Denken, das über alle traditionellen Denkschemata hinausführt.
In der Erzählung wird der Leser nicht nur mit dieser neuartigen Klassifizierungsmethode konfrontiert, sondern muß sich im weiteren Verlauf der Geschichte mit einer Unmenge von Namen, Daten und Werken zurechtfinden.
Der Ich-Erzähler berichtet dem Leser, daß er einen Artikel über John Wilkins schreiben wollte, der sich der Aufgabe gewidmet hatte, Möglichkeiten und Prinzipien für eine Weltsprache zu entwickeln. Da er das von John Wilkins geschriebene Buch nicht finden konnte, mußte er seine Informationen aus den Werken anderer Schriftsteller entnehmen, die er explizit benennt:
„(…) um diesen Artikel schreiben zu können, habe ich The life and times of John Wilkins‘ (1910) von P.A. Wright Henderson; das ‚Woerterbuch der Philosophie‘ (1924) von Fritz Mauthner; ‚Delphos‘ (1935) von E. Sylvia Pankhurst; ‚Dangerous Thoughts‘ (1939) von Lancelot Hogben zu Rate gezogen.“
Im weiteren Verlauf des Textes erklärt er die analytische Sprache des John Wilkins, an die sich dann Beobachtungen über die Einteilung des Universums anschließen und zu einer regelrechten Reise durch die Zeichen werden, immer auf der Suche nach einer Bedeutung. So erscheint der Text als eine Materialsammlung für die Ausarbeitung eines Artikels, ihm fehlt eine Pragmatik, die eine Bedeutung festlegt und die Kommunikation ermöglicht. (7) Die Anhäufung von Zitaten verwandelt den Text in ein Labyrinth, aus dem sich der Leser wiederum nur durch aktives Mitdenken herauswinden kann, und führt zu einer Dekonstruktion des Textes in dem Sinne, daß keine Verständigungsmöglichkeit für den Leser angeboten wird. Doch liegt nicht gerade wieder darin die Faszination des Lesens bei Borges? Werden dem Leser nicht wieder neue Wege des Lesens und vor allem des Denkens eröffnet? Um es mit einem Zitat von Foucault zusammenzufassen:
„Es wäre viel gewonnen, wenn das Denken dahin käme, ganz sich selbst zu denken und wenn es das entdecken könnte, was in seinem Schatten liegt.“ (8)
Betrachtet man die Texte von Borges unter einem anderem Aspekt, so stellt sich heraus, daß unterschwellig immer wieder das Thema der Selbstfmdung und der Frage nach eigener Identität und Individualität angesprochen wird; dies findet sich auch in vielen intertextuellen Bezügen. Borges Technik der Intertextualität folgt eigenen Regeln: als Zitat oder Halbzitat, als Anspielung auf andere weltliterarische Werke, als Anspielung auf eine literarische Gattung oder als fiktive Intertextualität. In der Erzählung „El Inmortal“ wird vor allem auf Homers ‚Odyssee‘ angespielt. Durch das Reduzieren aller Figuren auf eine einzige, erreicht Borges jedoch die Auflösung der Identität des Erzählers. Auch der Wunsch nach Unsterblichkeit zeigt das Verlangen nach Individualität, doch muß der Erzähler im Laufe der Jahrhunderte enttäuscht feststellen, daß er so offensichtlich nicht zu einer Selbstfin-dung gelangen kann, und völlig desillusioniert macht er sich erneut auf die Suche nach der Sterblichkeit.
