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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Von links nach rechts – und zurück? Erklärungsversuche zur Rechtswende in Lateinamerika

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 16 Minuten

Rezension_Eser-Witthaus_Bild_CoverScanDer vorliegende Sammelband vereint zwölf Beiträge, die sich aus unterschiedlicher Perspektive mit der Rechtswende in Lateinamerika beschäftigen und in ihrer Mehrheit im Rahmen einer Ringvorlesung im Sommersemester an der Universität Kassel entstanden sind. Die Einleitung, die von den beiden Herausgebern verfasst wurde, gibt zunächst einen kurzen Überblick über den Verlauf und die Ursachen des Pendelausschlags nach rechts, der die politische Entwicklung Lateinamerikas in den letzten Jahren geprägt hat. Die Brisanz dieses Themas resultiert vor allem aus der Umkehr jener Linkswende, die die Region seit der Jahrhundertwende erfasst hatte. Die Herausgeber stellen in der Einleitung mehrere Ansätze vor, mit denen die Rechtswende in Lateinamerika zu erklären versucht wird. Nach Meinung zahlreicher Beobachter sind das Ende der Mitte-Links-Regierungen in Argentinien (2015), Brasilien (2016), Bolivien (2019) und Uruguay (2020), der Rechtsschwenk unter Präsident Lenín Moreno (seit 2017 im Amt) sowie die tiefe Krise in Venezuela (seit 2015) vor allem auf das Scheitern des Neoextraktivismus zurückzuführen. Dieses auf Ressourcenabbau und Rohstoffexport basierende Wirtschaftsmodell, das durch einen 2003 einsetzenden Preisanstieg auf den Rohstoffmärkten befeuert wurde, hat sich inzwischen als jene Falle erwiesen, vor der seine Kritiker schon seit Jahren gewarnt hatten. Als dem Boom ab 2013 ein rapider Preisverfall folgte, wurde damit auch das ökonomische Fundament der linken Projekte brüchig. Korruptionsskandale, Entfremdung von der sozialen Basis und autoritäre Tendenzen taten ein Übriges, um der Rückkehr der rechten Opposition an die Regierung den Boden zu bereiten.

Eine zweite Argumentation rückt den Trump-Effekt und den Rechtspopulismus im globalen Norden in den Mittelpunkt und ordnet die Rechtswende in Lateinamerika in diesen Kontext ein. Noch einen Schritt weiter gehen jene, die in „Krise des Politischen“ eine Folge des nunmehr gescheiterten Neoliberalismus sehen. Als Kontinent mit der größten sozialen Ungleichheit ist Lateinamerika von dieser Krise besonders hart betroffen. Abschottende Identitätspolitiken, Antifeminismus und die zunehmende Konfrontation zwischen den Großmächten ergänzen das Bild der Krise als Sprungbrett für den Aufstieg der radikalisierten Rechten.

Die einzelnen Beiträge nehmen auf diese Erklärungsversuche in unterschiedlicher Weise Bezug. Nach der Einleitung (S. 7-19) skizziert Gerd Weigel aus europäischer Perspektive in Form von Fragen mögliche Vergleichspunkte zu Lateinamerika (S. 20-31). In den drei Beiträgen aus der Feder von Susanne Klengel (68-88) sowie der beiden Herausgeber (S. 110-174), die sich mit den Werken eines chilenischen Literaten (Roberto Bolaño) bzw. von mehreren argentinischen Autoren beschäftigen, werden Bezüge zur Rechtswende hergestellt, die eher indirekter Natur sind. Katharina Schembs (89-109) beleuchtet den Peronismus und die argentinische Rechte aus historischer Sicht. Einzelne Länderfälle werden von Stephan Peters (Venezuela, S. 175-200), Stephan Ruderer (Chile, S. 201-224), Hannes Warnecke-Berger (Zentralamerika, S. 225-245), Alejandro Grimson (Argentinien, S. 246-267) und Jessé Souza (Brasilien, S. 289-296) analysiert. Zwei Autoren, Dieter Boris (S. 32-67) und Hans-Jürgen Burchardt (S. 268-288), suchen aus vergleichender Perspektive nach Erklärungen für die lateinamerikanische Rechtswende.

