… mit anderen Worten: Zucker.
Was wäre mein Leben ohne ihn? Zum Frühstück Cornflakes (Zuckergehalt: 43%), Hauptgericht (allein das Tomatenketchup zu den fettigen Pommes: 50% Zucker… nach dem Dessert zu fragen, getraut man sich schon gar nicht mehr) und natürlich die abendliche Tafel Schokolade vor dem Fernseher. Ganz zu schweigen von meiner Leidenschaft für Tees – heiliges Gebot: keine Tasse unter vier Teelöffeln Zucker! Nun ja, und seitdem meine Freunde darum wissen, dass ich mir selbst in Bananensäfte noch einen Löffel einzurühren pflege, brauche ich um meinen Ruf als „Zuckerfetischist“ nicht mehr zu furchten. „Des Honigs Süße verdrießet, so man zuviel genießet“ [1] war meine Devise jedenfalls noch nie.
Warum ich die Leserschaft mit meinen Eßgewohnheiten langweile? Die Antwort will ich nicht schuldig bleiben: Im Frühjahr diesen Jahres (1998) pilgerte ich – zusammen mit einigen Verwaltungswissenschaftlern, deren vernehmliches Ziel es war, die brasilianische Administration zu erkunden – zum Mekka eines jeden à-D-Glucopyranosyl-(1- >2)-á-D-fructofuranosid-Liebhabers: Dem Zuckerhut in Rio de Janeiro. Vermutlich werde ich es mein Lebtag bereuen, mein Exemplar eines eigens aus Deutschland eingeführten Kölner Zuckerhutes am Tage der Besteigung jenes heiligen Berges im Hotel vergessen zu haben… Es wäre vermutlich ein unvergessliches Photo geworden. Sei’s drum – dafür hat man mir in jenen Tagen zeigen können, aus welchen Gründen die für die Erderschaffung zuständigen Instanzen den Zuckerhut ausgerechnet nach Brasilien gestellt haben: Die Menschen da unten sind ja fast alle so verrückt wie ich – fast möchte man von Seelenverwandtschaft sprechen!
Zucker ist in Brasilien fast allgegenwärtig -vor allem Getränke jeder Art werden mit ihm in beliebiger Menge angereichert. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll es sogar Brasilianer geben, die sich selbst ihre Cola noch mit ein wenig (mehr) Zucker versüßen. Zuckerfelder – so zum Beispiel auf der Strecke zwischen Rio de Janeiro und São Paolo – gehören ebenso zu den Alltäglichkeiten brasilianischen Lebens wie die unvermeidliche „Alcool“-Zapfsäule an der Tankstelle: ein großer Teil aller Automobile, die auf Brasiliens Straßen verkehren, nutzen ein Saccharose-Destillat, sprich Zuckerrohrschnaps, als Treibstoff. Das Land ist durch den Zucker geprägt worden – leider jedoch nicht in einem durchweg positiven Sinne.
Das Schicksal Brasiliens als Rohstofflieferant für die Alte und Neue Welt ist bereits in zahlreichen Publikationen beschrieben worden. Die Probleme, die dies mit sich brachte, gelten – insbesondere – auch für den Zuckeranbau. Vor allem im agrarisch geprägten Nordosten Brasiliens zeigen sich in aller Deutlichkeit die Folgen der Monokulturen: Wertvolle Böden wurden und werden durch den Zuckeranbau dauerhaft geschädigt, das Grundwasser wird mit hochgiftigen Tensiden durch den extremen Einsatz von Dünger und Spritzmitteln belastet; all dies bringt für die Bevölkerung ein erhebliches Gesundheitsrisiko mit sich. Gar nicht zu reden von den ökonomischen Spätfolgen, die der monostrukturelle Aufbau der Wirtschaft ganzer Regionen hatte. Die Abhängigkeit von Zucker als einem der wichtigsten Exportgüter, vor allem aber die Probleme der Landarbeiter – abhängig von Großgrundbesitzern und in einem Teufelskreis von Armut und Nicht-Bildung gefangen – sind bis heute leider ein brasilianisches Problem geblieben.
Versuche der Regierung in Brasilia, aus der Not eine Tugend zu machen, sind bisher gescheitert. Insbesondere gilt dies für das ambitionierte „Alcool“-Projekt Anfang der 80er Jahre. Dem Versuch, Brasilien durch das Substitut Zuckerrohrschnaps von Erdölimporten unabhängig zu machen, war jedenfalls kein Erfolg beschieden. Ganz abgesehen von ökologischen Schäden, die das Projekt nach sich zog, erwies sich das unter anderem mit großzügigen Krediten des IWF finanzierte Projekt schlicht als unrentabel. Neben weiteren zerstörten Landschaften zeugt bis heute jedoch noch der sehr hohe Anteil „Alcool“-betriebener Fahrzeuge von dem einst so hochfahrenden Ziel. Selbst wenn es sich heute vornehmlich um Rübenzucker handelt, den ich haufenweise in meinen Tee einrühre, so entschuldigt dies doch nicht meine bisherige Oberflächlichkeit: Es ist bedauerlich, dass erst durch einen Besuch in Brasilien der Begriff „Zucker“ für mich einen bitteren Beigeschmack erhalten hat.
[1] So ein unbekannter Dichter des 13. Jahrhunderts, Freidank (= Freidenker) genannt, in seinem Lehrgedicht über die „Bescheidenheit“.