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Onetti, Juan Carlos: Leichensammler

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Onetti_Leichensammler_CoverScanIn letzter Zeit legte Suhrkamp mehrere Bücher Juan Carlos Onettis (Montevideo 1909 – Madrid 1994) neu auf. Dazu gehört der Roman Leichensammler, welcher bereits 1964 erschien und erst 1988 ins Deutsch übersetzt wurde. Auftakt dieses Romans sind die Eröffnung eines Bordells in der Kleinstadt Santa María und die Ablehnung, die derartige Unternehmungen hervorruft – zumindest bei den unvermeidlichen konservativen Sektoren der Gemeinde. Die mit dem Werk des uruguayischen Schriftstellers vertrauten LeserInnen werden in Leichensammler Charaktere und Orte wiederfinden, die bereits in anderen seiner Werken anwesend sind, und ebenso weitere Merkmale, die Onettis Literatur kennzeichnen. Der Roman stellt einerseits das Ende der sogenannten „Santa-María-Trilogie“ dar, die mit Das kurze Leben (1950) beginnt und mit Die Werft (1961) fortgesetzt wird. Santa María, die fiktive Kleinstadt, in der die Handlung spielt, wird jedoch in späten Romanen wieder in Erinnerung gerufen – beispielsweise in Lassen wir den Wind sprechen (1979). Andererseits begegnet man auch bereits bekannten Figuren, wie beispielsweise Larsen a.k.a. „Leichensammler“ oder kurz „Sammler“, welcher ebenso eine Hauptrolle in Die Werft spielt. Auch wenn die Veröffentlichung von Leichensammler der Publikation von Die Werft folgt, geht seine Handlung diesem zeitlich voraus. Das, was wohl als eine bloße Geschäftsstrategie bzw. Wiederverwendung alter Ideen erscheinen mag, hängt jedoch eher damit zusammen, dass Die Werft während des Schreibens von Leichensammler konzipiert wurde – der Autor konnte scheinbar dem in dieser Novelle stattgefundenen Tod Larsens nicht widerstehen.

Ein früherer Roman Onettis, Der Schacht (1939), wurde nicht zufälligerweise von Schriftstellern und Literaturkritikern, wie beispielsweise David Viñas, als Auftakt des neuen lateinamerikanischen Narratives anerkannt. Leichensammler stellt keine Ausnahme von Onettis kennzeichnender Erzählweise dar. Für die LeserInnen ist die Orientierung durch die einzelnen Kapitel dieses Werkes nicht ganz einfach – was jedoch nicht zu der Feststellung führen kann, man stehe hier einfach vor einer prächtigen Demonstration reiner Technik. So nimmt oftmals die Identifizierung der erzählenden Stimme einige Zeit in Anspruch – und auch wenn diese schließlich gelingt, verwirrt der Autor mit einem plötzlichen Wechsel: „Ich habe Julita, die mir nackt, erfahren, ein wenig neugierig und mitleidig, mit verzweifeltem Eifer alle nur möglichen Formen der Wollust, des Perversen beibringt, die Sinnloses erfindet und dabei so verrückt lacht, als erfände sie bei Verstand neuartige Verfahren“ (S. 233). Und im nächsten Absatz der unangekündigte Wechsel des Ich-Erzählers: „Nachts legten wir uns schlafen über der Gefahr, sahen uns erwachen mit dem Gedanken, ob es an diesem Morgen geschehen würde, an diesem Tag. Er oder ich, klar“ (S. 234). Im Zuge der Erzählung erscheinen nicht nur mehrere ErzählerInnen (1. und 3. Person Singular und Plural) alternierend, Onetti fügt oftmals die inneren Stimmen der SprecherInnen hinzu. Durch die Nebeneinanderstellung von inneren Monologen gelingt es dem Autor, Zugang zur unausgesprochenen Dimension zu ermöglichen – und somit Doppelzüngigkeit meisterhaft auszudrücken.

Leichensammler erzählt die Geschichte von der Verwirklichung des Traums eines Zuhälters, das perfekte Bordell zu errichten. Aufgrund der Verzögerung (sowohl Larsen als auch die drei engagierten Prostituierten sind im weitesten Sinne heruntergekommen) und des Ortes, wo der Traum stattfindet (einem gemieteten, am Stadtrand einer eher bedeutungslosen Stadt liegenden Haus) verwandelt sich dieser Traum in ein nahezu groteskes Versagen. Auch wenn Larsen eine zentrale Rolle im Roman spielt, beruht das nicht darauf, dass „Sammler“ im Mittelpunk der Erzählung steht – weder seiner Stimme noch seiner Geschichte werden von Onetti mehr Seiten als den anderen Charakteren gewidmet. Die Bedeutung Larsens liegt vielmehr darin, dass dank seines umstrittenen Vorhabens individuelle, verdrängte Geschichten auftauchen können – selbst die Kleinstadt Santa María, welche im Schatten der Großstadt steht.

Bei Leichensammler handelt es sich um einen Roman, in dem es um Heuchelei, Schein, Doppelmoral, Wahnsinn, Scheitern und Untergang geht – ohne ein Krimi zu sein. Der Schriftsteller setzt im Buch eine endlose Reihe von Gegensätzen ein, was nach wie vor für die Literaturkritik eine Köstlichkeit ist – u.a. Gut und Böse, Oben und Unten, Vergangenheit und Gegenwart, Alter und Jugend, Reinheit und Unreinheit, Schönheit und Hinfälligkeit, Himmel und Erde, Erfolg und Versagen. Wird Larsen aufgrund seiner Neigung, mittels heruntergekommener Prostituierten sein Brot zu verdienen, „Leichensammler“ ggf. „Sammler“ genannt, dient das Bordell im Roman als Vorwand, um Geschichten einzusammeln. Onetti greift immer wieder auf eher dubiose Charaktere und Kulissen als Mittel zurück, nicht nur, um die Normalität und die moralische Kriterien infrage zu stellen, sondern vielmehr um die Kehrseite der Medaille zu entschleiern.

Im Anhang liefert das Buch wertvolle Informationen. Dabei sind Hinweise über die Entstehung des Romans, die deutsche Ausgabe und Anmerkungen zu den in der Erzählung erwähnten Namen, ggf. vom Autor ohne weiteres verwendeten Phrasen und Begriffe, sehr hilfreich – zumal der Roman bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in Uruguay erschien. Eine anschließende Darlegung der einzelnen Romanfiguren in Zusammenhang mit Onettis Werk ermöglicht es, sie auch in anderen Schriften zu verfolgen. Des Weiteren werden Literaturhinweise über die Originalausgaben von Onettis Werken sowie zu den Ausgaben in deutscher Sprache gegeben. Ein umfangreiches Verzeichnis mit kritischen Studien über das Werk des Uruguayers und eine Onetti-Chronologie vervollständigen die Informationen.

Juan Carlos Onetti

Leichensammler

Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Berlin 2017

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