Zeitschichten und Fallbeispiele

Aufgrund der Breite des Analyserahmens und der Tiefe der Auslotung der Rechtswende, die den Beitrag von Dieter Boris auszeichnen, liegt es nahe, diesen an den Anfang der Rezension zu stellen. Er vermittelt nicht nur ein profundes Gesamtbild – ergänzt durch Länderbeispiele (Bolivien, S. 41-47; Chile S. 47-54; Brasilien 54-59; Ecuador 59-63), sondern setzt auch im methodischen Herangehen und den theoretischen wie politischen Schlussfolgerungen Maßstäbe. Die Unterscheidung verschiedener Zeitdimensionen – langfristige Strukturen, mittelfristige Tendenzen und kurzfristige Ereignisse (S. 34-41) – macht es ihm möglich, die Komplexität des Faktorenmixes zur Erklärung der derzeitigen Rechtswende differenziert und zugleich einleuchtend darzustellen. Als entscheidenden langfristigen Faktor stellt er die Bedeutung der politischen Kultur heraus (S. 34-35).

Zu den kurzfristigen Ereignissen (S. 40/41), die ebenfalls nur knapp benannt werden, zählt Dieter Boris einschlägige Maßnahmen der Regierung wie Skandale, Wahlen, juristische Entscheidungen und Preiserhöhungen. Diese „führen in bestimmten Fällen zu einer geballten Empörung oder Wutäußerung, die sich vor dem Hintergrund kumulativer Tendenzen mittelfristiger Natur zu dauerhaften Massenprotesten – mit unbekanntem Ausgang – steigern können.“ (S. 41) Aus solchen Konstellationen ergäbe sich eine „Pendelbewegung zwischen rechts und links (und umgekehrt)“, womit er auf ein Muster verweist, das in den neueren Geschichte Lateinamerikas – so auch beim Wechsel zwischen DikMacri_Bild_Quetzal Redaktion_solebtatur und Demokratisierung – immer wieder zu erkennen ist.

Größeren Raum nimmt die Darstellung der mittelfristigen Tendenzen ein (S. 35-40). Hierzu zählen: erstens die Tendenz zu einer größeren sozioökonomischen Ungleichheit, zweitens die relative Verselbständigung der herrschenden Parteien infolge von Bürokratisierung, Korruption und Klientelismus, drittens die Rückkehr des Militärs in die Politik, viertens das rasche Wachstum evangelikaler Gruppierungen und fünftens sozialstrukturelle Veränderungen während der letzten beiden Jahrzehnte.

Gestützt auf seine Fallbeispiele und mit Verweis auf andere Staaten des Subkontinents stellt Dieter Boris das Grundmuster der zugespitzten Konflikte heraus, das darin besteht, dass „eine kleine ökonomische und politische Herrschaftsgruppe ihre immer krassere und abgehobenere Dominanzposition“ gegen „eine wesentlich breitere subordinierte und in sich heterogene Masse“ verteidigt, wobei zwei unterschiedliche Szenarien möglich sind: Zum einen wachsender Druck von unten gegen eine seit langem bestehende neoliberale Dominanz (Chile, Kolumbien) bzw. gegen den Politikwechsel in diese Richtung (Ecuador), wobei auch die Abwahl der rechten, neoliberal orientierten Regierungen von Mauricio Macri in Argentinien (2019) und von Enrique Peña Nieto in Mexiko (2018) in diesen Trend einzuordnen sind; zum anderen jene bereits erwähnten Fälle einer Rechtswende, in denen die oben erwähnte mächtige Herrschaftsgruppe nach der partiellen Verdrängung von den obersten (politischen) Schalthebeln Revanche übt und „zur uneingeschränkten Machtstellung … auf die politische Bühne zurückkehren möchte“, „indem sie eine Schwächephase der Linksregierung ausnutzt“ (alle Zitate von den Seiten 63 und 64).

Die Frage der Verantwortung

Im zweiten Beitrag, der sich aus vergleichender Perspektive mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre befasst, legt Hans-Jürgen Burchardt den Schwerpunkt auf die progressiven Regierungen und fragt nach deren Verantwortung für die Rechtswende. Er begründet seine Herangehensweise damit, dass mit deren Scheitern die Jahrhundertchance vertan wurde, in Lateinamerika einen neuen Entwicklungspfad zu beschreiten. Statt die Region im Zuge der Linkswende vom Weltmarkt und von Rohstoffen unabhängiger zu machen, bewirke der ihnen folgende Rechtsruck, dass die Bewältigung der beiden größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Ungleichheit und Umweltkrise – weiter hinausgeschoben werde.

