Vor dreißig Jahren, in der Neujahrsnacht 1994, erhoben sich große Teile der indigenen Bevölkerung im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, um dem Neoliberalismus, symbolisiert durch das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, den Kampf anzusagen. Bemerkenswert waren nicht nur Ort, Träger und Zeitpunkt der „ersten Revolution des 21. Jahrhunderts“ (Frankfurter Rundschau), sondern vor allem die sie kennzeichnende Verbindung von Beständigkeit und Wandel. In Auseinandersetzung mit den realen Verhältnissen und konfrontiert mit jähen Wendungen mussten sich die Zapatisten immer wieder neu erfinden, ohne dass sie dabei ihre Radikalität aufgegeben haben. Der Kampf der Zapatisten, der in Chiapas seinen Ursprung und seine Basis hat, stellt zugleich einen unverzichtbaren Fundus an Erfahrungen und Anregungen für alle antikapitalistischen Bewegungen dar. Im Rückblick sollen einige davon näher beleuchtet werden.
Entstehung und Aufstand
Der 17. November 1983 gilt als Gründungsdatum des „Ejercito Zapatista de Liberación Nacional“ (EZLN – Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung). Der selbst gewählte Name und der Entstehungsort verweisen bereits auf drei entscheidende Merkmale des EZLN: Erstens sein Selbstverständnis als Guerilla, die sich zweitens in der bäuerlichen Traditionslinie der mexikanischen Revolution von 1910 sieht und drittens von der indigenen Bevölkerung in Chiapas getragen wird. Letzteres wurde am 1. Januar 1994 offenbar, als tausende Indigene mehrere Städte im Süden des Bundesstaates besetzten. Entstanden war der EZLN aus dem Zusammentreffen von versprengten mestizischen Guerilleros mit indigenen Gemeinschaften, die sich an der Agrargrenze im Lakandonischen Urwald organisiert hatten. In einem gegenseitigen Lernprozess entstand eine neuartige Bewegung, in der sich die revolutionären Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre mit dem Jahrhunderte währenden Widerstand der indigenen Völker Amerikas verbanden. In ihrer „Ersten Erklärung aus der Selva Lacandona“ forderten die Zapatisten neben dem Rücktritt der Regierung in Mexiko-Stadt mehr Rechte und Autonomie für die indigene Bevölkerung Mexikos sowie die Abkehr vom neoliberalen Kurs. Mit ihrem Ruf nach „Land und Freiheit“, knüpften sie an eine Forderung an, für die der Nationalheld Emiliano Zapata (1879-1919) in der mexikanischen Revolution sein Leben geopfert hatte. Nach Tagen ungleichen Kampfes gegen die mexikanische Bundesarmee zogen sich die Zapatisten zurück. Präsident Carlos Salinas de Gortari (1988-1994) sah sich am 12. Januar unter dem Druck der nationalen und internationalen Öffentlichkeit gezwungen, einen Waffenstillstand zu verkünden. Im Februar begannen unter Vermittlung von Bischof Samuel Ruíz García in der Kathedrale von San Cristóbal de las Casas die ersten Friedensverhandlungen zwischen EZLN und Beauftragten der Regierung.
Verhandlungen – Mobilisierung – Autonomie – Demokratisierung
Der Beginn der Friedensverhandlungen läutete den Übergang zum politischen Kampf ein, der von den Zapatisten auf vier strategische Achsen – Verhandlungen mit der Regierung, Mobilisierung der Bevölkerung, Aufbau und Verteidigung der indigenen Autonomie, Demokratisierung des gesamten Landes – vorangetrieben wurde. Obwohl diese eng miteinander verbunden waren, konnte sich ihr Verhältnis zueinander in Abhängigkeit von den konkreten Bedingungen auch ändern. Von Anfang an war klar, dass die neue Etappe der Verhandlungen nur erfolgreich sein konnte, wenn sie mit einer breiten politischen Mobilisierung einherging. Neben dem Schutz und der Erweiterung der eigenen Basis vor Ort entwickelten sich ab 1994 die Vernetzung und Organisierung auf nationaler und internationaler Ebene zu zentralen Pfeilern des zapatistischen Befreiungskampfes. Bis zum Abbruch der Friedensverhandlungen Anfang 1997 lässt sich die Interaktion der strategischen Achsen wie folgt beschreiben: Während der Verhandlungen mussten sich die Zapatisten immer wieder der Angriffe der Regierung erwehren. Den Höhepunkt bildeten die Haftbefehle, die die neue Regierung unter Ernesto Zedillo (1994-2000) am 9. Februar 1995 gegen Subcomandante Marcos und andere Führungsmitglieder des EZLN erlassen hatte. Die damit einhergehende Offensive von Armee und Polizei gegen die autonomen Gemeinden, die dort inzwischen entstanden waren, zwang über 20.000 Zapatistas zur Flucht in den Urwald. Eine große Mobilisierungs- und Protestwelle, die daraufhin das ganze Land erfasste, veranlasste die Regierung, die Militäraktion einzustellen.
