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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Wider den Mythos vom Schmelztiegel Brasilien

Claudius Armbruster | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

Attacken auf das Bild vom multiethnischen Musterland

In dem berühmten Brasilien-Buch von Stefan Zweig aus dem Jahre 1941 [1] spiegelt sich das brasilianische Selbstbild einer friedlichen, harmonischen und toleranten mestizischen Nation: „Brasilien hat das Rassenproblem, das unsere europäische Welt verstört, auf die einfachste Weise ad absurdum geführt: indem es seine angebliche Gültigkeit einfach ignorierte (…) Beruht die brasilianische Nation seit Jahrhunderten einzig auf dem Prinzip der freien und ungehemmten Durchmischung, der völligen Gleichstellung von Schwarz und Weiß und Braun und Gelb (…) Es gibt keine Farbgrenzen, keine Abgrenzungen, keine hochmütigen Schichtungen (…) bedeutet das Experiment Brasilien mit seiner völligen und bewussten Negierung aller Farb- und Rassenunterschiede den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Erledigung eines Wahns, der mehr Unfrieden und Unheil über die Welt gebracht hat als jeder andere. [2] Als einzige der iberischen Nationen hat Brasilien keine blutigen Religionsverfolgungen gekannt, nie haben hier die Scheiterhaufen der Inquisition gebrannt, in keinem Land sind die Sklaven verhältnismäßig humaner behandelt worden.“ So verständlich die Begeisterung des vor den Nazis und dem Rassismus geflüchteten Stefan Zweig auch sein mag, so bleibt dennoch festzustellen, dass hier ein Schriftsteller in den Bann des Mythos vom Schmelztiegel Brasilien geriet und die verschiedenen Facetten einer für viele andere tristen Wirklichkeit völlig ausblendete.

Am Anfang dieses mythischen Selbstbildes steht die Schrift des nordostbrasilianischen Sozial- und Kulturwissenschaftlers Gilberto Freyre (1900-1987) Herrenhaus und Sklavenhütte (Casa Grande & Senzala), die im Jahre 1933 erschien und einen Paradigmenwechsel darstellte: Im Unterschied zum bis dato vorherrschenden Rassismus à la Gobineau schildert Freyre die ethnische und kulturelle Vermischung von weißen Portugiesen und schwarzen Sklaven in der Kolonialzeit als positives Phänomen und begründet in Brasilien einen Diskurs, der die Mestizierung (mestiçagem und miscigenação) als Weg zur nationalen Einheit, Identität und Harmonie nachzeichnet.

In dem Hymnus Freyres auf die „toleranten“ Portugiesen sehen kritische Historiker und Soziologen aber eher eine Legitimation und ein Schönschreiben des Sklavenhaltersystems. Die negativen Seiten der portugiesischen Sklaverei verschweigt Freyre zwar nicht, doch überwiegt die positive Sicht einer patriarchalisch-polygam organisierten Gesellschaft. Bei Freyre beginnt die afro-brasilianische Prägung der weißen Herrenkinder mit dem Stillen durch die schwarze Amme, setzt sich fort in den mündlich tradierten Schlafliedern und Erzählungen der schwarzen Hausmägde und mündet in die sexuelle Initiation der jungen Herren durch Mulattinnen.

Untergewichtet bleibt die Gewalt als Brandzeichen der Eroberung und der kolonialen Sklavenhaltergesellschaft. Die Bilder der luso-afrikanischen Assimilation verdecken, dass die Afrikanisierung der portugiesischen Herrenhäuser zunächst in einer mehr oder minder gewaltsamen Vereinnahmung der afrikanischen Sklaven und ihrer Kultur bestand, die von der Übernahme afrikanischer Speisen und Musik bis zur Vergewaltigung afrikanischer Frauen reichte. Trotz aller Kritik nicht nur afro-brasilianischer Historiker bleibt Gilberto Freyres Herrenhaus und Sklavenhütte nicht nur für den Schriftsteller, Forscher und Politiker Darcy Ribeiro das wichtigste Werk über die brasilianische Kultur, das „größte und zugleich brasilianischste Buch des Landes“.

