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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Annäherung an Fidel und zwei Revolutionen

Aníbal Ramírez | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

1.

Die Zeit ist eine Zerstörungsmaschine. In ihr vergehen die Menschen und die Geschichte.

1978 war ich in den Bergen Nicaraguas stationiert, in Quilambe, unmittelbar nachdem ich den Aufstand in Estelí erlebt hatte. Es war gut, Radio „Habana Libre“ zu hören. Über diesen Sender konnten wir uns wenigstens über die politische und militärische Lage in Nikaragua informieren. Natürlich hörten wir uns auch die Reden des Mannes an, der für uns damals die Stimme und das Gewissen Amerikas repräsentierte – Fidel Castro.

Für Fidel begann ich mich über die ideologische Arbeit der sandinistischen Front (F.S.L.N.) und ihrer Mitglieder zu interessieren. Als die F.S.L.N. 1961 gegründet wurde, geschah das zweifellos als Reaktion auf die kubanische Revolution und mit der bedingungslosen Unterstützung Fidels. Er hatte entscheidenden Einfluß auf die Begründer und wichtigsten Führer der F.S.L.N.

1980 hatte ich in Nikaragua zum ersten Mal die Gelegenheit, Fidel zu sehen. Er sah alt aus. Die Jahre seit 1959, als er gegen den Diktator Fulgencio Batista gesiegt hatte, waren in seinem Gesicht zu sehen. Damals hatten ihn die Fotos als jungen und gutaussehenden Mann gezeigt, als Fernsehstar. Fidel hielt eine Rede zum ersten Jahrestag der sandinistischen Revolution auf dem „Platz des 19. Juli“. Dieser Platz war von der F.S.L.N. speziell für diesen Anlaß angelegt worden und hatte einige Millionen Cordobas gekostet und die scharfe Kritik der nicaraguanischen Opposition hervorgerufen, da das Geld für den Bau des Platzes nicht aus den Taschen der Sandinisten, sondern aus der Staatskasse stammte.

Es war das erste Mal, daß Fidel Castro nach Nikaragua kam. Tausende, die an jenem Tag auf dem „Platz des 19. Juli“ versammelt waren, bekundeten ihre Hochachtung dem Revolutionär, der eine Legende war, ein Mythos und, warum nicht, ein Idol. Vermutlich hat sich Fidel an jenem feierlichen Tag der Sandinisten sehr wohlgefühlt. Er hatte beide Somozas überlebt und genoß nun die Ovationen der Menge auf dem „Platz des 19. Juli“. Die Somozas waren uneingeschränkte Verbündete der nordamerikanischen Regierungen gewesen. Auf dem Territorium Nikaraguas wurden währen der Amtszeit Luis Somoza Debayles kubanische Exilanten ausgebildet, die im April 1961 von Puerto Cabezas ablegten und später in der Schweinebucht geschlagen wurden.

2.

Einen Teil meiner Schulzeit verbrachte ich in einer protestantischen Schule, dem Baptistischen Kolleg (Colegio Bautista). In der 4. Klasse, das war 1968, lernte ich dort ein kubanisches Mädchen kennen. Sie war ungefähr zehn. Ihre Familie war im selben Jahr aus Kuba geflohen und hatte in Nicaragua Zuflucht gefunden. Zu dieser Zeit wohnten sie gerade im Hauptsitz der baptistischen Gemeinde in Nicaragua.

