Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Geiger, Margot: Umkämpftes Territorium

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Rezension_Geiger_Umkämpftes Territorium_DeckblattIn «Umkämpftes Territorium. Markt, Staat und soziale Bewegungen in Argentinien» wird nicht nur ein empfindlicher Bereich – die argentinischen Politik – beleuchtet, sondern auch ein besonderer Zeitraum in der Geschichte Argentiniens, dessen Wurzeln 70 Jahren zurückreichen. Ziel des Buches der Politikwissenschaftlerin Margot Geiger ist nämlich die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der neoliberalen Umstrukturierung des Staats und den Organisations- und Protestformen der sozialen Bewegungen der Armen am Beispiel von der ersten Amtszeit Néstor Kirchners (2003-2007).

Die Amtsübernahme durch Kirchner erfolgte als Ausweg aus der Krise von 2001, die eine unvermeidliche Folge des seit Jahrzehnten praktizierten wirtschaftlichen Modells war. Während der 1990-er Jahre wurde Argentinien infolge einer Umstrukturierung des Staats, die als Ergänzung der während der letzten Diktatur implementierten wirtschaftlichen Maßnahmen galt, als „Musterschüler“ von den internationalen Geldgeberorganisationen gelobt. Die politisch-wirtschaftliche Krise führte Ende 2001 zu sozialen Konflikten und massiven Demonstrationen im Lande. Obwohl die Proteste eher als vielfältig gekennzeichnet werden sollten, war die Ablehnung der politischen Klasse eine deutliche Gemeinsamkeit der Protestierenden. Protestrufe wie «Que se vayan todos!» (Alle sollen abhauen!) waren deutliche Proteste gegen die Politiker aufgrund ihrer anti-populären Maßnahmen und zahlreichen Korruptionsfälle. Die Ablehnung der repräsentativ-demokratischen Institutionen war ein erster Schritt, um die begrenzte Demokratie erweitern zu können. Damals ging die Mehrheit der Bevölkerung auf die Straße, nicht nur um zu protestieren, sondern auch um eine kollektive Lösung der alltäglichen Probleme zu finden. In diesem Zusammenhang entstanden neuartige Organisationsformen und Institutionen, so u.a. die Nachbarschaftsversammlungen (die in der Regel auf Plätzen in den Stadtteilen stattfanden), Arbeitslosenorganisationen (Instandbesetzung von stillgelegten Betrieben) und Trödelmärkte, auf denen den Austausch von Waren ohne Geld erfolgte.

In diesem von der Ablehnung der politischen Klasse gekennzeichneten soziopolitischen Kontext trat Nestor Kirchner mit seiner neuen Partei «Frente para la Victoria» (Front für den Sieg) an. Mit knappen 22,3 % Stimmenanteil versuchte die Regierung Kirchners einerseits eine schnelle Stabilisierung der gesamten Situation zu erreichen sowie andererseits die Staatsmacht zu legitimieren. Dafür schloss er strategische Allianzen mit Politikern verschiedener politischer Parteien, Menschenrechts- und Sozialbewegungen, progressive und Linksintellektuellen, darunter auch Politiker, die für die diskreditierte Politik der 1990er Jahre verantwortlich waren. Laut Margot Geiger führten diese Widersprüche zu einer „doppelten-Rhetorik“, die verschiedene Elemente aus der Tradition des Peronismus vereinte. Ein Schlüssel dieses Modells sei die Polarisierung der politischen Arena. Zum einen diente die rhetorische Gegenüberstellung u.a. von Volk und Oligarchie, Demokratie und Diktatur, Lateinamerika und USA als Einbindung in das System, denn sie erleichterte die Integration der progressiven öffentlichen Meinung. In diesem Zusammenhang wird daher jede Kritik als destabilisierendes Element dargestellt. Zum anderen richtete sich die Polarisierung auf die Verhinderung kritischer Haltungen gegenüber diesem Modell, was auch zur Demobilisierung sozialer Bewegungen diente, die sich unabhängig von der politischen Klasse entwickelten konnten.

«Umkämpftes Territorium» zeigt die Widersprüche zwischen Wort und Taten in der ersten Amtszeit Kirchners sowie die unsichtbare Seite des politischen Umgangs auf: Es handelt sich dabei um die Strategie des «Abtretens» (ändern damit sich nicht ändert). In diesem Kontext sollten bestimmte politische Zugeständnisse (u.a. die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe, Menschenrechtspolitik) aus einer kritischen Perspektive betrachtet werden. Bezüglich der politischen Legitimierung geht es um die Frage nach der politischen Instrumentalisierung der sozialen Errungenschaften. Anders gesagt, wer profitiert von wem?

