Die US-amerikanische/brasilianische Sängerin Bebel Gilberto hat ein gefühlvoll intensives Tribut-Album für ihren Vater João Gilberto Prado Pereira de Oliveira (1931–2019), besser bekannt als João Gilberto, veröffentlicht. Bebel Gilberto, geboren als Isabel Buarque de Hollanda Gilberto de Oliveira (New York, 1966), schenkt dem Publikum nun ihr achtes Album als Bandleaderin – zusätzlich zu früheren Werken wie dem mit Pedrinho Rodrigues (Um certo Geraldo Pereira, 1983) und dem legendären Bassisten Luizão Maia und seiner Band Banzai (De tarde, vendo o mar, 1991).
Das Album João besteht aus elf Songs, die entweder von dem weltberühmten Bossa-Nova-Erfinder João Gilberto geschrieben wurden oder Stücke, die in seinen Interpretationen bekannt geworden sind. Seit ihrer Jugend hatte die Sängerin nie wieder Songs ihres Vaters gesungen, was erst nach dem Tod João Gilbertos im Jahr 2019 wieder geschah – als sich die Möglichkeit der vorliegenden Hommage langsam abzuzeichnen begann. Dabei deuten mindestens zwei Faktoren auf die Behutsamkeit hin, mit der sich Bebel dem Werk ihres Vaters genähert hat: zum einen die Tatsache, dass nur zwei der insgesamt elf ausgesuchten Stücke aus des Geehrten Feder stammen, und zum anderen, dass die Musikerin in beiden Fällen Werke von Gilberto ausgewählt hat, deren melodische Linien auf Summen beruhen. In diesem Sinne würde das „Fehlen“ von Text wohl eine gewisse Distanzierung erleichtern. Im Fall des ersten Titels, Undiú, weicht eine kurze Gitarreneinleitung der Gesangslinie. Hier setzt Bebel zuerst einen Kontrapunkt und anschließend auch kreative Variationen ein, die schließlich von leicht dissonanten Akkordeonakkorden überlagert werden. Das zweite Stück, der 1973 veröffentlichte Waltzer Valsa, ist eines der Werke, die in dieser Auswahl nicht fehlen dürften. Und zwar nicht nur, weil er ein sehr schöner Song ist, sondern auch, weil es sich dabei um ein Stück handelt, das Papa-João seiner damals sechsjährigen Tochter Bebel widmete. Dieses eher lebendige Stück liefert eine Kadenz für die begleitende Gitarre und die anschließende Perkussion, welche den Rhythmus allmählich komplexer macht.
João beginnt mit dem Titel Adeus América (Gerardo Jacques/Haroldo Barbosa), dessen Atmosphäre die Biografie von Vater und Tochter gut beschreibt, die einen großen Teil ihres Lebens in den USA verbrachten und irgendwann nach Brasilien gingen (oder zurückkehrten). Trotz einer gewissen Melancholie erweist sich dieses Stück als ein treffender Einstieg in das Album. Während Bebels Stimme zuerst zu hören ist, wird sie kurz darauf von einer intimen Gitarre begleitet, zu der sich im Refrain Klavierakkorde addieren. Ab der dritten Strophe überlässt man es dem Klavier, Variationen beizusteuern. Danach fügen andere Instrumente neue rhythmische und harmonische Schichten hinzu, die dem Werk Komplexität verleihen – ohne jedoch die anfängliche Intimität zu verlieren.
Dem Einstieg ins Album folgen verschiedene Stücke mit eher beschwingtem Charakter, wie Eu vim da Bahia (Gilberto Gil), É preciso perdoar (Alcyvando Luz/Carlos Coqueijo), O pato (Jaime Silva/Neuza Teixeira), Valsa (Joâo Gilberto) und Você e eu (Carlos Eduardo Lyra/Vinicius de Moraes). Während die erwähnten Songs zeigen, wie gut sich Gilberto in flotten Rhythmen entfalten kann, so beweist die Sängerin die gleiche Fähigkeit auch bei eher langsameren Tempi. Das ist der Fall beim Bossa Ela e carioca (Antonio Carlos Jobim/Vinicius de Moraes), der Ballade Caminhos cruzados (Antonio Carlos Jobim/Newton Ferreira de Mendonça) und Eclipse, einer der Hits von Margarita Lecuona (1910–1981). Das Werk der kubanischen Komponistin, Gitarristin und Sängerin Lecuona, das ursprünglich unter dem Titel Eclipse de luna in den 1940er Jahren veröffentlicht wurde, ist ein Bolero, der auf diesem Album Joâo auf dem Klavier gespielt und teilweise von einer Querflöte begleitet wird. Wie bereits erwähnt, war auch dieses Stück Teil des Repertoires von João Gilberto, meist arrangiert für Gitarre und Gesang, das ursprünglich auf dem Album En México (1970) veröffentlicht wurde.
Selbst wenn Bebels Version Bläser und Streicher hinzufügt, erinnert sie an die Interpretation ihres Vaters – und zwar an die, welche er auf dem gefeierten Album João voz e violão (2000), vom Weggenossen Caetano Veloso produziert, aufnahm. Ein weiteres gutes Beispiel für Gilbertos Vielseitigkeit ist die Interpretation von keinem geringeren Titel als Desafinado, einem der bekanntesten Stücke des Bossa-Nova-Repertoires. Begleitet von einer warmen Gitarre und sanften Perkussionsklängen entfaltet sich Gilbertos Gesang nach wie vor ganz natürlich, mit ganzem Herzen und ausgezeichneter Phrasierung. Somit gelingt der Sängerin eine wunderschöne Version der von Antonio Carlos Jobim und Newton Ferreira de Mendonça geschriebenen Hymne, ohne sich zu wiederholen oder in Gemeinplätze zu verfallen – was wohl für João insgesamt gilt. Gegen Ende des Albums bietet der bereits erwähnte Bossa Você e eu einen idealen Rahmen, um im Carioca-Ton schwingend zu bleiben. Hier lässt sich sogar im Vokalsolo-Teil ein Zitat von Águas de março hören, einem von Jobim im Jahr 1972 veröffentlichten Titel, der mittlerweile zu einem Weltklassiker geworden ist. Hätte man erwartet, dass wie üblich der Schlussakkord fade-out nachklingt, so hört dieser im Gegenteil abrupt auf – wie das Leben geliebter Menschen.
João bildet weitgehend einen Wendepunkt in Bezug auf frühere Alben Bebel Gilbertos wie u. a. Agora (2020), All in one (2009) und vor allem das meistverkaufte brasilianische Album in der Geschichte der US-Charts, Tanto Tempo (2000), auf denen brasilianische traditionelle Rhythmen durch den Einsatz von elektrischen Saiteninstrumenten, Synthesizern, Samplern, Remixen usw. interpretiert werden. Nicht umsonst gilt Gilberto als die Mutter der sogenannten Bossa-Electronica. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass Frau Gilberto mit diesem Album ein doppeltes Wagnis eingegangen ist. Und zwar weil sie es vorzog, sich dem Bossa mit seinem ursprünglichen Klang der fünfziger und sechziger Jahre zu nähern und sich selbst dazu zwang, die Originalität durch die Gesangs- und Instrumentalarrangements zu belegen – ohne sie durch abstrakte Arrangements zu überfrachten. In diesem Sinne lässt sich feststellen, dass das Ergebnis keineswegs erzwungen wirkt. Neben den ausgezeichneten Gesangslinien sind auch Klavier- und Bläserarrangements sowie selbstverständlich die Gitarrenarrangements Guilherme Monteiros (u. a. Mitglied des Duduka Da Fonseca Quintetts, das 2012 das Album Samba Jazz – Jazz Samba veröffentlichte) hervorzuheben.
Hinter dieser Annäherung an die klanglichen Grundlagen des Bossa steckt der US-Produzent Thomas Bartlett. Bartlett, der auch Gilbertos voriges Album Agora produziert hat, kann auf eine mehr als beachtliche Laufbahn als Pianist, Produzent und Sänger zurückblicken. Bekanntlich hat er vier Soloalben unter dem Pseudonym Doveman veröffentlicht, vier Alben als Mitglied der Gruppe The Gloaming, Duo-Alben mit dem Komponisten Nico Muhly (Peter Pears: Balinese Ceremonial Music, 2018) und Caoimhín Ó Raghallaigh (Caoimhín Ó Raghallaigh and Thomas Bartlett, 2019) sowie Shelter, eine aus Solo-Klavierwerken bestehender Platte. Sein Werdegang als Produzent ist nicht weniger beachtlich, wenn man die bemerkenswerten Produktionsarbeiten der letzten Jahre betrachtet – u. a. Martha Wainwrights Goodnight City (2016), Yoko Onos Warzone (2018) und Norah Jones‘ Begin Again (2019). Als Instrumentalist wurde er auch von MusikerInnen wie u. a. David Byrne, Laurie Anderson, Yoko Ono, Antony and The Johnsons und Martha Wainwright engagiert.
Kurzum, bei João handelt sich um ein Album von großer Vitalität, das elf Songs aus dem Bossa-Repertoire vereint, die mit großer Sensibilität arrangiert und mit beneidenswerter Natürlichkeit und nicht weniger Virtuosität von Bebel Gilberto und den im Studio versammelten Musikern vorgetragen wurden. João ist nicht nur eine herzliche Hommage an eine der wichtigsten Figuren der brasilianischen Musik, sondern auch ein Album, das eine hervorragende Fähigkeit der brasilianischen Musikerinnen beweist, sich aus dem Leben inspirieren zu lassen – und die Erträge den Menschen zur Verfügung zu stellen.
Bebel Gilberto
Joâo
PIAS, 2023
Bildquelle: CoverScan