Unsterblichkeit ist ein Teufelskreis, in dem der Mensch zwar ewig lebt, aber dennoch nicht mehr Wertschätzung seiner Person erfährt und damit wird ewiges Leben sinnlos:
„Niemand ist jemand, ein einzelner unsterblicher Mensch ist alle Menschen. Wie Cornelio Agrip-pa, so bin ich Gott, bin Held, bin Philosoph, bin Teufel und bin Welt; das ist jedoch nur eine ermüdende Art zu sagen, daß ich nicht bin.“
Neben der Aufhebung der Individualität als einem Lieblingsthema von Borges, zeigt sich die ‚pantheistische‘ These von der Einheit des Geistes, d.h., er stellt damit individuelles Schöpferturn in Frage (9). Dies verdeutlicht das Mottozitat der Erzählung „El inmortal“, in dem es heißt:
„Salomon saith: There is no new thing upon the earth. So that äs Plato had an imagination, that all knowledge was but remembrance; so Salomon giveth his sentence, that all novelty is but oblivion.“ (10)
Mit anderen Worten, wenn jemand glaubt, er habe etwas Neues erfunden oder erschaffen, wie z.B. ein neues literarisches Werk, so bedeutet das nichts anderes, als daß er vergessen hat, daß alles schon einmal existierte. Wissen bedeutet demnach ebenfalls nichts anderes, als sich wieder daran zu erinnern, daß alles schon einmal existiert hat; so stellt Borges insgesamt den Sinn des Universums in Frage.
Die zweite Erzählung „El idioma analítico de John Wilkins“ variiert das Thema der ‚Schrift Gottes‘, denn die Bemühungen um die Erschaffung einer künstlichen Sprache kommen dem Wunsch nach der absoluten Sprache Gottes gleich, der diese dazu nutzte, das Universum zu kodifizieren. Dennoch stellt der Erzähler auch hier wieder das Universum in Frage:
„(…) es ist zu vermuten, daß es gar kein Universum im geordneten, vereinenden Sinne dieses ehrgeizigen Wortes gibt. Und wenn doch, ist seine Absicht nicht zu erkennen; sind die Wörter, Definitionen, Etymologien, Synonyme des geheimen Wörterbuch Gottes nicht zu erkennen.“
Indem der Erzähler hinzufugt:
„Die Unmöglichkeit, in das göttliche Schema des Universums einzudringen, kann uns trotzdem nicht davon abhalten, menschliche Schemata zu planen, obwohl wir wissen, daß diese nur provisorisch sind. Die analytische Sprache John Wilkins‘ ist nicht das schlechteste Schema.“, gibt er zu verstehen, daß es sehr wohl wichtig ist, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten, sieht man sich auch einem offensichtlich sinnlosen Universum gegenüber, von dem der Erzähler überzeugt scheint.
So ist Borges Literatur von Zweifeln und Vermutungen geprägt, die Ausdruck einer Leidenschaft jemandes sind, den sein Schicksal als Mensch bis ins Innerste bewegt und der sich im Universum verloren glaubt. Seine Spiele mit der Zeit, mit dem Individuum und mit dem Kosmos verbergen eine verzweifelte Angst. (11)
Viele Kritiker sind der Meinung, daß Borges mit seiner Art zu schreiben an die Grenzen der Literatur und des Denkens gestoßen ist, aber ist es nicht eigentlich die Angst davor, gewohnte Wege zu verlassen und an die Grenzen der eigenen Existenz zu stoßen? Warum also sollte es seltsam anmuten, die Welt als Chaos darzustellen, und zwar als ein Zeichenchaos, in dem der Leser mit Signifikanten regelrecht bombardiert wird und mit ihm zu spielen, ihn zu zwingen außerhalb seiner gewohnten Bahnen weiterzudenken?