In den vierziger und fünfziger Jahren, in demokratischen und populistischen Regierungen, wie auch in den zwei Jahrzehnten der Militärdiktatur (1964-1984) entwickelte sich daraus die staatstragende Idee, Brasilien sei eine mestizische Demokratie (democracia racial). Immer stärker vermengte sich das Ideal der Mestizierung mit den politischen Begriffen von Demokratie, Friedfertigkeit und Gleichberechtigung. Nach der Ideologie der democracia racial leben in Brasilien Weiße, Schwarze, Rote und Gelbe friedlich und freiheitlich zusammen und die immerwährende ethnische und kulturelle Vermischung schütze vor jeglicher Diskriminierung und mache aus Brasilien ein anti-rassistisches Land par excellence. Stimmt dieses Selbstbild, stimmt diese Selbstdarstellung mit der Wirklichkeit überein? Ist Brasilien tatsächlich ein mestizisch-demokratisches Musterland ohne rassistische Vorurteile und Diskriminierungen, in dem alle friedlich und gleichberechtigt zusammenleben und sich ständig vermischen?

Sicher haben sich seit Eroberung und Kolonisierung Europäer, Sklaven und indigene Völker ständig vermischt, freilich ohne zu einem einheitlichen „brasilianischen Menschen“ zu verschmelzen. Sicher wurde im Schmelztiegel Brasilien während der letzten Jahrhunderte kräftiger gerührt als in den USA und vor allem ohne große gewaltsame Konflikte, doch keineswegs ohne Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung. Aus den Daten des statistischen Bundesamtes Brasiliens IBGE kann man ablesen, dass es z.B. nur wenig „inter-ethnische“ Eheschließungen, d.h. Ehen zwischen Schwarzen und Weißen gibt, dass Schwarze immer noch schwieriger Arbeit, Ämter und Würden erlangen, oft weniger Lohn erhalten. Immer noch sind z.B. in der mehrheitlich afro-brasilianischen Stadt Salvador nur 5% der Studenten Schwarze.

Schon in den fünfziger Jahren hatten die Wissenschaftler der Escola Paulista Florestan Fernandes, Octávio Ianni und auch Fernando Henrique Cardoso, der heutige Präsident Brasiliens, in empirischen Untersuchungen wie Brancos e Negros em São Paulo (1955), A Integração do Negro na Sociedade de Classes, die vor allem ökonomische und soziale Diskriminierung der Schwarzen in den stärker industrialisierten und urbanisierten Landesteilen des Südostens dokumentiert und analysiert. Die Ursachen des Rassismus verfolgten sie bis in die Zeit der Sklaverei zurück und gelangten zu dem Ergebnis, dass von democracia racial keine Rede sein könne, eher von einem dilema racial (Florestan Fernandes).

Der afro-brasilianische Dichter José Carlos Limeira geht in seinem Gedicht Reflexão sogar soweit, democracia racial durch hipocrisia social zu ersetzen und markiert dadurch die unzweideutige Ablehnung, auf die der Begriff democracia racial heute bei vielen politisch engagierten Schwarzen stößt. In Lateinamerika ist Brasilien das am stärksten afro-amerikanisch geprägte Land, zugleich das letzte, in dem die Sklaverei, erst 1888, abgeschafft wurde. Schätzungen zufolge bestand die Bevölkerung Brasiliens im 18. Jahrhundert zur Hälfte, in den Zuckerrohranbaugebieten im Nordosten sogar bis zu drei Vierteln, aus schwarzen Sklaven. Mit 70 Millionen Afro-Brasilianern gilt Brasilien heute nach Nigeria als das zweitgrößte afrikanisch geprägte Land der Erde. Immer mehr fühlen sich viele Afro-Brasilianer im „Land der Zukunft und des Schmelztiegels“ als Bürger zweiter Klasse.