Nach einem Überblick, in dem Lateinamerikas Aufbruch ins neue Jahrtausend und die Erfolge der Linksregierungen überzeugend beschrieben werden (S. 270-276), schildert Burchardt, wie es nach dieser „Fiesta“ zu deren Absturz kommen konnte (S. 276-284). Infolge der Ausweitung und Intensivierung des Neo-Extraktivismus, der „zu einer klaren Reprimarisierung der Wirtschafts- und Exportstrukturen“ führte (S. 277), mutierten die lateinamerikanischen Gesellschaften „zu Beutegemeinschaften, in denen der Staat zwar erstmals (fast) allen Anteile an der Ausplünderung der Natur gewährte, der neue Zusammenhalt aber nicht auf Konsens und sozialer Kohäsion beruhte.“ Die Kontrolle über die Rentenzuflüsse, die durch „Abschöpfung und Verteilung von Ressourceneinnahmen aus der Extraktion und dem Export von Rohstoffen“ generiert wurden, begünstigte „im exorbitanten Umfang Nepotismus, Korruption und Klientelismus“ (S. 279). In vier Punkten identifiziert Burchardt die Versäumnisse und das Versagen des Linksregierungen, die damit die jüngere Krise und die Rechtswende begründet hätten (S. 279-282):

  • Erstens wurden während der Boomphase keine tiefgreifenden Umverteilungsmaßnahmen umgesetzt. Solche hätten die Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen vorausgesetzt. Im Ausbleiben der dafür nötigen Maßnahmen sieht er die „Achillesverse“ der regionalen Steuersysteme. Deshalb war Lateinamerika auch nach knapp zwei Dekaden der Linksregierungen weiterhin die am stärksten von sozialer Einkommensungleichheit geprägte Region der Welt (CEPAL 2019, S. 35-76).
  • Zweitens wurden zwar die sozialen Leistungen verbessert, „nicht aber ihr Deckungsgrad. Vor allem öffentliche Bedienstete und formal Beschäftigte, also nur rund die Hälfte der Erwerbsfähigen, profitierten hiervon; das ärmste Fünftel der Region erhält bis heute nur knappe zehn Prozent aller Sozialtransfers“ (S. 280).
  • Drittens ist es auch den Linksregierungen nicht gelungen, die informelle Beschäftigung signifikant zu senken. „Die Arbeitsmärkte und Produktionsstrukturen sind in Lateinamerika weiter stark zerklüftet, sodass heute fast die Hälfte der Erwerbsfähigen – konkret 120 Millionen meist junge Menschen und oft Frauen – in prekären Arbeitsbeziehungen tätig ist und relativ niedrige Einkommen erzielt“ (ebenda).
  • Viertens verweist Burchardt auf die ambivalente Rolle des Staats. Dieser fungiere einerseits erneut als zentraler Entwicklungsagent, während andererseits autoritäre Tendenzen zu beobachten seien. In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass „die deutliche Zunahme sozialökologischer Konflikte in den meist agrarisch und oft indigen geprägten Extraktionsgebieten … vom Staat nicht selten repressiv beantwortet (wurde)“ (Svampa 2019, S. 69-76). Die Linksregierungen hätten dennoch „die zentralen Regeln demokratischen Regierens – bei den wichtigen Ausnahmen Venezuela und Nicaragua – weitgehend eingehalten“ (S. 282-283).

Punktuelles Ausloten der Tiefenstrukturen

Die übrigen Beiträge lassen sich bestimmten Argumenten der beiden vergleichenden Analysen zuordnen, die damit ergänzt und vertieft werden. Im Beitrag von Stephan Peters über „Die Bolivarische Revolution in Venezuela“ steht die Kritik des Neoextrativimus und seiner Folgen im Mittelpunkt. „Die zentrale Achillesferse der Bolivarischen Revolution bestand zweifellos in der fortwährenden extremen Erdölabhängigkeit und mithin dem wiederholten Scheitern der wirtschaftlichen Diversifizierungsstrategie“ (S. 186). Alejandro Grimson wendet sich der „Frage nach den Mittelschichten“ zu (S. 250-252) und untersucht damit eine der Tendenzen genauer, die von Dieter Boris als mittelfristiger Faktor zur Erklärung der Rechtswende benannt wird. Nachdem Grimson die Unterschiede zwischen den traditionellen (S. 252-254) und den neu entstandenen Mittelschichten (S. 254-257) deutlich gemacht hat, kommt er zu folgendem Schluss:

Meine These lautet, dass die Politik, die ihren Ursprung im Unverständnis jener neu entstehenden Mittelschichten hatte, zumindest in Teilen zu einem entscheidenden Faktor dafür wurde, dass diese neuen Mittelschichten ins rechte Lager überwechselten. In manchen Fallen äußerte sich dies an der Wahlurne, in anderen auf vielschichtige andere Art und Weise. Die postneoliberalen Regierungen schufen neue Mittelschichten, verstanden diese aber nicht“ (S. 256). Darum sei die Politik der linken Regierungen nicht auf Dauer hegemoniefähig – im Sinne der Definition von Antonio Gramsci – gewesen (S. 248).

Bezogen auf die Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens (2019), der mit seiner Weltsicht und Politik als Ebenbild von Donald Trump auftritt, prangert Jessé Souza besonders den „Rassismus der Elite und der weißen Mittelschichten“ an. Dieser „verkleidet sich als ‚moralische Überlegenheit‘ und richtet sich gegen die Armen und Schwarzen, die vermeintlich von der Korruption profitieren“ (S. 292). An anderer Stelle (S. 290) entlarvt er den „Doppelstandard“ im Kampf gegen die Korruption, der sich einseitig gegen die linken Regierungen richtet: „In den brasilianischen Oberschichten wird der Rassismus durch den falschen Moralismus des Kampfes gegen die Korruption geführt, was zu einer Kriminalisierung der ‚Volkssouveränität‘ führt, weil er nur gegen die ›progressiven Regierungschefs‹ (lideres populares) angewandt wird.“ Mit dem Rassismus kommt zugleich eine der Tiefenstrukturen zur Sprache, auf die Dieter Boris zwar verweist, in seinem Beitrag aber lediglich auf die politische Kultur beschränkt.

Im Beitrag von Hannes Warnecke-Berger, in dem der Zusammenhang Gewalt in Zentralamerika und Rechtswende in Lateinamerika diskutiert wird, spielt eine andere Tiefenstruktur eine zentrale Rolle: „Gewaltorganisationen wie Todesschwadronen oder mordende Polizisten, wie sie heute (wieder) im Fokus stehen, besitzen in Zentralamerika eine ‚Tiefenstruktur‘. Sie sind mit Staatlichkeit und ganz generell mit Prozessen sozialer Kontrolle verbunden. Ursachen ‚rechter‘ Gewalt sind in diesen Tiefenstrukturen zu suchen und nicht in den oberflächlichen Erscheinungen der politischen Transformation von einer Präsidentschaft zur nächsten“ (S. 228).

Stephan Ruderer, der sich in seinem Beitrag mit den Protesten in Chile seit Ende 2019 beschäftigt, rückt jene Faktoren in den Mittelpunkt, die die Kontinuität des neoliberalen Wirtschaftssystems von der Diktatur Pinochets (1973-1990) bis heute abgesichert haben. Dass dies möglich war, obwohl „Chile in den knapp dreißig Jahren seit der Rückkehr zur Demokratie im März 1990 vierundzwanzig Jahre lang von ‚linken‘ Parteien regiert wurde“ (S. 214), erscheint zunächst als Paradoxon. Des Rätsels Lösung besteht darin, dass „rechte Politik (auch – P.G.) im linken Gewand“ betrieben wurde. Auch hier stellt sich die Frage, wie tief das Erbe der Diktatur reicht.

Die USA – ein weißer Fleck?

Es fällt auf, dass trotz der enormen – und teilweisen verwirrenden – Vielfalt der in den Beiträgen behandelten Themen wichtige Faktoren, die für eine plausible Erklärung der Rechtswende von zentraler Bedeutung sind, ausgeblendet werden oder unterbelichtet bleiben. Dies soll abschließend am Beispiel der USA verdeutlicht werden. Es bleibt unverständlich, warum deren Rolle im Sammelband so gut wie nicht beleuchtet wird. Zwar macht Jessé Souza überzeugend deutlich, wie eng die Rechtswende in Brasilien und insonderheit der Bolsonarismus mit den USA verbunden sind, was sowohl für Tiefenstrukturen wie Rassismus und Sklaverei als auch für aktuelle Ereignisse wie die Präsidentschaft von Donald Trump gilt (besonders S. 294-296). Bei Warnecke-Berger wird die Rolle der USA in Zentralamerika zwischen 1954 (Guatemala) bis 1990 (Guerilla und Regionalkonflikt) kurz erwähnt (S. 234-235). In den übrigen Beiträgen spielen die USA jedoch keine Rolle. Geradezu frappierend ist, dass selbst im Beitrag von Stephan Peters zu Venezuela die Politik Washingtons kaum Erwähnung findet.