Am 20. April wurden die Verhandlungen in San Andrés wieder aufgenommen. Sie führen am 16. Februar 1996 zum Abschluss eines Abkommens über „Indigene Rechte und Kultur“. Gespräche über weitere Themenkomplexe (Demokratie und Gerechtigkeit; Wirtschaft und Entwicklung; Frauenrechte) scheiterten jedoch am Unwillen der Regierung. Nachdem Zedillo Ende 1996 die Annahme des Abkommens sabotiert hatte, unterbrachen die Zapatistas aus Protest Anfang 1997 die Verhandlungen. In ihrem gesamten Verlauf waren diese von einem zähen politischen Kampf begleitet. Neben Landbesetzungen und Treffen der eigenen Basis bildeten Zusammenkünfte mit lokalen, nationalen und internationalen Unterstützern, Befragungen zum weiteren Weg und Aufrufe zur landesweiten Organisation des Kampfes die Hauptelemente. Die Gründung des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) in Mexiko-Stadt (10.-12. Oktober 1996), an dem Comandanta Ramona als Delegierte des EZLN teilnahm, und der Marsch von 1.111 vermummten Zapatistas in die Hauptstadt (September 1997) zum zweiten CNI-Kongress stellen Höhepunkte dieser Mobilisierungsphase dar. Ab 1997 intensivierte die Bundesarmee den „Krieg niederer Intensität“, dem am 22. Dezember im Massaker von Acteal 45 Menschen zum Opfer fielen. Im Dezember 2000 trat Vicente Fox, der für die Oppositionspartei PAN kandidiert hatte, sein Amt als neuer Präsident Mexikos an. Damit endete zugleich die 70jährige Herrschaft des Partido Revolucionario Institutional (PRI – Partei der Institutionellen Revolution).
Lokale Autonomie und landesweite Vernetzung
Die Abwahl des PRI weckte große Hoffnungen in der mexikanischen Bevölkerung. Auch die Zapatisten sahen darin eine Chance, nun endlich das Abkommen von San Andrés umsetzen zu können. Anfang 2001organisierten die Zapatistas einen „Marsch für die indigene Würde“, um der überfälligen Verabschiedung des Abkommens Nachdruck zu verleihen. 24 Delegierte der EZLN-Führung legten in zwei Wochen einen 3000 Kilometer langen Weg zurück, der sie in Begleitung von zehntausenden begeisterten Anhängern durch 12 Bundesstaaten führte. Unterwegs wurden ca. 80 Kundgebungen durchgeführt und zahlreiche Treffen mit der örtlichen Bevölkerung organisiert. Der Marsch gipfelte in Mexiko-Stadt, wo die Zapatisten am 11. März 2001 von mehr als 200.000 Menschen auf den Zócalo enthusiastisch begrüßt wurden. Der Druck dieser Massenmobilisierung machte es den Zapatisten möglich, ihr Anliegen im Parlament vorzutragen. Dennoch verhinderten die politischen Parteien, dass das Abkommen von San Andrés Gesetzeskraft erlangte. Enttäuscht zogen sich die Zapatisten in ihre autonomen Gebiete in Chiapas zurück.
Mit einer friedlichen Besetzung von San Cristóbal de las Casas durch 20.000 Zapatistas beendete der EZLN am 1. Januar 2003 sein fast zweijähriges Schweigen und kündigte den Ausbau der indigenen Autonomie an. Im August wurden die neu gebildeten „Juntas de Buen Gobierno“ (Räte de Guten Regierung) als direktdemokratisches Selbstverwaltungsnetzwerk feierlich eingeweiht. Gleichzeitig wurden die fünf „Aguacalientes“, die bisher als Kommunikations- und Logistikzentren der Autonomiebewegung gedient hatten, in einem feierlichen Akt zu Grabe getragen. An ihre Stelle traten fünf „Caracoles“ (dt.: Schneckenmuscheln), die die Weiterentwicklung der Autonomie symbolisierten.