Bereits am Ende der fünfziger Jahren beginnen afro-brasilianische Gruppen und Organisationen, die vorherrschenden Diskurse über das mestizisch-demokratische Brasilien zu hinterfragen und vehement anzugreifen. Vor allem der Schriftsteller, Theatergründer und Politiker Abdias do Nascimento sieht in dem Mythos vom Schmelztiegel einen Zwang zur Homogenisierung, der den spezifischen Kampf von Schwarzen und Indios tabuisieren möchte. Nascimento und die von ihm gegründete Movimento Negro Unificado (MNU) beharren auf einer Verschiedenheit und Eigenständigkeit von Kulturen, Völkern und Nationen. Nascimento verurteilt in einem gesamtlateinamerikanischen Kontext die offizielle Ideologie der democracia racial als Instrument der Herrschaftssicherung und der Mystifizierung dieser Herrschaft.

Historisch gesehen enthält die Ideologie der democracia racial quasi die Verpflichtung zur Vermischung. Vermischung im melting pot der Nation ist z.B. bei Fernando Azevedo 1943 gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Afro-Brasilianer und Indios, einmal durch das Aufgehen im „weißen Blut“ der europäischen Immigranten, danach aber – brutaler – durch „biologische und soziale Selektion“.

Hier zeigt sich – darauf haben afro-brasilianische Intellektuelle und Politiker immer wieder hingewiesen – dass die Idee der democracia racial begriffsgeschichtlich und auch politisch nicht frei von rassistischen Beimengungen ist: Sie setzt die Mestizierung unterschwellig gleich mit der „Weißung“ (branqueamento) von Bevölkerung und Gesellschaft. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts oszillierten die wahnhaften Prognosen, wie lange es dauern könnte, bis Brasilien weiß würde, zwischen drei Jahrzehnten und zwei Jahrhunderten.

Die an sich progressive Idee eines mestizisch-demokratischen Brasiliens wird in dem Maße, wie diese Utopie als Wirklichkeit ausgegeben wird, zu einer vor allem für die Afro-Brasilianer gefährlichen Ideologie. Daher nimmt es nicht Wunder, wenn Nascimento in O Genocídio do Negro Brasileiro. Processo de um Racismo Mascarado in Anlehnung an afro-amerikanische Positionen aus den USA die offizielle Mestizierungsideologie überzogen als „ethnisches Lynchen“ (linchamento étnico) brandmarkt.

Zeitgenössische afro-brasilianische Intellektuelle betonen die Notwendigkeit einer eigenen politischen und kulturellen Tradition jenseits des Mythos vom Schmelztiegel, einer eigenen Ethik in Verbindung mit der Geschichte von schwarzem Widerstand und Befreiung. Im weiteren verbinden sie damit auch die Hoffnung auf ein eigenes und spezifisches Kommunikations- und Symbolsystem, das Grundlage alternativer Sozialbeziehungen und einer eigenen Pädagogik sein soll.

Das wichtigste und symbolträchtigste Ereignis der Widerstandsgeschichte der Schwarzen in Brasilien ist der Quilombo de Palmares, auch República de Palmares genannt, ein von geflohenen Sklaven gegründeter Staat von bis zu 30.000 Menschen im Nordosten Brasiliens, der fast siebzig Jahre (1630-1697) Bestand hatte. 1676 oder 1677 kam der legendäre Zumbi an die Macht und regierte bis zur Zerstörung von Palmares durch die Militärexpedition von Domingos Jorge Velho fast zwanzig Jahre lang. Afro-Brasilianische Forscher weisen darauf hin, dass quilombo nicht auf Signifikate wie „Rebellion“ und „Aufruhr“ verengt werden sollte, dass es sich dabei im weiteren Sinn um ein Symbol alternativer und utopischer Afro-Gemeinschaft handelt. Entscheidend für die Bestrebungen der afro-brasilianischen Organisationen erscheint der mythisch-symbolische Gehalt dieses Teils der Widerstandgeschichte. Für Abdias do Nascimento bedeutet quilombo „Solidargemeinschaft“, der quilombismo die afro-brasilianische Form eines neuen Panafrikanismus. 1978 erklärte die MNU den Todestag des letzten Zumbi von Palmares, den 20. November, zum afro-brasilianischen Gedenktag, Dia Nacional da Consciência Negra -im Gegensatz zu dem offiziellen, der an das Goldene Gesetz (Lei Aurea, 1888), mit dem die Prinzessin Isabel die „Institution“ Sklaverei beendete, erinnert.