Lediglich Dieter Boris begründet die Abwesenheit der USA bei der Erklärung der Rechtswende in Lateinamerika mit folgenden Worten: „Auch die notorischen Hinweise auf die Eingriffsmacht äußerer Kräfte und Interessenten (vor allem der USA, aber auch anderer Länder) in die inneren Konfliktlagen der jeweiligen Länder Lateinamerikas sowie die einheimischen herrschenden Klassen, die natürlich stets – nach gewissem Einflussverlust durch das Aufkommen der Linksregierungen – bereit sind, verlorengegangenes Terrain auf allen möglichen Wegen wieder zurückzugewinnen, können als entscheidende oder ausschließliche Erklärungsfaktoren für Umstürze, grundlegende Veränderungen oder gar die beständigen Pendelausschläge zwischen ‚rechts‘ und ‚links‘ während der letzten 60 Jahre in Lateinamerika nicht wirklich überzeugen. Denn diese beiden Faktoren waren gewiss auch in der Aufstiegsphase und Regierungszeit der Linksregierungen präsent, ohne eine ausschlaggebende Rolle gespielt zu haben“ (S. 34).

Wenn Boris von den letzten 60 Jahren spricht, dann ist damit der Zeitraum zwischen 1960 und 2020 gemeint. Während dieser Zeit hat das Eingreifen der USA mehrfach eine entscheidende Rolle bei Umstürzen etc. gespielt. Hier nur einige Beispiele: Putsch in Brasilien 1964, Intervention in der Dominikanischen Republik 1965, massive Einmischung in Chile 1970-1973, Intervention in Grenada 1983, Intervention in Panama 1989, Putsch in Honduras 2009, Drohung mit Intervention und Verhängung von Sanktionen gegen Venezuela vor allem nach dem Tod Honduras_Bild_Quetzal-Redaktion_solebvon Hugo Chávez 2013. Besonders gravierend war die Rolle der USA als Hauptakteur und Koordinator im Zentralamerika-Konflikt 1979-1990.

Man könnte nun argumentieren, dass es den USA trotz aller Anstrengungen immer noch nicht gelungen ist, einen Regimewechsel in Venezuela zu erzwingen. Oder dass es in Chile die Militärs waren, die die Regierung von Allende weggeputscht haben. Dem ist entgegenzuhalten, dass alle Versuche, einen Umsturz herbeizuführen, ungeachtet ihres Ausgangs immer das Ergebnis der Interaktionen verschiedener Akteure sind, die zusammen ein Kräfteparallelogramm bilden, wobei jeder Vektor eine bestimmte Rolle spielt, die es genau zu bestimmen und zu analysieren gilt. Sobald man nur einen dieser Vektoren vernachlässigt oder gar von vornherein ausschließt, entsteht ein falsches Bild. Oder man kann im Falle Venezuelas die Perspektive auch umdrehen und fragen, warum es den Gegnern der Bolivarischen Revolution trotz des für sie sehr hilfreichen Umstands, das sich Venezuela „in der schwersten Krise seiner Geschichte“ (S. 175) befindet, bislang nicht gelungen ist, den von ihnen angestrebten Umsturz herbeizuführen. Dies liegt mit Sicherheit nicht daran, dass die USA sich nicht genug angestrengt oder gar den Dingen ihren Lauf gelassen hätten. Im Gegenteil: Von Anfang an haben sie sukzessive alle Varianten der Einmischung unterhalb der Schwelle der direkten militärischen Intervention versucht, um zuerst Hugo Chávez und dann dessen Nachfolger Nicolás Maduro zu stürzen.