Nach zwei weiteren Jahren, die von anhaltenden Angriffen gegen die zapatistische Bewegung geprägt waren, wandte sich der EZLN Ende Juni 2005 mit der „Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald“ (kurz: Die Sechste – La Sexta) mit dem Vorschlag eines neuen historischen Experiments an die Öffentlichkeit. Es sollte eine landesweite außerparlamentarische Allianz aller Marginalisierten des Landes geschaffen werden, um eine antikapitalistische und auf gegenseitige Solidarität ausgerichtete Verfassung zu erarbeiten und zivil durchzusetzen. Mit dieser „Anderen Kampagne“ (Kurz: Die Andere – La Otra) grenzten sich die Zapatistas nicht nur vom Wahlkampf der politischen Parteien ab, sondern orientierten zugleich auf den Kampf gegen das kapitalistische System.
Insgesamt schlossen sich mehr als tausend Gruppierungen aus ganz Mexiko der „Anderen Kampagne“ an. Die zapatistischen Delegierten reisten in alle Bundesstaaten Mexikos, um die Bevölkerung mit ihrem Vorschlag bekannt zu machen, die reale Situation vor Ort kennen zu lernen und sich zu vernetzen. Der Anspruch, niemanden auszuschließen und keine Mehrheitsentscheidungen zu beschließen, führte aber schon bald zu internen Konflikten. Auch extern geriet „La Otra“ in Bedrängnis: In der der Kleinstadt Atenco, die sich der Kampagne angeschlossen hatte, kam es im Mai 2006 zu extremen Übergriffen der Polizei und daraufhin zu spontanen Protesten, die mit Toten, vergewaltigten Frauen und Gefangenen endeten.
Als sich im Bundesstaat Oaxaca, der an Chiapas grenzt, ab Juni eine breite Protest- und Aufstandsbewegung gegen die Amtsführung des damaligen Gouverneurs entwickelte, solidarisierten sich die Zapatisten mit dieser. In beiden Fällen – Atenco und Oaxaca – trugen sie maßgeblich dazu bei, dass sich eine breite nationale und internationale Protestwelle gegen die Niederschlagung der zivilen Aufstände formierte. Unter den Bedingungen des Drogenkrieges, den der neue Präsident Felipe Calderón in enger Zusammenarbeit mit den USA Ende 2006 gegen die mexikanischen Kartelle gestartet hatte und der bis Mitte 2021 mehr als 350.000 Menschen das Leben gekostet hat, geriet auch “La Otra“ zunehmend in Bedrängnis. Im Januar 2013 gab der EZLN schließlich die Auflösung der Kampagne bekannt.
Im Zick-Zack neuer Kämpfe
Im Oktober 2016 fand der V. Kongress des CNI statt, an dem der EZLN erneut teilnahm. Auf der Zusammenkunft wurde die Bildung neuen Gremiums – des „Concejo Indígena de Gobierno“ (CIG – Indigener Regierungsrat) – initiiert. Ihm gehören je zwei Delegierte – ein Mann und eine Frau – von 43 indigenen Völker Mexikos an, die sich diesem politischen Projekt angeschlossen haben. Im Mai 2017 entschied der CIG, sich mit einer eigenen Kandidatin – seiner Sprecherin María de Jesús Patricio Martínez (genannt Marichuy) – erstmals an den Präsidentschaftswahlen zu beteiligen. Am 19. Februar 2018 wurde jedoch klar, dass die Kandidatur gescheitert war. Marichuy erreichte mit 267.115 von 866.593 Unterschriften lediglich 30,8 Prozent der Unterstützungserklärungen, die für eine Zulassung notwendig waren. Immerhin war es dem CIG gelungen, die Unterschriftenkampagne für die Verbreitung seiner Forderungen zu nutzen, sich weiter zu vernetzen und den Widerstand der indigenen Bevölkerung zu stärken. Mit dem CIG hat sich die indigene Bevölkerung ein Instrument geschaffen, das es ihr erlaubt, sich stärker in die politischen Auseinandersetzungen in Mexiko einzubringen.