Wissenschaftlich gesehen war Palmares zweifelsfrei ein Beispiel schwarzen Widerstandes im kolonialen Brasilien, in dem es immer wieder Sklavenrevolten gab, und eine lebenswerte Alternative zur Sklavenhaltergesellschaft, auch wenn die Zeugnisse darüber meist aus der Perspektive der weißen Sieger stammen. Bei den Autoren und Schriftstellern aus dem Umkreis des MNU ist eine Mystifizierung und Mythisierung des Sklavenfreistaates von Palmares unübersehbar. Für sein politisches, auf Panafrikanismus ausgerichtetes Programm idealisiert Abdias do Nascimento das historische Palmares. Zu beachten ist vor allem, dass in Nascimentos extrem dichotomischer Mythisierung Palmares zum „afrikanischen Staat“ wird, der „brasilianischen Ausrottungsfeldzügen“ zum Opfer fiel.

Begriffe wie schwarze Diaspora (diáspora negra) und Mutter Afrika (Mãe-África) weisen auf die afro-zentrischen Argumentationslinien einiger radikaler afro-brasilianischer Gruppen hin und deuten damit eine vom mestizisch-demokratischen Ideal sich abgrenzende ethnizistische Tendenz an. In den Reihen der Afro-Gruppe Ilê Aiyê aus Salvador da Bahia dürfen nur Afro-Brasilianer agieren. Eine Art brasilianische Neo-Negritude markiert die Distanz zum auf Verschmelzung ausgerichteten Denken und Handeln.

Weniger an alternativen Afro-Mythen und mehr an der Lebenspraxis der Schwarzen und Armen Brasiliens orientiert sind die Aktionen und Positionen des Núcleo de Consciência Negra (NCN) der renommierten Universität von São Paulo USP. Hier finden Vorbereitungskurse auf die Universitätseingangsprüfung statt, die armen und das heißt zu 70% schwarzen Studienbewerbern vorbehalten sind. Die dort tätigen Universitätslehrer und Journalisten hoffen, die Lage der Afro-Brasilianer durch Bildung und Ausbildung zu verbessern.

Wie aber sieht die afro-brasilianische Kultur heute aus? Welchen Stellenwert hat sie innerhalb der brasilianischen Gesellschaft? Neben den politisch-intellektuellen Wortführern des MNU und des NCN entstanden seit den siebziger Jahren eine Reihe kulturell-politischer Bewegungen und Gruppen, vor allem in der am stärksten afrikanisch geprägten ersten Hauptstadt Brasiliens, Salvador da Bahia: Die in Musik und Tanz herausragenden blocos afros Olodum, Muzenza, Araketu, Ilê Aiyê und Malê Debalê suchen kulturell, politisch und pädagogisch an afrikanische Wurzeln anzuknüpfen. Zusammen mit einer Aufwertung der afro-brasilianischen Trance-Religionen , vor allem dem Candomblé und dem Kampftanz Capoeira, gelang es, über die Musik und Karnevalsgruppen den oft in den Slums lebenden armen Schwarzen einen ersten Schritt zu einer eigenen kulturellen Praxis zu ermöglichen.

Vor allem die Wortführer von Olodum setzen sich eine neue afro-amerikanische Identität zum Ziel und lehnen den Mythos vom Schmelztiegel Brasilien und die Ideologie der democracia racial ab. Sie beklagen die besondere Form des Rassismus in Brasilien, der, latent und camoufliert, besonders heuchlerisch und heimtückisch sei. In der Tat gäbe es keinen institutionalisierten, offenen Rassismus, wohl aber eine omnipräsente Valorisierung des Hellhäutigen gegenüber dem Afro-Brasilianischen und eine unsichtbare Mauer zwischen Schwarzen und Weißen.

Rassismus ist in Brasilien seit 1951 strafrechtlich sanktioniert, doch bedeutete z.B. in Stellenanzeigen der Ausdruck boa aparência (gute Erscheinug, angenehmes Äußeres) nichts anderes, als dass die Stelle nicht an Farbige zu vergeben ist. Ins Auge fällt heute, dass in den Appartmenthäusern der Mittelschichten und der Begüterten ein Aufzug die Eigentümer oder Mieter, die meist hellhäutig sind, von den dunklen Bediensteten trennt, die im Hintertreppenaufzug, dem elevador de serviço, nach oben fahren müssen.