Obwohl die «Territorien» im Buch teilweise als Metapher der politischen Arena dargestellt werden, werden sie jedoch auch in einer sehr konkreten Dimension dargestellt. Das Territorium betrifft den Raum, in dem die Bevölkerung (das Volk) lebt und daher den Raum in der die Politik ausgeübt wird. Im Gegensatz zu der argentinischen Idee, die Vergangenheit sei eine Belastung, die den Fortschritt behindert, ermöglicht die im Territorium anwesende Gegenständlichkeit der Individuen den Zugang zu einem kollektiven Gedächtnis. Wie die Autorin schreibt, spielt die Landschaft – sowohl die Ruinen der Vergangenheit (gespenstische Ortschaften oder Friedhöfe für Industriebetriebe) als auch die Landschaften der Armut der sogenannten «Villas Miseria» (Elendsviertel) – eine besondere Rolle bei der Entstehung sozialer Bewegungen und der Herausbildung neuer Formen des Widerstands. Außerdem werden «Territorien» als Räume von den Protestierenden ausgewählt, als Räumen des Protests (Straßensperrungen die die „Normalität“ der Verkehr abbricht, inoffizielle Signalisierung bestimmter Gebäude die öffentlich gebrandmarkt werden) ebenso wie als Räume, in denen der Untätigkeit und Misswirtschaft der Politiker und Unternehmer begegnet wird (u.a. Instandbesetzung von Betriebe).

Da in einer Demokratie die Bevölkerung die Volksvertreter wählt, habe das Volk eine wichtige Funktion bei der Legitimierung der politischen Klasse: Die „Vertreter“ bedürfen der „Vertretenen“, um zu «sein». Aufbauend auf einem angemessenen theoretischen Rahmen sowie auf Primär- und Sekundärquellen beschreibt Margot Geiger zahlreiche Widersprüche der Politik bei den Kämpfen um die Kontrolle des Alltagslebens des Volkes und sie wirft ein klares Licht auf die Spielregeln der argentinischen Politik. Diese Regeln beschränken sich nicht auf die von der Forschung beispielhaft beleuchtete erste Amtszeit Kirchners. Sie sind ein Teil der politischen Agenda und werden von den größten politischen Parteien nicht aufgedeckt, denn diese streben ihrerseits an die Regierung und glauben, diese Regeln selbst zu brauchen.

Obwohl die Sozialpolitik zur Problemlösung und Bedarfsdeckung dienen sollte, schafft sie tendenziell eher weitere Bedürfnisse. Das heißt, dass die Probleme von den potenziellen Lösungsgebern in der Regel erzeugt bzw. erhalten werden. Nicht zufälligerweise wird der Begriff «Volk» in der Tradition Argentiniens mit den «Bedürfnissen« assoziiert. Dieses Volk ist die Gruppe, von der die politische Klasse abhängt und die – paradoxerweise – gleichzeitig mehr Bedürfnisse hat. In diesem permanenten Spannungsverhältnis zwischen dem Staat und den «Bedürfnissen», stehen Letztere mit dem Rücken zur Wand, denn sie müssen sich entweder für die Sicherung der Mindestbedingungen durch die Akzeptanz des offiziellen Angebots «entscheiden», oder aber den schwersten, riskantesten Weg der Schaffung von alternativen Existenzmitteln, die den Teufelskreis durchbrechen könnten, nehmen.

Allerdings liegt klar auf der Hand, dass es in der offiziellen politischen Agenda nicht um den Kampf gegen die Armut geht. Denn beim Kampf um das Territorium handelt es sich eher um eine Einschränkung der Möglichkeiten in der Gegenwart, was logischerweise auch ein Mittel für die Kontrolle der Zukunft ist. Dieses ständige Unsicherheitsgefühl, das von der Autorin anschaulich «Logik der Notlage» genannt wird, spielt eine besondere Rolle bei der Förderung eines für das politische System notwendigen Subjekts. Wie bereits erwähnt, muss sich dieses Subjekt mit der Sicherung des Alltagslebens beschäftigen und in der Furcht leben, alles zu verlieren. In dieser besonderen «Logik» geht es denn auch um die Erhaltung der «Notsituation» als politische Methode dafür, die erforderliche Legitimierung zu bekommen.

