„Gibt es hier irgendwo Indianer?“ Diese Frage stellt Kommissar Otto Garber seiner jungen Kollegin Linett Wachow, als sie am Tatort eintreffen und einen Mann vorfinden, der durch einen Pfeil getötet worden war. Diese antwortet ihm lakonisch: „Das heißt heute indigenes Naturvolk.“ Die hier geschilderte Sequenz stammt aus der jüngsten Folge der beliebten Krimi-Reihe „Ein starkes Team“, die zum Nationalfeiertag der wieder vereinigten Deutschen zur besten Sendezeit (ZDF, 3.10.2020, 20:15 Uhr) ausgestrahlt wurde. Sie verweist auf einen Begriff, der mir und vielen anderen zwar seit früher Kindheit vertraut ist, nunmehr aber „out“ zu sein scheint: „Die Indianer“ – ein zum Aussterben verurteilter Begriff? Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Beitrag in einer Debatte, die inzwischen sogar besorgte Mütter und Väter erreicht hat. Viele von ihnen sind verunsichert und wissen nicht mehr, ob „Indianerbücher“ für ihre Kinder noch die politisch korrekte Lektüre darstellen. Mein Anliegen ist es, für mehr Klarheit in einer Diskussion zu sorgen, die sicher gut gemeint ist, mit ihrer Ablehnung von „Indianer“ aber übers Ziel hinaus schießt.
Das Problem: Indianer, Indios, Inuit – Was ist richtig?
Um die Dimension des „Indianer-Problems“ zu verdeutlichen, sei zunächst auf die Internet-Seite https://www.kidsweb.de/schule/kidsweb_spezial/indianer_spezial/inuit.htm (Abruf vom 5.10.2020) verwiesen, die Kindern und deren Eltern helfen soll, die „Ureinwohner Nord-, Mittel- und Südamerikas sowie der Arktis“ beim richtigen Namen zu nennen. Nicole Potthoff, die Autorin des kurzen Textes mit der Überschrift „Indianer, Indios, Inuit – Was ist richtig?“, listet eine Vielzahl von Begriffen auf, die dafür (nicht) in Frage kommen. Dabei geht es um die Frage, ob „unsere Vorstellungen auch richtig“ sind und „welche Völker als Indianer“ bezeichnet werden (sollen). Mit Verweis aufs Lexikon (welches?) finden wir dort „die Erklärung, dass dies der Oberbegriff für die Ureinwohner des amerikanischen Kontinents ist. Die Ureinwohner der Arktis, die Inuit, gehören allerdings nicht dazu.“ Allerdings müsse man zwischen den verschiedenen Teilen des Kontinents unterscheiden. Im Falle Südamerikas wäre die Verwendung von „Indio“ jedoch problematisch („erstes Fettnäpfchen“), weil es als Schimpfwort gilt. Als korrekte Bezeichnung wird „Indigena“ (Einheimische) empfohlen. Im weiteren Text geht es dann um die „Indianer Nordamerikas“, die „sich selbst als Native Americans oder Natives – die Ureinwohner“ bezeichnen. „Die kanadischen Indianer nennen sich First Nations und bringen damit zum Ausdruck, dass sie die ersten Menschen auf dem neuen Kontinent waren. … Interessanterweise zählen zu den Native Americans auch die Inuit und die Aleuten in Alaska und in der Arktis Nordkanadas. Der Begriff ‚Eskimo‘ fasst alle Ureinwohner der Arktis zusammen. … Viele Ureinwohner der Arktis empfinden das Wort ‚Eskimo‘ als Beleidigung und deshalb lautet seit 1977 die richtige Bezeichnung ‚Inuit‘. In der Sprache der Ureinwohner bedeutet dieses Wort ‚Menschen‘. Seit 1986 gibt es für alle Ureinwohner, Völker und Stämme eines Kontinents, die ihn als erste besiedelt haben, die Bezeichnung ‚indigene Völker‘. Zu ihnen gehören die Indianer Nord-, Mittel- und Südamerikas, die Inuit und Aleuten der Arktis, die Samen in Nordeuropa, die Maori in Neuseeland, die Aborigines in Australien, die Tibeter in Nepal, die Tuareg in Algerien, die Pygmäen in Afrika, und viele, viele andere Völker und Stämme dieser Erde.“ Die hier ausführlich zitierten Stellen bieten den großen Vorteil, dass hier alle wichtigen Begriffe zu finden sind, die in der Debatte über Indianer eine Rolle spielen. Zu ergänzen wäre noch der Begriff „American Indians“ für die Ureinwohner der USA (außer Alaska und Hawaii). Außerdem sollte noch erwähnt werden, dass die Angehörigen der verschiedenen indigenen Völker es im direkten Kontakt vorziehen, die Eigenbezeichnung ihrer Nation, ihrer Ethnie oder ihres Stammes zu verwenden. Die Beschreibung von kidsweb legt – im Unterschied zu den Worten von Kommissarin Wachow – nahe, dass es nach wie vor legitim ist, die Bezeichnung „Indianer“ zu verwenden. Je nach Situation, Zusammenhang oder Intention stehen aber auch andere Begriffe wie „Native American“, „Amerikan Indians“, „First Nations“, „Indigenas“, „indigene Völker“ oder der konkrete Eigenname zur Verfügung.