Ein paar Mal begleitete ich sie dorthin, da das Haus auf meinem Weg nach Hause lag. Einmal erzählte sie von ihrem Land und von Havanna, wo sie und ihre Familie bis vor kurzem gewohnt hatten. Havanna, so sagte sie, sei eine wunderschöne Stadt, mit breiten Straßen und Alleen und einem köstlichen Seewind. Sie erzählte, sie habe eine Großmutter in Havanna, die 62 Jahre alt sei und nach der sie große Sehnsucht hätte. Die Großmutter war in Havanna geblieben und hatte als einzige Gesellschaft ein kleines Hündchen. Sie hatte nicht mitkommen wollen, weil sie ihr Haus nicht verlassen mochte und außerdem daran gewohnt war, jeden Sonntag das Grab ihres verstorbenen Mannes zu besuchen, und das wollte sie nicht aufgeben. Das Mädchen sprach auch über ihre Schule, wo sie viele Freunde und Freundinnen hatte, mit denen sie viele schöne Stunden verbrachte. Ich wagte zu fragen, warum sie nach Nicaragua gekommen und ihre Heimat verlassen hatten. Ihre Antwort kam sehr entschieden. Man darf nicht vergessen, daß sie ein Kind war und das, was sie sagte, die Quintessenz all dessen darstellte, was sie von den Erwachsenen gehört hatte. Ich hörte sie sagen, daß in ihrem Land ein schrecklicher Mann regierte, der sehr grausam war und die Leute nicht gut behandelte, ein Mann, der den Leuten, die Geld hatten, alles wegnahm, und der ihnen auch ihre Kinder raubte und mit ihnen machte, was er wollte. Noch am selben Abend fragte ich meinen Großvater: „Wer ist dieser Mann, dieser Fidel?“ Mein Großvater, der sehr traditionell dachte und zu den Konservativen neigte, zögerte nicht, über Fidel zu reden, und bezeichnete ihn als Tyrann, der die Insel Kuba in ein großes Gefängnis verwandelt habe, der keine abweichenden politischen Meinungen dulde und der jene, die ihre konträren Ansichten äußerten, ins Gefängnis warf oder gleich an die Wand stellte. Als Beispiel berichtete er mir von den Ereignissen in Havanna nach dem Sieg der „Bärtigen“, wie man die Guerilleros der Bewegung des 26. Juli gewöhnlich nannte. Ihm zufolge, und er beriet sich auf die Nachrichten aus „La Prensa“ (einer nicaraguanischen Zeitung der konservativen Oligarchie), hatte man damals tausende Soldaten des Batista-Regimes erschossen, und andere tausende waren verhaftet worden.

Jahre später, 1984 und 1988, hatte ich Gelegenheit, selbst nach Havanna zu fliegen und die Stadt kennenzulernen, durch ihre Straßen zu spazieren und am kubanischen Alltag teilzunehmen. Ich fand bestätigt, was meine damalige Freundin, die kleine Kubanerin, erzählt hatte. Die Stadt ist wirklich wunderbar, vor allem das alte Havanna. Sie hat ein erfrischendes Seeklima, und man spürt die Nostalgie vergangener Jahrhunderte und vergangener Geschichte. Natürlich nahm Fidel den Eltern nicht ihre Kinder weg, und die Mehrheit der Kubaner, mit denen ich sprach, hatte große Achtung vor ihm, obwohl die Lage nicht gerade rosig war.

3.

Fidel Castro ist immer ein großartiger Redner gewesen. Nicht umsonst las er eifrig die griechischen Klassiker und die großen Rhetoriker des Alten Rom, wie man in Frei Betos Buch „Nachtgespräche mit Fidel“ nachlesen kann. Das Buch war ein Bestseller auf Kuba, vor allem, weil Fidel in einem der Interviews zum ersten Mal über seine Kindheit und Jugend gesprochen hatte.

Mich hat dieses Buch sehr interessiert, weil ich darin einen anderen Fidel kennenlernte, einen Menschen aus Fleisch und Blut und kein Götzenbild. Die Führer der verschwundenen kommunistischen und sozialistischen Parteien waren mir immer sehr unpersönlich erschienen, weil man nie etwas über ihr Leben erfuhr. Lenin zum Beispiel: in den Biographien und Büchern über ihn, die im ehemaligen sozialistischen Lager erschienen, wurde er fast als Gott dargestellt, als Mensch ohne persönliche Geschichte, als genialer Student, Revolutionär und Mann der Nadeshda Krupskaja; man erfuhr jedoch nichts über seine Interessen, seine Vorlieben und seine Schwächen. Nirgends war zu lesen, daß ihn einige sehr bürgerliche Vergnügungen faszinierten und daß er eine leidenschaftliche und ausgedehnte Affäre mit einer schönen Aristokratin hatte, während er mit der Krupskaja verheiratet war. Wenigstens das Buch seines Zeitgenossen und Kampfgefährten Trotzki „Der junge Lenin“ gibt ein persönlicheres Bild von ihm.

Ich habe immer aufmerksam die Reden und Interviews Fidels im Fernsehen oder in Zeitungen und Büchern verfolgt. Ihn auf einer Tribüne reden zu sehen, ist ein Schauspiel – ein Schauspiel, das man beim ersten Mal genießt, dessen man aber nach der x-ten Wiederholung überdrüssig wird. Fidel ist ein Redner mit Charisma, der seine Rolle zu spielen weiß. Er vermag es, die Leute anzuziehen. Wenn ich „Leute“ sage, so enthalte ich mich absichtlich des Wortes „Masse“, das von einigen politischen Gruppierungen in Nicaragua unablässig gebraucht wurde. Erst nachdem ich unzählige Fidel-Reden gelesen hatte, stellte ich endlich fest, daß es in diesen Reden von Wiederholungen wimmelt, daß Fidel häufig vergißt, daß seine Zuhörer denkende Wesen sind – und das besonders, wenn er zu den Kubanern spricht. Seine rhetorische Eindringlichkeit im Bemühen, zu erklären und hervorzuheben, läßt seine Reden ermüdend und uninspiriert werden. Dazu kommt noch, daß er sich mitunter über Themen verbreitet, die er besser kompetenten Fachleuten überließe.

Das bisher gesagte bedeutet nicht, daß Fidel nicht auch erinnerungswürdige und mitreißende Reden gehalten hätte, wie zum Beispiel jene, die Anlaß zu seinem Buch „La historia me absolvera“ (Die Geschichte wird mich freisprechen.) war.

4.

Anfang der 80er Jahre spielten sich in Kuba die Ereignisse von Mariel (Hafen an der kubanischen Küste) ab. Fidel hatte allen, die es wünschten, die Ausreise angeboten; eine spontane und wenig überlegte Offerte in Reaktion auf das Verhalten einiger Kubaner, die in die peruanische Botschaft eingedrungen waren und dort politisches Asyl forderten. Ich glaube, Fidel hat nie damit gerechnet, daß daraufhin viele Tausende Kubaner die Gelegenheit ergreifen und die Insel verlassen würden. Mehr als hunderttausend Menschen gelang es, sich einzuschiffen. Wenn Fidel die Grenzen nicht wieder geschlossen hätte, wäre es vielleicht eine Million gewesen. Die Flucht war dramatisch, denn die USA waren nicht willens, alle Flüchtlinge aufzunehmen, und andere lateinamerikanische Länder, in die ein Teil der Kubaner gebracht wurde, konnten sie nicht mit dem Nötigsten versorgen.

Jahre später, 1991, las ich in der Bibliotek der Katholischen Universität Leuven eine Literaturzeitschrift und fand dort die Nachricht vom Tod eines der besten kubanischen Exilschriftsteller, Reinaldo Arenas. Er hatte sich im Jahr zuvor umgebracht, weil er den Selbstmord einem langsamen, aber sicheren Tod durch Aids vorzog. Reinaldo Arenas war in der literarischen Welt durch seinen ausgezeichneten Roman „El mundo alucinante“ bekanntgeworden. Er war einer der über Hunderttausend gewesen, die Kuba verlassen hatten. In seiner Autobiografie „Bevor es Nacht wird“, die postum erschien, macht er Fidel für sein Unglück verantwortlich.

Reinaldo Arenas war homosexuell, und das brachte ihm in Kuba schwere soziale Diskriminierung und eine Gefängnisstrafe ein. Man verurteilte ihn unter der Anschuldigung, Minderjährige verführt zu haben. Dieses Urteil erinnerte mich an die Tragödie des Iren Oscar Wilde im viktorianischen England Ende des 19. Jahrhunderts. Auch Wilde mußte wegen Homosexualität ins Gefängnis. Die Anklage, aufgrund derer er zwei Jahre in einer Zelle in Reding verbrachte, lautete auf sexuelle Perversion – so bezeichnete man seine Liebesbeziehung zum jungen Lord Alfred Douglas.

Auf dem Gipfel des Dramas von Mariel rief die KP Kubas zu einer Protestdemonstration auf gegen jene, die das Land verließen, und zur Stärkung der Partei und ihres großen Führers. An jenem Tag las der Nationaldichter Nicolás Guillén ein seitenlanges Gedicht vor, und Fidel hielt eine kilometerlange Rede. Es stimmt, daß an dieser Demonstration mehr als eine Million Kubaner teilnahm; dennoch ergaben sich für mich Fragen: Wieso verließen über 100 000 Kubaner die Insel, nicht gezählt diejenigen, welchen es nicht mehr gelang zu fliehen? Nicht alle, die weggingen, waren Lumpen oder Kriminelle; die internationale Berichterstattung zeigte Gesichter aus dem kubanischen Proletariat und solche von kubanischen Intellektuellen und Angestellten. Sie waren nicht alle „gusanos“ (Würmer), wie sie in Kuba genannt wurden und noch heute genannt werden. Und die wichtigste Frage: Ist Kuba ein Unterdrückungsstaat, dessen Bürger lieber fliehen als unter dem sozialistischen Regime weiterzuleben, obwohl sie in Kuba eine gewisse Sicherheit und soziale Garantien haben, an die in anderen lateinamerikanischen Ländern und selbst in einigen Bundesstaaten der USA nicht zu denken ist?

Ich weiß nicht, wie es ist, ein Exilant zu sein – ich bin es nie gewesen. Aber ich weiß, daß es nicht leicht ist, liebe Freunde oder die Familie nicht sehen zu dürfen. Ich habe einige Exilanten aus verschiedenen Ländern kennengelernt und von ihnen weiß ich, daß es besonders hart ist, ein politischer Asylant zu sein, denn eine Sache ist es, sein Land mit der Hoffnung zu verlassen, woanders besser leben zu können, immer aber mit der Möglichkeit der Rückkehr, und etwas anderes, die Heimat aus politischen Gründen verlassen zu müssen, lediglich mit der Hoffnung auf einen Sturz des feindlichen Regimes, und nach Hause zurückkehren zu können.

In den 10 Jahren der sandinistischen Herrschaft in Nicaragua gingen Tausende ins Ausland. Nicaragua hat etwa 3,4 Mio Einwohner und eine Fläche von 139 700 km2. 1984 zählte man etwa 44 000 Emigranten; 1989 belief die Zahl nach einer Schätzung auf 200 000. Der Strom von Auswanderern, der sich von Nicaragua aus in andere Länder ergoß, vor allem in die USA, Costa Rica und Honduras, hatte seine Ursache in der politischen und vor allem der wirtschaftlichen Situation des Landes. Man muß dazu sagen, daß dieses Auswanderungsproblem nicht allein ein Problem Nicaraguas ist; es war und ist typisch für das gesamte Gebiet Mittelamerikas, wiewohl Nicaragua besonders damit zu kämpfen hat. Aus heutiger Sicht waren die Maßnahmen der Sandinisten zur Sanierung der Wirtschaft verfehlt und haben den unaufhaltsamen ökonomischen Ruin des Landes noch beschleunigt. Dazu gesellten sich der Preisverfall der Agrarprodukte auf dem Weltmarkt, der Bürgerkrieg im Land, der die Landwirtschaft in einigen Regionen lahmlegte und nicht zuletzt der Wirtschaftsboykott der USA. Nicaragua ist das zweitärmste Land in Lateinamerika nach Haiti. Was auch immer die Ursachen für die Wirtschaftskatastrophe sind, Nicaragua wird viele Jahre brauchen, um sich zu erholen und wenigstens das Produktions- und Lebensniveau von 1979 zu erreichen. Gewiß ist, daß die Emigration vieler Nicaraguaner Familienstrukturen in großem Umfang zerstört hat und auf diese Weise eine Deformation der Sozialstruktur einleitete. Man muß annehmen, daß in Kuba eine solche Deformation, begründet in der Auswanderung tausender Kubaner in den 34 Jahren der Regierung von Fidel Castro, erhebliche Auswirkungen haben wird.

5.

Kuba unter der Regierung Fidels hat sich immer sehr solidarisch mit anderen armen Ländern gezeigt, wenn auch die kubanischen Truppen in Äthiopien und Angola nichts zu suchen hatten.

Wenn es Naturkatastrophen in Lateinamerika oder auch in anderen Ländern gab, hat Kuba immer nach Möglichkeit geholfen, und sei es mit Hilfgütern oder mit Personal.

In den Jahren der sandinistischen Regierung war es Nikaraguas treuer Verbündeter in seinen Erfolgen und Mißerfolgen. Immer waren die Kubaner dabei. Sie beteiligten sich an der Alphabetisierungkampagne von 1980 und an der nachfolgenden Grundschulausbildung der Erwachsenen, wobei einige von ihnen von den Rebellen der Contra ermordet wurden. Sie lehrten in den Schulen und an den Universitäten, und sie bildeten die Soldaten in der sandinistischen Armee aus.

Wegen des Devisenmangels standen in den Regalen der spärlich über das Land verteilten Buchläden vorwiegend kubanische Ausgaben, denn die solidarischen kubanischen Verlage handelten weiterhin mit Nicaragua.

Hunderte kubanischer Ärzte arbeiteten in den Krankenhäusern und Polikliniken, in den Städten und auf dem Land, und 1988, als die Situation in Nicaragua sehr schwierig wurde und das nicaraguanische Gesundheitssystem die Versorgung der Kriegsverletzten und die Behandlung der Krebskranken und anderer schwerer Fälle nicht mehr gewährleisten konnte, wurden die Patienten nach Kuba gebracht und dort versorgt. Die Zahl der nicaraguanischen Schüler und Studenten, die an kubanischen Schulen und Universitäten lernten und studierten, geht in die Tausende.

Wenn man freilich den kubanischen Alltag in Havanna betrachtete, fragte man sich schon, wie es möglich war, daß Kuba eine derart umfangreiche Hilfe leisten konnte, war doch die eigene ökonomische Lage keineswegs verheißungsvoll. Und das konnte man nicht mir nur aus den oppositionellen Zeitungen erfahren, sondern man sah es täglich auf den Straßen Havannas. Als ich in Havanna war, sah ich, wie die Habaneros mit einem Lohn auskommen mußten, der nicht für das Nötigste ausreichte, und daß sie, wie man im Spanischen sagt „hacían de tripas corazón“ (etwa: aus der Not eine Tugend machen). Natürlich verhungerte niemand und es gab keine Unterernährung, aber der Mangel an Lebensmitteln war nicht zu übersehen, ganz zu schweigen von Bekleidung und Schuhen.

Die Prostitution, die ausgemerzt zu haben die kubanische Regierung sich rühmte, blühte in einem erschreckenden Maß, vor allem unter der Jugend. Ihre Dienste wurden von vielen Ausländern in Anspruch genommen. Ungeachtet dieser Mißstände waren das Bildungssystem (wenn auch extrem ideologisiert) und das Gesundheitssystem sehr gut; vor allem das Bildungssystem übertraf in mehrfacher Hinsicht das der meisten anderen Länder Lateinamerikas und sogar einiger Industriestaaten mit wesentlich besser Wirtschaftslage.

6.

Viele junge Leute meiner Generation in Nicaragua, mich eingeschlossen, beteiligten sich an der Revolution voller Begeisterung und mit der Hoffnung, eine neue Gesellschaft mit einer demokratischen Zukunft aufzubauen. Dieser Enthusiasmus hinderte uns daran, rechtzeitig die Deformationen der Revolution zu sehen und ihre Fehler unsentimental und mit kritischen Augen zu betrachten.

Vielleicht lag es daran, daß die Somozas 43 Jahre lang das Land regiert hatten und daß der dritte von ihnen, „Tacho“ Somoza, besonders grausam gewesen war. In den letzten Jahren seiner Tyrannei war das Leben eines jungen Menschen keinen Centavo wert. Die Revolution verhieß Demokratie, und wir jungen Leute glaubten damals an diese Demokratie, eine Demokratie des Volkes, gegründet auf den demokratischen Zentralismus, einen demokratischen Zentralismus in den Händen jener neun an der Spitze, den Mitgliedern der Nationalleitung. Sie waren die Idole, die Caudillos neuen Typs. Einmal wurde ich während einer Diskussion von einem Funktionär der Sandinistischen Jugend scharf zurechtgewiesen, weil ich den Namen Daniel Ortegas ohne die Titel genannt hatte, die sich davor angesammelt hatten. Diese Unterlassung galt als Mangel an Respekt gegenüber einem Führer der Revolution.

Der vollständige Titel lautete Kommandant der Revolution Daniel Ortega oder Präsident der Republik und Kommandant der Revolution Daniel Ortega. Eine entsprechende Anweisung war dem Funktionär zufolge von der Sandinistischen Versammlung (vergleichbar einem Zentralkomitee) ergangen. Ich erinnerte mich gut an die Zeit, als „Tacho“ Somoza, jedesmal wenn er im Fernsehen sprach, mit all seinen Titeln angekündigt wurde: seine Exzellenz Präsident der Republik und Oberbefehlshaber der Armee Anastasio Somoza Debayle.

Letztendlich war die Demokratie der sandinistischen Ära die Demokratie der F.S.L.N. Der Fanatismus wurde zum Alltagsgebaren der Regierung.