João Jorge Santos Rodrigues, der Wortführer von Olodum, meint, dass es unter der immer noch herrschenden Ideologie der democracia racial besonders schwierig sei, ein afro-amerikanisches Bewusstsein in Brasilien zu schaffen. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch das brasilianische Portugiesisch, dass in offener Skalierung zwischen Hell und Dunkel differenziert: Etwa fünfzig Begriffe bezeichnen die verschiedenen ethnischen Mischungen und Hautfarben, deren spielerisch-bildlicher Charakter bei Bedarf aber auch trennscharf eingesetzt werden kann.

Weder die Mythen vom Schmelztiegel Brasilien und seiner democracia racial noch die afro-zentrischen Positionen können freilich vollauf überzeugen. Durch ihren historischen Ballast, die Kontamination mit der Ideologie der „Weißung“ (branqueamento), spart das mestizisch-demokratische Ideal das deutlich afrikanische, das schwarze Element aus der brasilianischen Nation tendenziell aus, quasi als etwas, das sich der Vermischung und Verschmelzung zum idealen brasilianischen Menschen verweigert. Der Valorisierung des Hellen korrespondiert – wenn auch nicht immer expressis verbis – die Diskriminierung des Dunklen.

Afro-zentrische und ethnizistische Bewegungen, die zurück zu den afrikanischen Wurzeln streben, vergessen, dass es eine „afrikanische Reinheit“ in Brasilien weder ethnisch, noch kulturell oder politisch geben kann. Fünf Jahrhunderte des Zusammenlebens haben bei aller Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung zahlreiche multiethnische und multikulturelle Vermischungen hervorgebracht.

So wäre es ein aussichtsloses Unterfangen, die afro-brasilianischen Religionen Candomblé, Macumba oder Umbanda zu afrikanischen Urformen zurückentwickeln zu wollen. Mit dem Volkskatholizismus, dem Spiritismus und indigenen Mythen vermischten sie sich grundlegend zu synkretistischen Religionsformen, auch wenn einige „puristische“ Forscher dies nicht als Verschmelzung, sondern als „symbol-switching“ der Schwarzen betrachten. [3]

Die Problematik ethnizistischer Politik zeigt sich immer wieder bei Wahlen auf kommunaler und Landesebene: Nachdem der Gründer des Movimento Negro Unificado, Abdias do Nascimento [4], Stadtrat in Rio de Janeiro war, wurden mit Marina Silva im Bundesstaat Acre und Benedita da Silva in Rio de Janeiro zwei schwarze Frauen Senatorinnen für die linke Partei Partido dos Trabalhadores (PT); der Vorsitzende der Brasilianischen Gewerkschaften CUT, Vicentinho, ist ebenfalls Afro-Brasilianer. Auch das Ende 1996 neugewählte Stadtoberhaupt der Megapolis São Paulo, Pitta, ist schwarz, doch gilt er als ‚Satellit‘ und Strohmann des Rechtspopulisten und Präsidentschaftskandidaten Maluf. Dass der Regierung von Fernando Henrique Cardoso mit dem Fußballidol Pelé ein schwarzer Minister (des Sports) angehört, ist nicht notwendigerweise ein Beweis für die Aufstiegsmöglichkeiten von Schwarzen in der Neuen Republik (Nova República).