In einem Blog, in dem Kinderbücher empfohlen werden (Abruf vom 5.10.2020 unter: https://buuu.ch/allgemein/warum-wir-keine-indianerbucher-lesen/) ist unter der Überschrift „’Bei den Indianern‘, ‚Fliegender Stern‘, ‚Yakari‘ und Co.: Warum wir keine ‚Indianer’bücher lesen“ ein Beitrag vom 10. Februar 2018 zu finden, der von der Verwendung des Begriffs „Indianer“ abrät. Nach Meinung von Carla, der Autorin, handelt es sich bei dem Begriff „Indianer“ „in erster Linie um eine europäische Projektionsfläche und ein Fantasiekonstrukt“. Dabei verweist sie auf den Irrtum von Christoph Kolumbus, der glaubte, auf dem westlichen Seeweg bis nach Indien gelangt zu sein. Der Begriff „Indio“ (dt. Inder), der diese Auffassung bestätigen sollte, stammt jedoch von Kolumbus‘ Sohn Diego Colom, der damit der Behauptung seines Vaters mehr Glaubwürdigkeit verleihen wollte. In der englischen Übersetzung wurde daraus „Indians“, während sich in der deutschen Sprache „Indianer“ durchgesetzt hat. Nach Meinung der Autorin ist dieser Begriff aus zwei Gründen abzulehnen. Zum einen wissen wir längst, dass es der Doppelkontinent Amerika war, den Kolumbus für Spanien und damit auch für die Europäer „entdeckt“ hatte. Zum anderen leugne der Begriff „Indianer“, „dass es sich bei den Ersteinwohner_innen Amerikas um viele sehr heterogene Bevölkerungsgruppen handelt(e). Die damals und heute existierende kulturelle, geschichtliche und sprachliche Vielfalt wird durch den Begriff unsichtbar gemacht. Diese Homogenisierung beruht auf einer kolonialistischen Anmaßung. Die vielfältigen Bevölkerungsgruppen, Kulturen und unterschiedlichen Gesellschaften Nord- und Südamerikas waren für die Erober_innen nicht relevant. Die Bezeichnung ‚Indianer‘ ist also, abgesehen davon, dass sie historisch nicht korrekt ist, rassistisch und exotisierend durchsetzt.“ (Hervorhebungen im Original; die Autorin stützt sich dabei vor allem auf den Beitrag „Indianer_in“ von Adibeli Nduka-Agwu). Folgerichtig kommt Carla zu dem Schluss: „Die Indianer“ gibt es schlicht nicht.
Die Kontroverse: Die Indianer gibt es nicht … oder doch?
Auch Tyrone White, ein O’ohe Nuŋpa Lakota vom Stamm der Cheyenne River Sioux, der ursprünglich im US-Bundesstaat South Dakota gelebt hat und „wegen der Liebe und des Masterstudiums“ 2012 nach Deutschland gekommen ist, vertritt diesen Standpunkt. Anlass seiner Meinungsäußerung vom 6. März 2019 (unter: https://www.vice.com/de/article/zma8ze/liebe-deutsche-indianer-kostume-an-karneval-sind-nicht-lustig) waren der Karneval im Rheinland und speziell die dort präsentierten Indianer-Kostüme. Dieses Thema hatte auch in der deutschen Presse Schlagzeilen gemacht, weil ein Kindergarten in Hamburg den Eltern empfohlen hatte, beim Kinderfasching auf solche zu verzichten. Tyrones persönlichen Erfahrungen machen deutlich, warum er das scheinbar harmlose Verkleiden als Indianer, das hierzulande nicht nur unter Kindern beliebt ist, so vehement ablehnt: „Ich könnte hier die Probleme solcher Kostüme auflisten: Kolonialismus, kulturelle Aneignung und natürlich Rassismus – alles Vorwürfe, die in manchen Kreisen schneller unter den Tisch gekehrt werden als die Krümel vom Sonntagskaffee. Da machst du nur den Mund auf, und schon ist die Stimmung im Eimer. Rassismus ist salonfähig – darüber zu reden nicht. … In der fünften Klasse, noch in den USA, bin ich für ein Jahr zu einer Schule mit überwiegend weißen Kindern gegangen. Damals trug ich meine Haare lang. Ich wurde von Schulkindern und deren Eltern gemobbt. … Ich habe meine Eltern gebeten, mir die Haare abzuschneiden. Am liebsten hätte ich meine Hautfarbe gleich mit geändert. Aber ich konnte mein Kostüm nicht ausziehen. Ich musste mit der Diskriminierung leben. Als ich mit der High School fertig war und noch bevor ich zur Uni ging, habe ich mir dann meine Haare abgeschnitten. Gebracht hat es nichts, ich wurde immer noch als stupid fucking Indian bezeichnet. … Ich denke an meine Vorfahren, und wie es für sie verboten war, sich traditionell zu kleiden: keine Federn, kein Leder, keine langen Haare. Bis in die 70er Jahre wurden Kinder aus ihren Familien gerissen und in Internate gesteckt, wo sie lernen mussten, weiß und nicht indigen zu sein, weil Indigensein falsch war, weil ihre Kultur, weil ihre Muttersprache falsch war. ‚Tötet den Indianer und rettet den Mann in jedem Kind‘, so hieß die Parole der amerikanischen Regierung. Erst 1978, mit dem American Indian Religious Freedom Act, war es erlaubt, die traditionelle Religion und Kultur auszuüben. Der Rheinländer durfte sich also zu einer Zeit als ‚Indianer‘ verkleiden, als das meinen Vorfahren noch verboten war. Aber es ist alles ein Witz. Wir lachen nicht. Uns tut das weh.