Borges hat einmal gesagt: „Die Zeit ist ein Fluß, der mich mit sich reißt, aber ich bin der Fluß; sie ist ein Tiger, der mich zerreißt, aber ich bin der Tiger. Die Welt ist leider wirklich; ich bin leider Borges.“
Vielleicht wundert uns dann nicht mehr, daß Borges Zuflucht in einer irrealen Welt sucht, die es ihm ermöglicht, eine nicht existierende Wirklichkeit zu simulieren, und zwar dergestalt, daß sich plötzlich ein Buch in ein Labyrinth verwandeln kann, dessen Ziel darin besteht, zum Zentrum des Labyrinths vorzudringen, mit anderen Worten, zum Zentrum des eigenen Ich, der menschlichen Existenz. Doch auch hier verbindet sich der Gedankengang wieder mit einem pessimistischen Bild, denn Borges sieht das Finden der eigenen Mitte nur im Tode erreicht, so wie er es in seinem Gedicht „Elogio de la sombra“ („Lob des Schattens“) ausgedrückt hat:
„Dies waren Echos und Schritte,
Frauen, Männer, Todeskämpfe,
Auferstehungen,
Tage und Nächte,
Halbschlaf und Träume,
jeder -winzige Moment des Gestern
und aller Gestern der Welt, das feste Schwert des Dänen und der Mond des
Persers,
die Taten der Toten,
die geteilte Liebe, die Wörter,
Emerson und der Schnee und viele Dinge mehr.
Jetzt kann ich sie vergessen. Ich gelange zu
meinem Zentrum, zu meiner Algebra und meinem Schlüssel,
zu meinem Spiegel. Bald werde ich wissen, wer ich bin.“
Wenn es auch schwierig ist, die Erzählungen Borges ohne weiteres zu verstehen, so ist es doch immer wieder eine Herausforderung zu versuchen, seinen Gedankengängen zu folgen, ob es letztendlich gelingt, ist eine andere Frage. Schließen wir den Artikel mit einem Zitat des oben schon erwähnten J. A. Rodríguez Tous, der ebenso wie wir von Borges Texten fasziniert ist und das Verstehen auf seine Art löste:
„Acht Jahre sind noch gar nichts für den Bewohner des Grabes auf dem Friedhof Saint-Georges, mitten in Genf. Dort wartet Borges, daß sich die Suchenden auf die Holzbank setzen, die zu seinen Füßen steht, und versuchen, mit ihm zu reden. Ich habe es versucht. Und wie es mit der Vision des Aleph geschehen ist, so kann auch ich nicht über das Ergebnis sprechen. Ich kann nur alle einladen, sich auf jene Bank zu setzen und zu warten. Solange zu warten wie nötig.“
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* geb. 29. März 1962 in Birkenfeld, Studium der Übersetzungswissenschaft z.Z. Studentin an der Philologischen Fakultät in Leipzig -Hispanistik und Germanistik-
ANMERKUNGEN
(1) M. Villar Raso: Historia de la Literatura Hispanoamericana. Madrid 1987, S. 35.
(2) Jean Baudrillard: Simulacres et Simulation. Paris 1982.
(3) In: Baudrillard.
(4) A. de Toro: El productor rizomórfico y el lector como ‚detective literario‘: la aventura de los signos o la postmodernidad del discurso borgesiano (intertextualidad-palimpsesto deconstrucción-rizoma), en: Karl Alfred Blüher/Alfonso de Toro (eds.): Jorge Luis Borges: Procedimientos literarios y bases epistemológicas. Frankfurt/Main 1992, S. 145-183.
(5) A. de Toro: Borges y la ‚Simulación rizomática dirigida: percepción y objetvación de los signos‘, en: Iberoamericana.
(6) Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/Main 1978.
(7) A. de Toro: (Universität Leipzig). Die Wirklichkeit als Reise durch die Zeichen bei Cervantes und Borges. Leipzig, November 1993.
(8) 3sat: Sendung vom 21.09.1994. Ein Bericht über Michel Foucault: ‚Die Wahrheit der Lüste‘.
(9) Ilse Nolting-Hauff: Die Irrfahrten Homers. Abenteuer der Intertextualität in ‚El inmortal‘ von Jorge Luis Borges, in: L.Nolting-Hauff/Joachim Schulze (Hrsg.): Das fremde Wort. Studien zur Interdependenz von Texten. Festschrift für Karl Maurer zum 60. Geburtstag. Amsterdam 1988.
(10) Jorge Luis Borges: El Aleph (Alianza Emecé). Buenos Aires.
(11) Anke Kockelkorn: Quellenkritische Untersuchungen zum Prosawerk von Jorge Luis Borges. München 1964.