Argentinien_Kirchner_Foto Soledad Biasatti-Quetzal Redaktion (2)

Das Buch weist nach, dass dieses Modell nicht trotz, sondern eher auf der Basis des «Scheiterns» entwickelt wurde. Was von der politischen Klasse als Ausnahme dargestellt wird, muss jedoch als Grundlage und Konstante des politischen Systems bezeichnet werden. In diesem auf der «Prekarisierung» beruhenden Modell diene die soziale Ausgrenzung als Form der Herrschaft. Anders gesagt, ist die Exklusion paradoxerweise eine neoliberale Form der «totalen» Inklusion: Der neoliberale Staat ist inklusiv, jedoch nicht egalitär. Aufgrund der besonderen Rolle, die die «Bedürfnisse» innerhalb des politischen Raumes spielen, werden sie minuziös „erschaffen“ bzw. in ihrer prekären Lage erhalten. Geiger belegt, dass es in Argentinien, unabhängig von der rhetorischen Haltung der politischen Klasse gegenüber der Armut, keinen Kampf gegen die Armut, sondern eher einen gegen eine Selbstständigkeit der Armen als «Bedürfnisse» gibt. Denn die «Bedürfnisse» sind eines der wichtigster Mittel der Machtausübung. Was ist also das wirkliche Ziel der Politik?

Durch die Analyse verschiedener sozialer Bewegungen, wird in «Umkämpftes Territorium» nicht nur die Verfügbarkeit von öffentlichen Finanzmitteln mit Hilfe des Aufbaues von Gefolgschafts- und Klientelnetzwerken aufgezeigt, sondern auch die politisch-juristische Vorgehensweise bei der Verhinderung von alternativen Vergesellschaftungsformen. In diesem politischen Kampf um das Territorium geht es um die Kontrolle der Mehrheit der Bevölkerung, die in einem neoliberalen System aus den «Bedürfnissen» besteht. Damit klärt weitgehend die Frage nach der in Argentinien steigenden Zahl an «Bedürfnissen». Während der ehemalige Präsident Menem die größten neoliberalen Reformen in den 90s Jahren einleitete, betonte er stets in seinen zahlreichen Reden, dass er die «Armen» im Herzen trage. Was damals nicht gesagt wurde war, dass die neoliberale Umstrukturierung des Landes nicht ohne eine große Zahl von «Bedürfnissen» funktionieren würde. Trotz der politischen Veränderungen, die während der Regierung Kirchner stattfanden, belegt die Autorin jedoch die Fortsetzung des neoliberalen Projekts der 1990er Jahre.

Obwohl die Schlussfolgerungen der Autorin nicht neu sind, so liefert sie doch eine Fülle von Informationen, die die Widersprüche der Politik als logische Schlussfolgerung des politischen Spiels erscheinen lassen. In einem politischen Prozess voller Widersprüchlichkeiten ist die klare Darstellung Margot Geigers eine doch nicht zu unterschätzende Leistung. Außerdem behandelt sie am Beispiel der ersten Amtszeit Kirchners Knotenpunkte der Politik, die in der soziopolitischen Geschichte Argentiniens wurzeln: Was ist denn Peronismus? Ist der Peronismus überhaupt klassifizierbar? Warum ist Argentinien, ein an natürlichen Ressourcen reiches Land mit einer relativ niedrigen Bevölkerungsrate, ein unentwickeltes Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt?

Für einen Argentinier bzw. Argentinierin bedeutet die Auseinandersetzung mit der Politik Argentiniens eine große emotionale Anstrengung, denn es mischen sich dabei nicht nur soziale Beziehungen, sondern vor allem Elemente der eigenen Identität. Die gegenwärtige Politik anzugreifen, kann in Argentinien – nicht zuletzt aufgrund der erwähnten starken Polarisierung der Politik – sogar im engen Freundes und Familienkreis zur sofortigen Aufkündigung der Freundschaft oder zum Abbruch familiären Beziehungen führen. Schließlich ist davon auszugehen, dass die Veröffentlichung eines solches Buches seit Jahren in Argentinien nicht leicht sein dürfte. Zum einen hätte man Kirchner politische Logik nur schwer demontieren können, ohne auf die politische Gegenseite vertrieben zu werden? Zum anderen ist die Äußerung von Kritik an der Kirchner-Ära aufgrund der gegenwärtigen politischen Bedingungen nicht leichter geworden. Das Ende der Kirchner-Ära als Regierung und der Amtsantritt des aktuellen Präsidenten Mauricio Macri werden in der Rhetorik der jetzt in der Opposition agierenden Partei der Kirchner nicht in Verbindung mit ihren eigenen – im Buch erwähnten – Widersprüchen, sondern eher als Reaktion der Oligarchie auf die Verwirklichung eines Volksprojekts dargestellt.

 

Margot Geiger:

Umkämpftes Territorium.

Markt, Staat und soziale Bewegungen in Argentinien

Verlag Westfälisches Dampfboot. Münster: 2010

——————————————-

Bildquellen:  [1] Buchcover; [2] Quetzal-Redaktion, Soledad Biasatti

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert