Zwischen tíos und Dios. Kinder als Minenarbeiter in Potosí
Basilio ist 14. Und er hat Träume: Er möchte Lehrer werden, Städte kennen lernen, nach Europa reisen, eine Familie weit weg von Bolivien haben. Doch vor allem will er eines – raus aus dem Berg, der Menschen frisst. Denn er ist einer der „Devil’s Miner“, einer derjenigen, die im Cerro Rico in Potosí eine Silberader und ihr Glück suchen. Er ist einer von schätzungsweise 800 Kindern, die unter Tage ihre Kindheit verlieren. Er ist vielleicht einer von denen, die den Berg bis zu ihrem Tode nie verlassen werden.
Wer die knapp eineinhalbstündige Reportage „The Devil’s Miner“ gesehen hat, ist erschüttert, wie selbstverständlich Kinder als Bergleute arbeiten, ja arbeiten müssen, um ihre Familie mit zu ernähren. Wie Basilio geht es vielen. Sein Vater starb, als er noch ein Kleinkind war. Seit nunmehr vier Jahren fährt er regelmäßig in den Berg ein. In der La Cumbre-Mine begleitet ihn sein Bruder Bernardino, 12. Das Gestein gibt hier aber nicht viel her. Für eine 12-Stunden-Schicht erhalten sie deshalb weniger als 2,50 US-$. Alles ist Handarbeit – vom Bohrloch für das Dynamit bis zum Transport des Gesteins nach draußen.
Als Basilio in die Schule muss, weil seine secundaria beginnt, wechselt er in die Rosario Mine. Dort gibt es 1,50 US-$ mehr. Die Mine ist größer. Sie wird weitgehend mechanisch betrieben. Und sie ist die Hölle. Es gibt Arsen an den Wänden, giftige oder matte Wetter, einen ohrenbetäubenden Lärm der Pressluftschläuche, rasant umhergeschobene Loren, alles bei 35 bis 40 Grad und einer extrem hohen Luftfeuchtigkeit. Die Stollen sind schlecht gesichert. Undurchdringlicher Staub macht das Atmen schwer. Diese lebensfeindliche Umwelt ist der Arbeitsplatz von Basilio und seinen Kollegen. Deshalb sagt er, er möchte nicht mehr im Bergwerk leben und viel in der Schule lernen. Dafür bräuchte er aber das Geld, das er derzeit als Minenarbeiter verdient. Ein Teufelskreis.
Er weiß, dass das Arbeiten im Berg gefährlich ist. Überall gibt es Löcher, einstürzende Gänge, unangekündigte Explosionen. Ständig muss er aufpassen, nicht von einer Lore zermalmt zu werden. Deshalb hält er sich streng an das wichtigste Gesetz unter Tage: Besänftige stets den tío. Dieser tío ist nicht Gott, auch wenn die linguistischen Wurzeln beim Spanischen Dios liegen, das die quechua-sprachige Bevölkerung zu Zeiten der spanischen Eroberung nicht korrekt aussprechen konnte. Dieser tío ist der Diablo höchst persönlich, wenngleich es in jedem Stollen einen gibt. Und Basilio gibt sein Wissen an seinen zwei Jahre jüngeren Bruder weiter: „Nur wenn der tío Opfergaben wie Cocablätter, Zigaretten oder Alkohol erhält, wird er dich nicht bestrafen. Sonst frisst er die Minenarbeiter. Aber du brauchst keine Angst haben, wenn du an ihn glaubst und immer Opfergaben bringst.“
Die Katholische Kirche ist von diesem Glauben allerdings gar nicht begeistert. Doch erkennt selbst der Pfarrer von Potosí, dass er nichts dagegen unternehmen kann. Die Menschen hätten einfach nur Angst. Sie beten deshalb doppelt. Draußen bekreuzigen sie sich vor Gott. Aber Gott erreicht ihrer Meinung nach nicht die Minen. Dort herrscht der Teufel, der tío. Also beten sie auch zu ihm.
Alles Beten und alle Opfergaben an den tío, darunter manchmal auch ein Lama, ändern nichts daran, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Bergleute unter 40 Jahren liegt. Basilio erzählt, wie die Silikosis, die Staublunge, viele Minenarbeiter im Alter von 35 oder 40 dahinrafft. Davor hat er Angst. Deshalb will er weg von den Minen – und mit ihm all die anderen Kinder im Berg.
Richard Ladkani und Kief Davidson ist mit „The Devil’s Miner“ eine simple, aber auf ihre Art erschreckende Dokumentation gelungen. Sehr schöne Bilder kontrastieren die Hölle im Berg. Sie hat zu recht bereits zwölf Preise gewonnen, denn sie führt einer (breiten) Öffentlichkeit vor Augen, was in Potosí Alltag ist. Und sie hat erreicht, dass man versucht, diesen Alltag für die Kinder wieder zu ändern. Die Kindernothilfe hat beispielsweise ein Programm gestartet, um in den nächsten sechs Jahren 450 Kinder aus dem Berg zu holen.
Abstriche gibt es einmal mehr bei der deutschen Synchronisation, besonders dann, wenn Basilio von indígenas spricht, und die deutsche Stimme aus dem Off stets und ständig mit Indios übersetzt.
The Devil´s Miner
Film von Richard Ladkani und Kief Davidson, 2005.
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Meine persönlichen Erfahrungen mit dem Cerro Rico kreisen um den Silvesterstag 2002. Als Ergänzung deshalb in Auszügen mein Tagebuch-Eintrag vom 31.12.2002 und ein paar Fotos:
„[…] Potosí war eine von acht Münzprägestätten in Mittel- und Südamerika, wo im größten gemeinsamen Währungsraum bis zu den Unabhängigkeitskriegen spanische Peseten gefertigt wurden. Das war […] interessant, irgendwann aber bei immer neuen Silbertellern, Handfeuerwaffen, Erzen und Schmelzpfannen zu viel Theorie. Ich wollte die Praxis kennenlernen. Also marschierte ich in ein Reisebüro, klärte die Formalitäten (im Schadensfall tragen wir keine Verantwortung), […] und auf ging’s in den Cerro Rico.
Ich war der einzige Tourist, was zunächst einiges Verhandlungsgeschick bedurfte, um überhaupt loszukommen. Doch dann konnte ich mich nach Herzenslust in den Stollen austoben. 350 Meter liefen wir (Juan, der Führer, und ich) in den Berg hinein, genau in dessen Herz. Und jetzt verstand ich, warum ich die Erklärung unterschreiben musste. Der Stollen war schlecht gesichert, teilweise knöcheltief unter Wasser, nicht entlüftet und ständig einsturzgefährdet. Als wären das der Gefahren noch nicht genug, klebten überall an den Wänden Arsen- und Asbestkügelchen, die natürlich auch als Staub durch die Luft wirbelten und mit dafür verantwortlich sind, dass es die mineros hier mit etwa 40 Jahren dahinrafft. Das variiert nur dahingehend, wann sie im Berg anfangen, nach all den Mineralien zu suchen.
Von den 6000 Bergarbeitern sind immerhin 1000 zwischen 8 und 16 Jahren alt. Ein Fakt, den alle hier kennen, der aber niemanden interessiert. Dann kletterte ich über schwindelerregende, rutschige Seitenstollen in die kleine Kammer eines mineros, der dort gerade eine Sprengladung vorbereitete. Sein Vater sei auch Kumpel gewesen. Logisch, dass er die Familientradition hochhält. Er erzählte noch mehr aus seinem tristen Leben, das vom Berg und Alkohol bestimmt wird. Dann hustete er sich die Lunge aus dem Leib und bat mich, schnell das Weite zu suchen. Kaum war ich außer Sicht, zündete er die Zündschnur. Ihm blieben 30 Sekunden, um aus der Gefahrenzone zu gelangen – er schaffte es auch dieses Mal. Es machte bummmm, und wieder gibt es 200 kg mehr Erzschrott, der aus dem Berg geschafft werden muss.
Man möchte es nicht glauben: Aber von 1570 bis heute sind schätzungsweise 46.000 Tonnen Gestein aus dem Berg geholt worden. Und täglich kommen etwa 30 Tonnen hinzu. Der Cerro Rico ist ein völlig zerlöcherter Schweizer Käse.
Schockierend waren aber eben jene Zustände im Berg für mich. Bis zum dritten Niveau krabbelte ich hinab, sah sogar eine Silberader. Keuchend ging es bei 35 Grad auf immer noch 4300 Metern Höhe (das gilt auch unter Tage) wieder hinauf zum ersten Stollen, wo ich in Ansätzen verstand, warum die Bergarbeiter die Schufterei hier nur mit Coca-Blätter-Kauen und in ihrer Freizeit mit der betäubenden Wirkung des Alkohols aushalten. Reich wird hier niemand. Gerade mal 600 Bolivianos (80 Dollar) beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen. Und die Hoffnung, doch noch eine Reichtum verheißende Silberader zu finden, haben die meisten auch bald aufgegeben. So vegetieren sie dahin, bis die Silikosis ihren Tribut fordert. […]“
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, ssc