Politische „Reinheit“ gibt es in Brasilien ebensowenig wie kulturelle: Die äußerst erfolgreiche Gruppe Olodum ist seit langem Bestandteil der nationalen Kulturindustrie, ihre Rhythmen sind in jedem Kaufhaus erhältlich und auch im Fernsehen omnipräsent. Seit mehreren Auslandstourneen, der Zusammenarbeit mit Paul Simon und seit Spike Lees Videoclip mit Michael Jackson im Februar 1996 gehören sie zur internationalen Kulturindustrie, wobei zu fragen bleibt, ob der durch zahlreiche plastische Operationen dem weißen Bild assimilierte US-Popstar wirklich der richtige Partner für die Schwarzen Brasiliens ist. Michael Jackson, der versuchte, sein Haar zu glätten, seine Haut zu bleichen und so viel Afrikanisches wie möglich aus seinem Gesicht wegoperieren zu lassen, steht doch eher für die Entfremdung eines Schwarzen, der sich hinter einer weißen Maske versteckt. Die rein afro-brasilianische Gruppe Ilê Aiyê aus Bahia unterstützte bei den Wahlen Antônio Carlos Magalhães, einen umstrittenen machiavellistischen Politiker der Rechten, der sowohl während der Militärdiktatur als auch in der Neuen Demokratie mehrfach Gouverneur, Oberbürgermeister und Minister war. Geht man davon aus, dass in multiethnischen und multikulturellen Entwicklungsgesellschaften wie Brasilien nation building weder vollkommen rational noch ohne Mythen erfolgen kann, dann geraten auch die historischen Leistungen des mestizisch-demokratischen Ideals ins Blickfeld der Gegenwart. Durch dieses Ideal und auch durch die Ideologie der democracia racial blieb Brasilien von allen Apartheidsanfechtungen verschont, wenngleich im politischen, sozialen und ökonomischen Prozess sehr wohl Separierungen und camouflierte Diskriminierungen immer bestanden und weiterhin bestehen. Der Mythos vom Schmelztiegel und von der darin entstandenen „ethnischen Demokratie“ ist Erzählung und Lüge zugleich. Eine Fabel und ein Ritual, die im kollektiven Unbewußten Brasiliens, wo sich die Mythen von Kolonisatoren, von Ureinwohnern und afrikanischen Sklaven kreuzen, Platz griffen und Wirkung zeitigten.

Die Existenzberechtigung radikaler und ethnizistischer Afro-Positionen ergibt sich aus der Notwendigkeit, der mythischen und staatstragenden These vom Schmelztiegel eine Antithese entgegenzusetzen, in der auch Heterogenität und sperrige Hybridität Berücksichtigung finden. So gehört die 1994 eingereichte Klage von dreizehn Afro-Brasilianern gegen den Staat auf Reparationszahlung von 102.000 US$ für jeden Nachkommen von Sklaven sicherlich zu den wichtigen symbolischen Aktionen gegen das Vergessen der Leidensgeschichte der Schwarzen in Brasilien.

Auch wenn es für viele unpolitische Afro-Brasilianer leichter sein mag, in einer Gesellschaft zu (über)leben, in der es – im Vergleich zu einem permanenten offenen Rassismus – nur zu versteckten Diskriminierungen kommt, so muss doch jeder Diskurs, der den Schmelztiegel exaltiert, begleitet werden von ideologiekritischer Wachsamkeit gegenüber der Verdrängung der existierenden Rassendiskriminierung durch die Verlagerung sozialer, politischer und ökonomischer Fragen auf die biologische und psychologische Ebene.

Daher scheint mir der Begriff des Multiethnischen und Multikulturellen besser geeignet als das suggestive und harmonisierende Bild des Schmelztiegels, weil er weniger historischen Ballast mit sich führt. Ins Blickfeld solcher Betrachtungsweisen geraten dann auch Diversivität, Heterogenität und Pluralität von Kulturen und Religionen. Konzepte wie Heterogenität und Dezentralisierung betonen auch das Neben- und Gegeneinander von verschiedenen Kulturen und Praxen, die in Brasilien aufeinandertreffen, zusammenkommen und nicht immer nur in einer nationalen Einheit verschmelzen.

* Der Autor ist Romanist und lehrt an der Universität Frankfurt/Main.

[1] Stefan Zweig: Brasilien. Land der Zukunft.

[2] Vgl. z.B. Freyre, in: Casa Grande & Senzala (l933), Kapitel IV über „O Escravo Negro na Vida Sexual e de Família do Brasileiro“.

[3] Armbruster, Claudius (1994): „Religion und Kultur der Afro-Brasilianer“, in: Briesemeister, Dietrich; Kohlenhepp, Gerd; Mertin, Ray-Güde; Sangmeister, Hartmut; Schrader, Achim (Hrsg.): Brasilien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main: Vervuert, p. 481-492.

[4] Nascimento: O Quilombismo. Documentos de uma Militância Pan-africanista.

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