Ende 2023, kurz vor dem 30. Jahrestag des Aufstands von 1994, verkündeten die Zapatistas überraschend die Auflösung der bisherigen Strukturen. Dort, wo es zuvor „dutzende” zapatistische Kommunen gegeben hatte, sollen nun „tausende” lokale zapatistische Selbstverwaltungen (GAL – Gobierno Autónomo Local) entstehen. Und an die Stelle der zwölf „Räte der Guten Regierung“ sollen „hunderte” kollektive Regierungen (CGAZ – Colectivos de Gobiernos Autónomos Zapatistas) treten. In einer Vollversammlung (ACGZ – Asamblea de Colectivos de Gobiernos Autónomos Zapatistas) laufen künftig die autonomen „Fäden“ zusammen. Damit suchen die Zapatistas neue adäquate Formen, um ihre Gemeinden weiterhin selbst regieren zu können. Dabei spielt die zugespitzte Situation in Chiapas eine wichtige Rolle. Um die Sicherheit und die Verteidigungsfähigkeit „unserer Dörfer und der Mutter Erde“ zu erhöhen – so Comandante Moisés – bereiten sich die Zapatisten auf ein umfangreiches Spektrum von Bedrohungen vor: Angriffe, Epidemien, räuberische Unternehmen, militärische Besetzung, Naturkatastrophen und Krieg. „Wir sind darauf vorbereitet, dass jedes unserer Dörfer überlebt, auch wenn sie voneinander isoliert sind.“ In den letzten zehn Jahren wurde vor allem der Drogenkrieg zu einem immer größer werdenden Problem. Den Drogenkartellen, die sich in Mexiko entlang der Transport- und Migrationsrouten vom Norden in Richtung Süden ausgebreitet haben, sind die selbstverwaltenden Strukturen der Zapatistas im Weg. Auch die Militarisierung nimmt weiter zu. Die „Caracoles“ wurden zunehmend zu Zielscheiben der Attacken der Kartelle und werden nun als öffentliche Kontaktstellen aufgegeben. Selbst Menschenrechtsbeobachtungen wurden zu gefährlich. So laden die Zapatistas zu den Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag einerseits ein – und raten andererseits davon ab, zu kommen. Diese neue Wendung zeugt davon, wie hart die Zapatisten in ihren Auseinandersetzungen mit dem kapitalistischen Staat, den kriminellen Drogenkartellen und dem Einfluss des US-Imperialismus um ihr Überleben kämpfen müssen.
Widersprüchliche Synthesen
Der Rückblick auf die letzten 30 Jahre macht deutlich, wie schwer es ist, die Zapatistas in gängige Schemata einzuordnen. Immer wieder haben sie sich gewandelt und in einem ständigen Lernprozess Neuland beschritten. Im Januar 1994 traten sie als Guerillabewegung an die Öffentlichkeit, die die Regierung stürzen wollte. Schon wenige Wochen später verhandelten sie mit deren Vertretern über Reformen des Systems. Ihre Forderungen reichen von indigener Autonomie und Landverteilung zugunsten der bäuerlichen Bevölkerung bis zur Absage an das „System des Todes“, den Kapitalismus. In Abgrenzung zum Staat und den politischen Parteien haben sie Strukturen und Verfahren einer defacto-Autonomie entwickelt, die trotz aller Angriffe bis heute überlebt hat. Die Zapatisten haben schon frühzeitig das Internet als Kommunikationsmittel entdeckt und geschickt für ihren Kampf genutzt. Neu ist auch ihre Absage an die Ergreifung der politischen Macht. Neu ist ebenso ihre Sprache und der Grad der Emanzipation, den sich die Frauen in den autonomen Gemeinden erkämpft haben. Historisch die Bewegung der Zapatistas eine Synthese aus verschiedenen Etappen und Arten des Widerstandes: 500 Jahre antikolonialen Kampfes verbinden sich mit der mexikanischen Revolution von 1910 und den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Ihre Niederlagen ließen sie nicht verzweifeln, sondern nach neuen Wegen suchen. Ihre tiefe Verwurzelung in der indigenen Bevölkerung von Chiapas ist ihre Stärke, begrenzt zugleich aber auch ihre Möglichkeiten, sich landesweit auszudehnen. Vor 30 Jahren waren sie nach der Niederlage des Sozialismus und inmitten des Siegestaumels des Neoliberalismus für alle linken Bewegungen weltweit ein Zeichen der Hoffnung. Dies gilt gleichermaßen für die indigenen Völker Mexikos und Lateinamerikas, mit denen sich die Zapatistas eng verbunden fühlen. Ihr Widerstand und ihr Überleben erbringen den praktischen Beweis, dass eine andere, gerechtere Welt möglich ist – eine Welt, in der viele Welten ihren Platz haben.
Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, gc [2] CoverScan (Marta Durán de Huerta)