Rodolfo Walsh ist eine Rarität. Wer jemals in Südamerika war und die Zeit hatte, in Bücherläden oder Antiquariaten zu stöbern, nach dem Autor zu fragen oder gar gezielt Bücher von ihm zu suchen, der wird bald resigniert aufgegeben haben. Walsh findet sich extrem selten. Viele seine Werke liegen sicherlich noch gut versteckt auf Dachböden, den Feuern der barbarischen Knechte der Militärdiktaturen entgangen – und dort vergessen.
Deswegen schlägt das Herz des Enthusiasten und Suchenden unweigerlich höher, wenn er plötzlich Rodolfo Walsh in einer deutschen Ausgabe entdeckt. Denn – und das sei für Jäger des verschwundenen Schatzes vermerkt – er ist auch in Deutschland rar. So wundert es nicht, dass die Zusammenstellung von Kurzgeschichten durch den Stockmann-Verlag eine Ersterscheinung auf Deutsch ist. Und, um es vorweg zu nehmen, es ist eine gelungene Premiere. Die elf Kurzgeschichten zeichnen – wirklich in aller Kürze – ein exzellentes Bild über das Leben in Argentinien, die Polarisierungen, das Leid.
Ja, sie sind so prägnant geschrieben, dass man oftmals nicht einen Augenblick mit den Gedanken abschweifen darf. Und viele Geschichte erschließen sich sehr schwer. Sie sind anspruchsvoll, sowohl stilistisch als auch inhaltlich. Oft folgen sie verworrenen Wegen oder einer Kette von dezenten Andeutungen, die zum Teil erst durch die Erklärungen in den Fußnoten Wichtigkeit für das Gesamtverständnis erlangen. Jede Kurzgeschichte wird damit zugleich zu einer kleinen Herausforderung.
Das beginnt schon mit der ersten Erzählung. Man fragt sich als Leser die ganze Zeit: Wer ist „diese Frau“? Es dämmert allmählich, es könnte sich um den Leichnam von Evita Perón handeln, der bekanntlich ebenso verschwinden sollte, wie früher und später so viele Körper von zu Tode Gefolterten – aus dem Flugzeug geworfen oder in Salzsäure aufgelöst.
Der Übergang zur nächsten Geschichte will sich angesichts dieser Gräuel, die sich automatisch im Kopf festsetzen, einfach nicht vollziehen. Er verschwindet immer wieder, wie die Gefolterten, wie die Toten. Der Übergang ist weg. Filme, Bilder, Zeitungsberichte über das Grauen der Diktatur kreisen vor dem Auge. Argentinien, Brasilien, Peru, Bolivien, Chile, Argentinien, Brasilien, Peru… Wie ein Mahlstrom springen die Gedanken von einem Land zum anderen – überall das gleiche Leid.
Allerdings weisen nicht alle Erzählungen die gleiche Tiefe wie „Diese Frau“ auf. In manchen überraschen auch die Konstellationen und Wendungen, die Diskrepanzen zwischen Realität und Traum („Der Träumer“) oder moralischen Vorstellungen und Wirklichkeit („Iren jagen einen Kater“).
Eine zentrale Rolle in dem Band (nicht nur in der Reihenfolge, sondern auch bezüglich der inhaltlichen Dimensionen) nimmt die Erzählung „Briefe“ ein. Wie in „Fotos“ zeichnet Walsh sehr geschickt die Geschichte Argentiniens nach, dem Land, das sich nur von seinem Boden her verstehen lässt (S. 122). Und es ist für die Mehrheit seiner Bewohner eine traurige Geschichte; das wird schon klar, wenngleich Walsh die Geschichte aus der Perspektive der reichen Minderheit schreibt, dabei indirekt stets die Partei der einfachen Leute ergreifend. So muss man unweigerlich schmunzeln, wenn etwa der frisch gewählte Senator aus der Provinz nach La Plata fährt, um im Parlament ein Nickerchen und eine kleine Rede zu halten (S. 141). Mitunter wird nicht ganz klar, ob sich Walsh damit lediglich auf historische Entwicklungen bezieht. Schließlich halten Senatoren auch heute noch ihre Nickerchen im Parlament – und wie damals spielen in der Politik Kontakte zur Wirtschaft eine entscheidende Rolle.
So springt der Leser von Kurzgeschichte zu Kurzgeschichte durch das Buch. Wüsste man nicht, dass es sich bei dem Band um eine Sammlung von Erzählungen handelte, könnte man es für eine Rayuela halten: Man hüpft stets zwischen den Orten, Zeiten, Formen, Personen hin und her. Doch die Handlung schreitet stets voran. Nach 286 Seiten fragt man sich überrascht: Was, das war es schon?
Das Interesse an Argentinien, seiner Geschichte, an anderen Werken von Rodolfo Walsh wurde mit dem Buch gründlich geweckt. Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass „Ein schwarzer Tag für die Gerechtigkeit“ für all diejenigen wärmstens empfohlen werden kann, die sich für diese drei Schlagwörter (wie das im Buchladenrepertoire immer heißt) interessieren.
Wenn mir ein Satz aus dem Buch für lange Zeit haften blieb, so war es der Aufschrei der Resignation, das Klagen über die fortbestehende Unterdrückung: „dass das Volk allein war.“ (S. 279) Das ist Walsh. Das ist Argentinien. Das ist seine Geschichte.
Ein Lob gebührt an dieser Stelle dem Übersetzer Lutz Kliche, denn die Geschichten sind nicht nur stilistisch schön zu lesen. Ihm ist es auch gelungen, pointierte Wendungen treffend ins Deutsche zu übersetzen. In dem Zusammenhang sei erwähnt, dass die deutsche Übersetzung wohl erst durch die Förderung durch das argentinische Ministerium für Handel und Kultur möglich wurde, als Argentinien 2010 im Zentrum der Frankfurter Buchmesse stand. Bleibt zu hoffen, dass diese Aufmerksamkeit kein Strohfeuer bleibt, sondern die argentinische Literatur in Deutschland wieder einen Rang einnimmt, der ihr gebührt.
Rodolfo Walsh
Ein schwarzer Tag für die Gerechtigkeit
Stockmann Verlag, 2010
Freue mich, dass dieser so wichtige argentinische Erzähler, der viel zu früh der Repression zum Opfer viel, von Euch per Rezension gewürdigt wird, besonders auch deshalb, weil kleine Verlage wie der Stockmann Verlag, die eine unschätzbar verdienstvolle Arbeit leisten, meist nicht die Power haben, sich in den Redaktionen der großen Medien Gehör zu verschaffen.
Und der Übersetzer freut sich über das Lob, unsere Arbeit wird ja meist gar nicht wahr genommen …