Als ich Fernando Birri im November ’95 im Hotel Deutschland treffe, zwischen Frühstück und Kintopp – als Juror der Leipziger Dokfilm-Woche – kommt mir sofort ein Gedanke: Wieder einer von diesen lateinamerikanischen revolutionären Utopisten mit langem weißen Haar und Bart und gütigen Augen – so einer wie Ernesto Cardenal oder Paulo Freire. Dieselbe Generation ist er. 1925 im argentinischen Santa Fé geboren, beschäftigt er sich früh mit Poesie: schreibt Gedichte, gründet ein wanderndes Marionettentheater und einen Filmclub. Keine jugendliche Unentschlossenheit, sondern Lebensweisheit:
„…Wenn ich von Poesie spreche, meine ich nicht nur Poesie in Versen, ich spreche von kreativer Energie; für mich bedeutet Poesie die Energie eines jeden von uns.“
Der Film reizt ihn besonders und nach erfolgloser Suche nach Lehrern in seiner Heimat geht Birri 1950 nach Italien, ins Land des Neorealismus. Mit Diplom zurück in Argentinien gründet er selbst ein Filminstitut, das „Instituto de Cinematografía de la Universidad del Litoral“, wo er zusammen mit 80 Studenten einen Film dreht, der später als die „Geburtsurkunde des Neuen Lateinamerikanischen Kinos“ bezeichnet wird und ihn zur „Vaterfigur“ desselben macht: „Tire die“ (1956/58) – „Gib ’nen Groschen“ – ist wohl der erste sozialkritische Film des Kontinents. Zwei Jahre lang haben die Filmemacher in einem Armenviertel Santa Fes recherchiert und den Film nicht nur über sondern auch mit den Bewohnern des Slums produziert: Nach Diskussionen mit den Porträtierten blieben von der ursprünglich einstündigen Laufzeit nur 35 Minuten übrig, mit denen die Bewohner zufrieden waren.
Sein erster großer Spielfilm greift das Thema wieder auf, doch diesmal in der Tradition des Schelmenromans: In „Los Inundados“ („Die Überfluteten“) nach einer Literaturvorlage seines Landsmanns Mateo Booz, läßt er eine vom Hochwasser vertriebene Familie mit ihrem Obdach -einem Eisenbahnwaggon – quer durch Argentinien reisen, um dann doch wieder in ihrem alten Viertel zu landen. Hier wird Armut nicht lächerlich gemacht, wie ihm Kritiker vorwarfen, aus ihrer lethargischen Betrachtung wird eine realistisch-utopische Geschichte (Birri bleibt auf dem Boden des Möglichen.), die das Lachen verbittert und den Tränen ein Lächeln abzwingt. Die Haltung, die hinter solchen Themen und ihrer Umsetzung steht, bringt Birri im selben Jahr in seinem Manifest „Por un cine nacional, realista, crítico y popular“ zum Ausdruck. Darin regt er u.a. die Orientierung auf eigene Themen an und verurteilt die in Südamerika übliche koloniali-sierte Filmwirtschaft im Hollywoodstil. Aber auf die Frage, wieso er denn nun 1994 einen von SAT l gestifteten Preis (Förderpreis für Dokumentarfilm aus Osteuropa, ging an „Schnitte eines anderen Krieges“ von Vitaij Manski aus Rußland) vergebe, wo dieser Sender doch niemals solche Filme zeigen würde, gibt er mir eine Lektion in positiv kritischem Realismus:
„Jetzt stell‘ Dir vor, wenn mich plötzlich der Papst aus Rom anruft und mir die Möglichkeit für einen Preis irgendeines Festivals gibt, warum sollte ich nein sagen? Und wenn er mich zuerst anruft, um mit mir zu sprechen und mir sagt, daß er mir alle Freiheiten geben wird, und ich dann über den Gewinnerfllm entscheide, und der Papst sagt: ,Nein, dieser Film nicht, wegen diesem und jenem und welchem etc.‘, dann paßt mir das ausgezeichnet, weil ich dann öffentlich den Papst bloßstelle und ihm sage: ,Sie sind nicht der Papst. Sie sind ein Lügner. Zum Teufel mit Ihnen!‘ Ich weiß nicht, ob ich mich deutlich ausdrücke. Das heißt, die Politik muß man immer extrem vorurteilslos handhaben … und gleichzeitig mit viel Aufmerksamkeit, mit viel Vorsicht. (…) Wenn ich davon spreche, was ich eine poetisch-politische Konzeption der Kunst nenne; …was ich darunter verstehe, ist, daß man sich innerlich selbst revolutionieren muß, ständig, täglich, um die Wirklichkeit revolutionieren zu können. Und dabei – in dieser intellektuellen Turnübung – darf man keine Vorurteile haben, man darf nicht vor-urteilen. Man darf nicht mit einer konservativen Haltung herangehen, die letztendlich – klar – reaktionär wird. Also, die revolutionäre Haltung ist genau das Gegenteil. Eine revolutionäre Haltung erneuert, erschafft, analysiert die Wirklichkeit ständig kritisch und versucht, eine Antwort zu geben. Welches ist die Frage, die ich immer im Hinterkopf behalten muß? Eine Sache ist die Ethik, die hinter einer Poesie steht, dahinter, davor, an ihrer Seite, gemeinsam, ich weiß nicht… und die habe ich. Eine andere Sache ist der Moralismus, der Puritanismus, die gegen die Ethik verbündet sind, denn es sind die Fälschungen der Ethik. So wie die Ideologisierung die Fälschung der Idee ist, so wie der Formalismus das Gegenteil der Form ist, so ist auch der Moralismus das Gegenteil der Moral. Und mißtraue immer den Moralisten, denn sie sind meist die amoralischsten dieser Welt, eben weil sie unerbittlich sind, eben weil sie dogmatisch sind, eben weil sie sich definitiv weigern, das Leben in seinen Wahrheiten zu sehen, in seinen tiefsten Spiegelungen, in seinen tiefsten Gefühlen… „
Das Angehen gegen den Dogmatismus ist wohl eine seiner Triebfedern. Zwei Jahrzehnte nach dem ersten Manifest verfaßt er ein zweites: „Por un eine, cösmico, delirante y lumpen“. (Eine Übersetzung ist wohl weder nötig noch möglich.) Mit dem experimentellen Erzählfilm „ORG“ berührt er die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit, er nimmt damit in Kauf, daß das Werk nach 11 jähriger Arbeit kaum aufgeführt wird. „ORG“ ist ein „Nicht-Film“, wie er sagt, die „Kritik eines militanten linken (und obendrein lateinamerikanischen und von Natur aus optimistischen und revolutionären) Künstlers an den traditionellen (dogmatischen, sadomasochistischen und züchtigen) linken Ideologien.“ Und an der Filmsprache der Hollywood-Stereotype, die er zu den konservativsten Ideengefügen dieser Welt zählt. Er weigert sich, sich den etablierten Ordnungen anzupassen, in denen Weltanschauungen verwaltet und verbreitet werden. Sein Ziel ist es, „Mikro-Utopien“ zu erfinden und zu verwirklichen. Einen großen Teil seines Lebens steckt er in eine solche Utopie, die sich seit 1986 realisiert.
Inzwischen hat er das Exil in Italien verbracht, gelehrt, Drehbücher und Gedichte geschrieben, als Schauspieler gearbeitet. Immer wieder widmet er sich vor allem der Ausbildung junger Filmemacher. 1986 gipfelt dies in der Gründung der Internationalen Film- und Fernsehschule, der „Schule der drei Welten“ („Escuela de los tres mundos“), die vor allem junge Filmemacher aus Afrika, Asien und Lateinamerika fördert. Der Name der Schule ist das bewußte Gegenstück zum Begriff der „Dritten Welt“:
„Die ,Dritte Welt‘, was soll das sein? Es soll heißen, eine Welt, die aufgeteilt ist nach hierarchischen Kategorien, das sind Kategorien der Autorität, Kategorien der Herrschaft, Kategorien der Übermacht, des Neoliberalismus, Liberalismus – wie Du willst. Also: dies ist eine Welt, schizophren eingeteilt in ,Erste‘, ,Zweite‘ und ,Dritte Welt‘ und ausgerechnet die,Erste Welt‘ nennt die anderen Welten ,zweite, dritte, vierte, fünfte…‘, was Du willst. Das ist unwürdig, ein Mangel an Ethik, Mangel an Gefühl zudem. Beeindruckend, aber sehr verräterisch.“
Ihr Konzept ist „antischolastisch“, überwunden werden soll auch der Widerspruch zwischen dem unabhängigen, politisch-experimentellen Film und dem traditionellen, handwerklich perfekten Konsumfilm. „Eine Seh- und Hörfabrik, ein Seh-und Hörlabor, ein Vergnügungspark für Auge und Ohr“ soll sie sein. Vorsitzender der Trägerstiftung „Neues Lateinamerikanisches Kino“ ist Gabriel García Márquez, Sitz ist San Antonio de los Baños, Kuba. „Die Schule arbeitet wirtschaftlich und organisatorisch völlig unabhängig vom Staat Kuba“, gilt es hier immer vorsorglich zu betonen, aber Kuba ist wohl eines der wenigen Länder, in denen ein solches Projekt überhaupt durchführbar ist. Auch deshalb reagiert Birri wohl gereizt, als ich ihn, zugegeben provokativ, auf das Thema Kuba anspreche:
„Eben weil ich an die kubanische Revolution glaube, genauso wie an die nikaraguanische Revolution und die mexikanische Revolution, als die einzigen Alternativen, als wegweisendes Projekt für Lateinamerika, eben weil ich daran glaube, glaube ich kritisch und verschließe nicht die Augen vor all den Dingen, die man korrigieren muß, die verbessert werden müssen. Die kubanische Revolution ist eine Revolution gemacht von Menschen, sie ist nicht von Gott gemacht; obwohl Gott wohl auch seinen Anteil gehabt haben wird, weil, wenn Gott alles erfunden hat, so hat er auch den Marxismus miterfunden innerhalb seiner globalen Konzeption des Universums, aber das ist ein anderes Thema: wenn Gott alles geschaffen hat, dann muß er auch den Marxismus erschaffen haben, denn der Marxismus ist auch eine … sagen wir… politische und lebendige Haltung. Also, was ich sagen will, ist, daß die kubanische Revolution tatsächlich eine Revolution ist, die von Menschen gemacht ist, und wenn mich irgend etwas in den Jahren in Kuba beeinflußt hat, ist es das: eine ideal-abstrakte Revolution, wie sie im Kopf entstanden ist, in eine real-konkrete zu verwandeln, mit allem was sie an Ungereimtheiten und zu Verbesserndem in sich birgt. Nun, die Frage ist doch folgende: Welches ist die Alternative für Lateinamerika? Jetzt, wo der berühmte ,Realsozialismus‘ in Osteuropa in die Brüche gegangen ist, ist deshalb die Utopie einer kommunitären Gesellschaft gescheitert?. Und ist das Modell wirklich der Wolf? Der Wolf ist der Mensch; und die kapitalistische Gesellschaft, in der wir schon seit einigen tausend Jahren leben und in Lateinamerika seit 500 Jahren, hat ihre Unfähigkeit bewiesen, die dringendsten, die lebenswichtigsten Probleme zu lösen; die Probleme des Bauches, nicht zu reden von den Problemen des Geistes. Das soll die Lösung sein, eine, die in Lateinamerika schon seit 500 Jahren versucht wird und gescheitert ist? Und deshalb glaube ich, daß das einzige Projekt für Lateinamerika, natürlich für die Welt, nicht nur für Lateinamerika, aber wir sprechen ja hier von Lateinamerika, ja, mit allem, was es zu korrigieren gibt, in einer Gemeinschaft liegt, laß mich so sagen, in einer Gemeinschaft von Männern und Frauen, die tatsächlich arbeiten, um ein Leben zu leben, weil das Leben ist…“
Die Filmschule ist vielleicht ein Mikromodell einer solchen Gemeinschaft. Obwohl es schwierig ist, im täglichen Kampf die Utopie nicht aus den Augen zu verlieren. Birri sieht die Geschichte als eine Aufeinanderfolge von Utopien, vorangetrieben von revolutionären Träumern wie Spartakus, Morus, Marx und Einstein.
„Wenn du einen Teil der Utopie verwirklichst, wenn du ein kleines utopisches Ferment konkretisierst und es wahr machst, wenn Du einen Meter in Richtung der Utopie gehst, verschieben sich die Utopie und der Horizont Nun kannst Du mich fragen: Und wozu dient dann die Utopie? Und ich sage Dir: Sie dient genau dem: dem Vorwärtsgehen. Sie bewegt mich, hält mich in dieser Welt, in den Dingen, im Leben.“
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Filmographie
La verdadera historia de la primera fundación de Buenos Aires
(Die wahrhaftige Geschichte der ersten Gründung von Buenos Aires)
Argentinien, 1959, 35 Min., 35mm
Tire dié
(Gib ’nen Groschen)
Argentinien, 1960, 33 Min, 35 mm
Los inundados
(Die Überfluteten)
Argentinien, 1961, 87 Min, 35 mm
La pampa gringa
(Der Boden der Gringos)
Argentinien, 1963, 11 Min., 16mm
Rafael Alberti, un retrato del poeta por Fernando Birri
(Ein Porträt)
Italien, 1983,120 Min., 16 mm
Rte: Nicaragua – Carta al mundo
(Absender: Nikaragua – Offener Brief an die Welt)
Nikaragua, 1984, 15 Min, 16 mm
Mi hijo el Che
(Mein Sohn Che)
Argentinien/Spanien/Cuba, 1985, 90 Min, 16mm
Un señor muy viejo con unas alas enormes
(Ein sehr alter Herr mit riesengroßen Flügeln)
Cuba/Italien/Spanien, 1988, 90 Min., 35 mm/16 mm
ORG
Italien, 1967-1978, 120 Min, 35 mm