Anlässlich des 100. Geburtstages des genialen Komponisten und Bandoneonisten Ástor Piazzolla (1921-1992) fanden nicht nur in seinem Geburtstagsland Argentinien, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt Konzerte und Veranstaltungen zu seinen Ehren statt. Und natürlich nutzte auch die Plattenindustrie die Gelegenheit, Alben mit seinen Werken zu verlegen. Dazu gehört auch die Veröffentlichung des Albums Piazzolla Ruta 100, das von dem zu diesem Anlass gegründeten Patagonia Express Trio aufgenommen wurde. Bestehend aus den talentierten Brüdern Oscar (Cello) und Claudio Bohórquez (Violine) und keinem Geringeren als dem Pianisten, Komponisten und Arrangeur Gustavo Beytelmann zollt das Trio – Format, für das der Pianist eine besondere Vorliebe hat – dem großen Ástor mit einer Reihe von Songs Tribut.
Das Album besteht aus elf Titeln, von denen die ersten sieben aus der Feder Piazzollas stammen. Von den verbliebenen vier Stücken stammen drei von Beytelmann und der letzte Titel ist Duke Ellingtongs Jazz-Standard Caravan. Obwohl eine visuelle Betrachtung der aus Piazzollas Repertoire ausgewählten Werke zunächst den Eindruck erwecken könnte, dass die Auswahl nicht besonders originell ist, genügt es, die Scheibe einmal abzuspielen, um die Meinung schnell zu ändern und sich von dem, was dieses Trio zu sagen hat, völlig mitreißen zu lassen.
Beginnend mit Las cuatro estaciones porteñas (a.k.a. Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires), die zweifellos zu den Kompositionen Piazzollas gehören, die im Repertoire von Solisten, Ensembles und Orchestern der Welt am meisten vertreten sind, überzeugt das Trio nicht nur durch die Wahl der Tempi, sondern auch durch die Phrasierung und die Ausführung technischer Elemente wie dem Vibrato, das – nach dem bescheidenen Ohr dieses Rezensenten und abgesehen von Aufnahmen des Komponisten selbst – das Hören nach so vielen Versionen anderer MusikerInnen „neu kalibriert“.
In Teilen dieser im Laufe der Zeit gewordenen Suite, wie beispielsweise Verano Porteño, kommen die Streicher nicht in Versuchung, sich den äußerst gefährlichen langsamen Passagen und Staccati hinzugeben, die von anderen KollegInnen oft überspielt oder weniger „natürlich“ gespielt werden. Zusammen mit Beytelmanns treffsicherem Klavierspiel führt dies zu einer bemerkenswerten kontrapunktischen Gestaltung des Trios. Das gleiche gilt für ein weiteres Stück, Le Grand Tango, das Piazzolla dem legendären Cellisten Mtislav Rostropovich gewidmet hat. Auch wenn dieses Werk als Fantasie für Violoncello und Klavier angesehen werden kann, in der die Sätze in ununterbrochenen Folge aufeinander folgen – was eine zusätzliche Herausforderung für die potenziellen Interpreten darstellt –, überzeugt das Duo durch den Dialog zwischen den verschiedenen Stimmen und die organische Aufrechterhaltung des Pulses während des gesamten Stückes. In Milonga en re führt die Wahl eines schnelleren Tempo, das der neueren Version des Posaunisten Achilles Liarmakopoulos‘ Trio (2018) nähersteht als Gidon Kremers berühmter Interpretation desselben Stückes in seiner Hommage à Piazzolla (1996), zu einer kompakten und harmonischen Version führt.
La muerte del ángel, ein Titel, in dem das Trio seine interpretatorischen Qualitäten und seine Sensibilität für das Werk des Bandoneonisten unter Beweis stellt, weicht drei Stücken Beytelmanns, die sich offensichtlich auf Piazzolla beziehen. Im Falle von Ofrenda handelt es sich um ein Stück, das der Pianist konzipierte, als er die Nachricht vom Tod Piazzollas im Radio hörte – es beginnt mit den ersten Noten von Milonga del ángel und erinnert an Ravels intime Pavane pour une infante défunte. Eine frühere Version dieses Titels wurde vom Autor mit dem Klarinettisten Rémi Lerner und dem Geiger Cyril Garac bereits auf dem Album L’autre Visage (2011) aufgenommen.
Hingegen sind Balada und Tango zwei Stücke für Klavier und Geige, die in jüngerer Zeit konzipiert wurden und die der Komponist den Brüdern Bohórquez gewidmet hat. In der zarten Balada werden die beiden Instrumente, Klavier und Geige, sowohl in den Teilen, in denen sie allein erklingen, als auch in den Teilen, in denen sie sich gegenseitig begleiten, bis zum Äußersten angetrieben. Tango ist auch ein langsames Stück und hat zwar ähnliche Ausdruckstiefe wie die Balada, doch im Gegensatz zum vorherigen Titel enthält es dazu mehrere rhythmische Elemente, die eher der sogenannten zeitgenössischen Musik näherstehen. Den Abschluss bildet, wie bereits erwähnt, eine Version von Caravan, ein Werk, das auch von anderen Trios Beytelmanns in den Alben Tango à la Duke (1997) und L’autre Visage registriert wurde und deutlich macht, dass der Pianist immer wieder etwas Neues dazu zu sagen hat.
Beytelmanns (Venado Tuerto, 1945) Beziehung zu Astor Piazzolla nahm besonders in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Gestalt an, als sich der Pianist Piazzollas Octeto Electrónico auf dessen Europatournee 1977 anschloss. Das Paradox an der Situation ist, dass diese Tournee (wie sich im Laufe der Zeit herausstellte) Teil der Propagandakampagne der seit 1976 de facto regierenden Militärjunta war, um der Diskreditierung des südamerikanischen Landes im Ausland durch die Verbreitung von Informationen über Menschenrechtsverletzungen begegnen (die sogenannte „Anti-Argentinien-Kampagne“), während Beytelmann selbst zu den vielen gehörte, die nach dem Militärputsch ins Exil gezwungen worden waren. Einem anderen Musiker des Oktetts, dem Gitarristen und Komponisten Tommy Gubitsch, wurde damals die Rückkehr in seine Heimat verwehrt, nachdem er sich geweigert hatte, sich öffentlich für die Diktatur auszusprechen. Gubitsch gehörte von da an zur Schar der Exilanten. Beytelmanns Zeit mit dem Octeto wurde auf dem fulminanten Live-Album Olympia 77 festgehalten. Wer noch mehr von Piazzollas Werk vom Pianisten hören möchte, sollte sich die 2002 erschiene Hommage an den argentinischen Bandoneonisten Sentido único / sens unique zu Gemüte führen, das live mit dem Kontrabassisten Ezio Bosso aufgenommen wurde.
Für die Brüder Claudio (Gifhorn, 1976) und Oscar Bohórquez (Karlsruhe, 1979), beide mit uruguayischen und peruanischen Wurzeln, deren individuelle musikalische Fähigkeiten sich in zahlreichen Alben widerspiegeln, beginnend mit dem Debüt-Album Prix Davidoff (1996), in dem sich der Cellist Claudio mit dem Konzert Nr. 1 für Violoncello und Orchester Op. 107 von Dmitri Schostakowitsch auseinander setzt, bis hin zu den jüngsten Alben Poetica (2019) mit Werken von Robert Schumann in einer Bearbeitung für Cello und Klavier oder dem Album mit den Solo-Violinsonaten von Johann S. Bach (2019) des Geigers Oscar, ist Piazzolla Ruta 100 ihre erste gemeinsame Aufnahme. Vor dem Hintergrund der Annäherung der Bohórquez an Beytelmann hatte das Ensemble Almaviva, zu dem Oscar Bohórquez gehört, bereits 2019 Werke aus Beytelmanns Suite Un argentin au Louvre aufgezeichnet.
Piazzolla Ruta 100 ist das Ergebnis des Zusammentreffens von zwei Generationen von Musikern mit unterschiedlichem Werdegang, aber mit einer ähnlichen schillernden Intuition im Dienste der Musik im Allgemeinen und des Neuen Tangos im Besonderen. Das Album liefert zahlreiche Beweise dafür, wie es dem Patagonia Express Trio gelingt, das Tempo di Tango mehr als überzeugend zum Ausdruck zu bringen. Es ist eine Hommage, die vom Herzen kommt. Eine Lektion in Tango.
Patagonia Express Trio
Piazzolla Ruta 100
Berlin Classics 2021, 70 Min.