In den ersten Jahren der Revolution war ich blind dafür und unfähig, meine Verirrung zu erkennen. Die Erkenntnis kam spät und dauerte lange. Die Realität zu begreifen und die Heuchelei und Lüge der Revolution zu durchschauen, war nicht einfach, vor allem angesichts der negativen Rolle, die die Regierung der USA in der republikanischen Geschichte Nicaraguas gespielt hatten und die häufig von Militärinterventionen begleitet waren. Die amerikanische Regierung hatte „Tacho“ Somoza immer unterstützt. Die sozialen Unruhen, die in Nicaragua zur sandinistischen Revolution führten, wurden weder von Kuba noch von der Sowjetunion inszeniert; sie waren vielmehr ein Ergebnis der realen Verhältnisse von Gewalt und Elend, denen „Tacho“ Somoza die Nicaraguaner unterwarf.

Der mexikanische Dichter und Essayist Octavio Paz, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1990, hat sich immer durch klarsichtige persönliche Einschätzungen des politischen Geschehens in Lateinamerika ausgezeichnet. In seinem Buch, ‚Tiempo nublado“ spricht er über die kubanische Revolution: „Die unselige Involution der Herrschaft Castros war das Resultat eines Zusammentreffens mehrerer Umstände: der Persönlichkeit Fidel Castros selbst, der ein typischer lateinamerikanischer Caudillo in der spanisch – arabischen Tradition ist; der totalitären Struktur der kubanischen Partei, die als politisches Instrument zur Durchsetzung des sowjetischen bürokratischen Herrschaftsmodells diente; der Unsensibilität und starrsinnigen Arroganz Washingtons, vor allem während der ersten Phasen der kubanische Revolution, bevor die Revolution von der kommunistischen Bürokratie erstickt wurde; und schließlich, wie in den anderen Länder Lateinamerikas, der Mangelhaftigkeit unserer demokratischen Traditionen.“ Paz Einschätzung ist richtig. Leider haben die USA ihre Haltung gegenüber Kuba bis heute nicht geändert. Trotzdem hatte die kubanische Revolution immer die Unterstützung vieler lateinamerikanischer Intellektueller. Einige sind ihr treu geblieben, wie der kolumbianische Schriftsteller und Nobelpreisträger Gabriel Garcia Märquez. Andere, wie der Peruaner Mario Vargas Llosa, haben sich distanziert. Woher rührte die magische Anziehungskraft der kubanischen Revolution in manchen politischen Kreisen? Diese Revolution repräsentierte einmal die Hoffnung auf eine Demokratie, auf Unabhängigkeit und nationale Souveränität, auf die lateinamerikanische Einheit, den Antiimperialismus und die Möglichkeit der Realisierung eines kühnen Programms notwendiger sozialer Reformen. Einige dieser Elemente dienen den Verteidern Castros noch heute in ihrer Argumentation.

In Kuba hat immer die Demokratie einer Partei geherrscht, die von einem Zentralkomitee geleitet wurde und in der Fidel das erste und letzte Wort hatte.

Es ist wahr, daß Kuba sich von den USA befreit hat. Wahr ist freilich auch, daß es in eine tiefe Abhängigkeit von der Sowjetunion geriet, die anhielt, solange die UdSSR existierte. Heute haben die Russen unter der Regierung Boris Jelzins Kuba die Finanzhilfe gestrichen. Die Gründe liegen in ihrer eigenen Wirtschaftslage und in der veränderten Außenpolitik. Fidel bestätigt ein weiteres Mal die Geschichte der lateinamerikanischen Caudillos.

In Kuba ist nur ein Teil der sozialen Reformen verwirklicht worden, so im Bildungsbereich und im Gesundheitswesen, und angesicht der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ist es fraglich, ob diese Errungenschaften aufrechterhalten werden können. Es ist traurig mitanzusehen wie Fidel, der einmal eine Hoffnung verkörperte, heute hinter der historischen Entwicklung zurückbleibt. Es besteht kein Zweifel, daß Fidel ein ehrlicher Mensch geblieben ist; in den 34 Jahren seiner Herrschaft hat er sich nicht auf Kosten des Volkes bereichert, wie andere lateinamerikanische Caudillos und einige Mitglieder der Nationalleitung der F.S.L.N. in Nicaragua es taten. Die Geschichte ist grausam, sie schafft Helden und sie macht einige von ihnen gelegentlich zu Monstern. Die Gegenwart ist keine Phantasie, auch wenn das Buch des Kolumbianers „Der Herbst des Patriarchen“ eine Realität ist.

Übersetzung: G. Pisarz

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