Abschließend mag der Hinweis genügen, dass Lateinamerika – zusammen mit dem Indo-Pazifik – hinsichtlich des strategischen Stellenwerts (Strategic Interest Intensity) unter allen Weltregionen für die USA die höchste Priorität besitzt. Die anderen Regionen sind entweder zweit- (Europa, Naher Osten, Arktis) oder drittrangig (Afrika). Mit anderen Wort: Bei Lateinamerika (und dem Indo-Pazifik) handelt es sich um eine Region, die für die USA so wichtig ist, dass sie dafür im Ernstfall mit den rivalisierenden Großmächten China und USA einen direkten militärischen Konflikt riskieren würden (Lynch 2020, S. 64). Offene Fragen

Auch beim Putsch 2009 in Honduras gegen Präsident Manuel Zelaya haben die USA insofern eine maßgebliche Rolle gespielt, als dass sie mit ihrer frühzeitigen Anerkennung der unrechtmäßigen Defacto-Regierung und der weitgehenden Isolierung Zelayas dafür gesorgt haben, dass der breiten Welle des Volkswiderstandes gegen die Putschisten kein Erfolg vergönnt war. In diesem Zusammenhang verdient der Hinweis von Hannes Warnecke-Berger Beachtung, dass der Beginn der Rechtswende in Lateinamerika durch den Putsch in Honduras 2009 eingeläutet worden ist ( S. 238). Ein Beitrag über diesen ersten Fall der Rechtswende wäre vor allem deshalb angebracht gewesen, weil hier ein neuer Typus des Umsturzes erfolgreich getestet wurde, der von Hans-Jürgen Burchardt als „kalter Putsch“ (S. 284) charakterisiert wird. Diese neue Variante wurde später auch in Paraguay 2012, Brasilien 2016 und Bolivien 2019 angewendet und perfektioniert.

Obwohl Dieter Boris die Rückkehr der Militärs in die Politik als gewichtige mittelfristige Tendenz benennt, findet sich – mit Ausnahme von Jessé Souzas Beitrag – im Sammelband wenig zu deren Rolle bei der Rechtswende in Lateinamerika. Ähnliches gilt für die Rolle der Medien, wobei auch hier Jessé Souza die Ausnahme bildet. Generell wäre es sinnvoll gewesen, den Aktionen und der Analyse der Gegner der Linksregierungen mehr Raum zu geben. Wenn Boris (S. 63) von einer „kleine(n) ökonomische(n) und politische(n) Herrschaftsgruppe“ spricht, die „ihre immer krassere und abgehobenere Dominanzposition gegen eine wesentlich breitere subordinierte und in sich heterogene Masse“ verteidigt, dann stellt sich zudem die Frage, warum in diesem Falle nicht die Kategorie der „Oligarchie“ verwendet wird. Besonders spannend wäre es dann, diese Herrschaftsgruppe mit der Staatsklasse in Venezuela (siehe Peters, S. 188) zu vergleichen.

Ungeachtet der hier vorgetragenen Kritiken und Fragen vermittelt der Sammelband über die Rechtswende in Lateinamerika wichtige Einsichten in einen sehr aktuellen und politisch äußerst brisanten politischen Umbruchprozess, die mit einer Fülle empirischen Materials untersetzt sind. Es ist zu wünschen, dass die damit eröffnete Diskussion ihre Fortsetzung findet und deren Fokus dabei erweitert wird. So verdienstvoll die prominente Stellung ist, die die Herausgeber und Autoren des Sammelbandes der politischen Kultur bei der Analyse der Rechtswende einräumen – sie allein genügt nicht, um von den laufenden Veränderungen in Lateinamerika ein Gesamtbild zu bekommen.

 

Patrick Eser / Jan-Henrik Witthaus (Hrsg.)

Rechtswende in Lateinamerika. Politische Pendelbewegungen, sozio-ökonomische Umbrüche und kulturelle Imaginarien in Geschichte und Gegenwart

Mandelbaum Verlag, Wien/ Berlin: 2020

 

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Literatur:

CEPAL: Anuario Estadístico de América Latina y el Caribe 2018. Santiago de Chile 2019

Lynch III, Thomas F. (ed.): Strategic Assessment 2020. Into a New Era of Great Power Competition. National Defense University. Washington D.C. 2020, S. 64

Svampa, Maristella: Las fronteras del neoextractivismo en América Latina: Conflictos socioambientales, giro ecoterritorial y nuevas dependencias. Bielefeld 2019

 

Bildquellen: [1] CoverScan; [2-3] Quetzal-Redaktion_soleb

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