Im Dezember 2001 tauchte Argentinien aufgrund einer seiner größten Krisen in den Schlagzeilen der Weltpresse auf. Obwohl diese als eine Krise des Systems bezeichnet wurde, war sie eine logische, schlüssige Ergänzung zu dem seit Jahrzehnten praktizierten wirtschaftlichen Modell. Aufgrund der Strategie der Importsubstitution, der zunehmenden Auslandsverschuldung und der Kosten einer Landeswährung, die an den US Dollar gebunden war, wurde Argentinien während der neunziger Jahren von den internationalen Kreditinstituten mit dem Titel des Musterschülers ausgezeichnet.
In dieser Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung auf die Straße ging, um endlich gegen das ganze politische Modell zu protestieren, entstanden verschiedene alternative Lösungen als Antworten auf die Untätigkeit und Misswirtschaft der Politiker. Eine dieser Reaktionen war das Phänomen der instand besetzten Betriebe : Arbeiter entschlossen sich, gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze Widerstand zu leisten und die Produktion wieder in Gang zu bringen.
In dem Buch „Sin Patrón – Herrenlos“, das 2007 in Argentinien erschien und vom Kollektiv Lavaca herausgegeben wurde, werden Geschichten von zehn Betrieben erzählt, die von den Arbeitern in Argentiniens besetzt und wieder in Gang gesetzt wurden. Und diese Geschichten sind so vielfältig wie unglaublich: Arbeiter, die ihren Betrieb nicht besetzten, aber in dem leeren Betrieb blieben, weil sie auf die Rückkehr der Eigentümer warteten. Unternehmer, die ihre eigenen Betriebe sabotierten, weil sie das Grundstück räumen lassen wollten, um es neu vermieten zu können, ohne die Schulden bezahlen zu müssen. Arbeiter, die die Betriebe bewachten, nicht aus Angst vor Dieben, sondern vor ihrem Boss. Richter, die Gesetzte ignorierten. Polizisten, die vor den Werktoren postiert wurden, um die Arbeiter am Arbeiten zu hindern. Nachbarn, die den Arbeitern eines besetzten Betriebes erlaubten, ein Loch in die Brandschutzmauer zu schlagen, um die Produkte abtransportieren zu können. Arbeiter, die ihre Arbeitsplätze räumen, jedoch die Schulden der Bosse übernehmen sollten. Arbeitnehmergewerkschaften, die sich auf die Seite der Unternehmer schlugen. Unternehmer, die mit den Lohngeldern flohen, und nachdem die Beschäftigten die Betriebe aus den Trümmern gerettet hatten, zurückkamen und die Rückgabe ihres Besitzes verlangten. Maschinen die aus dem Inventar von Fabriken plötzlich verschwanden. Riesige Unternehmen, die sich vor der Gläubigerversammlung auf wunderbare Weise in kleine lächerliche Räume verwandelten. Arbeiter, die feststellten, dass es in Argentinien einfach zu gefährlich ist, arbeiten zu wollen und Arbeiter, die stolz darauf waren, Schulden, die sie selbst nicht gemacht hatten, bezahlen zu können.
Man kann nachvollziehen, warum es manchmal so schwer ist, Argentinien zu verstehen. Doch wenn man diese Geschichten aus der Sicht der Protagonisten liest, wird klar, dass es hier um viel mehr geht als zunächst angenommen. Es stellt sich die Frage: Kann die Besetzung eines Betriebes auf die Verteidigung der Arbeitsplätze reduziert werden? Die Schilderungen zeigen das Ausmaß an Unmenschlichkeit, das die kapitalistische Produktionsweise erreicht hat. Oder anders gesagt: Wenn man liest, was die Arbeiter wiedergewinnen, wenn die Besetzung ihres Betriebes gelingt, dann erkennt man, was ihnen vorher genommen wurde. Das reduziert sich nicht nur auf den Mehrwert. Es handelt sich hier um Menschlichkeit, Angst, Identität, Abhängigkeit, Selbst- und Kollektivvertrauen sowie Menschenwürde, und sogar die Grenzen der Wirklichkeit.
Ähnlich wie in vielen anderen Ländern wurde in Argentinien bewusst die Deindustrialisierung vorangetrieben. Das förderte einerseits die Abhängigkeit von ausländischen Kreditgebern und schaffte andererseits ein Gesellschaftsmodell, dessen Bürger nicht mehr in der Lage sind, selbst Lösungen für ihre Probleme zu finden. Das trifft die Arbeiter besonders, die im Schatten dieser Entwicklungen leben, immer in der Angst, arbeitslos zu werden. Doch die Arbeit gehört zur Identität der Arbeiter: nicht nur weil sie ihren Lebensunterhalt sichert, sondern auch, weil sie ein Teil von ihnen ist. Außerdem liegt der bedingungslose Kampf der Arbeiter für die Arbeitsplätze und die Ablehnung der von der Regierung angebotenen sogenannten Arbeitspläne darin begründet, dass Arbeitsplätze einen aktiven Schritt zur Unabhängigkeit ermöglichen können. Die Arbeitspläne der Regierung dagegen sehen lediglich Beschäftigung vor, ohne jegliche rechtliche Absicherung. Damit schaffen sie nur eine stärkere Abhängigkeit und verurteilen zu Passivität. Diese Gesellschaft ist dadurch charakterisiert, dass die Menschen den Kontakt zur ihrer Realität verlieren. Alles läuft an ihnen vorbei.
„Sin Patron“ macht deutlich, dass die aktive alternative Rolle, die die Arbeiter bei der Besetzung ihrer Betriebe einnehmen, den Versuch aufhalten kann, ihre Identitäten aufzulösen. Diese Geschichten von pleite gegangenen Betrieben erzählen auch davon, wie die Beschäftigten nach jahrzehntelanger Abhängigkeit, ihre Fähigkeit erobern, selbst Teil der Entscheidungsfindung zu sein. Die neue Situation, die sich nach der Abwesenheit der Chef eröffnete, erlaubte es den Arbeitern, sich selbst als Menschen wiederzuerkennen. Obwohl diese Situation zunächst scheinbar nur das Individuum betraf, das seinen Job verloren hatte, führte die Suche nach einer Lösung zur Bildung des Kollektivs und zu einer Widerspiegelung des Individuums in diesem. Die Beschäftigten stellten fest, dass sie ihr eigener Herr sein können, ohne selbst Herr über andere zu sein: Die Arbeiter wussten, dass es eine riesige Herausforderung war, einen Betrieb selbst zu verwalten, doch ihre größte Angst war es, wie die Bosse zu werden.
Wenn eine Arbeiterkooperative einen Betrieb übernimmt, geht es nicht um die bloße Ersetzung der Vorbesitzer und die Reproduktion von deren Logik, Hierarchie und Mechanismen, sondern um den Versuch, das Ausbeutungssystem zu verändern und die Ungerechtigkeiten auszugleichen. Die Vollversammlung erscheint als eine Alternative zum Boss: Gewinnverteilung statt Gehältern und Löhnen; Selbstorganisation und kollektive Deliberation statt Delegation und Gehorsam; Einkommensgleichheit statt Arbeitgeberkosten.
Während die Industrie immer wieder versucht, ohne Arbeiter zu produzieren, kann man in „Sin Patrón – Herrenlos“ Geschichten lesen, die davon erzählen, dass statt der Mitarbeiter der Chef entbehrlich ist. Und es wird bewiesen, dass die Menschen nicht schicksalhaft von den Maschinen ersetzt werden. Der Konflikt zwischen Menschen und Technologie ist kleiner als der Konflikt zwischen den Menschen. Wo es allein darum geht, Geld zu verdienen, werden Menschen entbehrlich.
Außerdem entdecken und zeigen die Arbeiter, dass das Gegenteil von Arbeit nicht die Arbeitslosigkeit ist, sondern die Notwendigkeit für die Arbeiter, unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten zu müssen – aufgrund der Angst vorm Verlust ihrer Jobs. Denn die Angst ist das erste Problem, das überwunden werden muss, um Selbst- und Kollektivvertrauen zu entwickeln. Das erlaubt es ihnen, die Dinge anders zu betrachten, und ermöglicht die Entdeckung gemeinsamer Herausforderungen und Feinde.
Das Buch erscheint als eine Gelegenheit, solche Erfahrungen und Gedanken verbreiten zu können. Es zeigt, dass gehandelt werden kann, statt das immer wieder proklamierte Ende der Geschichte passiv zu akzeptieren. Die im Buch versammelten Geschichten und Aussagen beweisen, dass die Lehre der besetzten Betriebe sich nicht auf die Rettung der Arbeitsplätze beschränkt: Es geht nicht nur um die Rettung der eigenen Stelle, sondern auch um Solidarität, die auf einen Umstrukturierungsprozess der Gesellschaft zielt. Obwohl die Erfahrung der instand besetzten Betriebe nicht als weltweites Modell betrachtet werden sollte, machen die Erfahrungen in Argentinien deutlich, dass es Alternativen zu dem vermeintlichen Ende der Geschichte gibt, wenn die Menschen sich dafür entscheiden, ungerechte Situationen selbst zu verändern.
Lavaca (Hg.)
Sin Patrón. Herrenlos
AG Spak Bücher
Neu-Ulm, 2015
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Bildquellen: [1] Buchcover, [2] Pepe Robles_