“ Es sind diese bitteren Erfahrungen, die ihn dazu veranlassen, zu sagen: „Tut mir leid, aber ‚die Indianer‘ gibt es überhaupt nicht. Warum die Anführungszeichen? Weil es den Begriff nicht gibt. Weil über 500 indigene Stämme allein in den USA existieren. Und weil alle über 500 indigene Stämme sich in etwa so sehr ähneln wie die Deutschen den Russen. Gleiche Hautfarbe – und da hört es dann schon auf. Doch obwohl alle über 500 Stämme sich in so ziemlich allem unterscheiden – Sprache, Region, Kultur – haben Sie doch eine Gemeinsamkeit: die Erfahrung mit Rassismus. Rassismus, der sich in nichts so schön widerspiegelt wie in Karnevalskostümen.“
All diesen vollauf berechtigten Argumenten, die zunächst gegen die Verwendung des Begriffes „Indianer“ sprechen, steht entgegen, dass er bis heute breite Verwendung findet. Dies beginnt bei zwei Büchern neueren Datums – „Der letzte Herr des Waldes. Ein Indianerkrieger aus dem Amazonas erzählt vom Kampf gegen die Zerstörung seiner Heimat und von den Geistern des Urwalds“ von Madarejúwa Tenharim und Thomas Fischermann (München 2018) sowie „Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land“ (Berlin 2020) von Manuel Menrath – und reicht über historische Darstellungen von Thomas Jeier („Die ersten Amerikaner. Eine Geschichte der Indianer“, München 2011), Aram Mattioli („Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas“, Bonn 2018 – auch als Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich) und Heike Bungert („Die Indianer. Geschichte der indigenen Nationen in den USA“, München 2020) bis zu Übersetzungen von US-amerikanischen Autoren und Aktivisten (siehe die Titel von Theda Perdue und Michael Green sowie Walter Echo-Hawk in der Literaturliste). Alle genannten Autoren sind ausgewiesene Kenner „der Indianer“ und wissen auch um die Debatte über die Verwendung des Begriffes.
Heike Bungert, Professorin an der Universität Münster, wird in einem Interview mit dem „Spiegel“ vom 18. September 2020 nach ihrem Verständnis von Rassismus befragt. In ihrer Antwort betont sie noch einmal ausdrücklich: „Ich halte das Wort Indianer nicht für rassistisch. Wer sich dennoch damit schwertut, sollte auf den Sammelbegriff Indigene ausweichen oder die einzelnen Stammesgruppennamen nennen. Was man auf gar keinen Fall nutzen sollte, sind Wörter wie Squaw. Das wird mittlerweile als Schimpfwort für eine indianische Frau verstanden.“ Während Heike Bungert noch einmal bestätigt: „’Indianer‘ darf man sagen“, empfiehlt eine Broschüre für die rassismuskritische Bildungsarbeit das Gegenteil und fasst die Argumente noch einmal wie folgt zusammen:
‚Indianer‘: Der Begriff wird verwendet, um die ersten Bewohnerinnen und Bewohner Nordamerikas zu bezeichnen. Er tauchte als Fremdbezeichnung während des frühen kolonialen Zeitalters auf und geht auf den Irrtum von Christoph Columbus zurück, der einen Seeweg nach Indien finden wollte und schließlich in Nordamerika ankam. So heißt es in der Regel, dass er ‚Amerika entdeckte‘. Dadurch wird aber ignoriert, dass dort schon lange vorher unterschiedliche Gesellschaften lebten, die ihre eigene Geschichte hatten. Zudem wurden die Begriffe, mit denen sie sich selbst bezeichneten, ignoriert. Der Begriff I. schafft die Vorstellung von einer einheitlichen Menschengruppe, die in der Realität aber nicht gleich und einheitlich, sondern vielfältig und verschieden ist. Dieser Gruppe werden zudem bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten wie ‚Wildheit‘ und ‚Naturverbundenheit‘ zugewiesen, die als Abgrenzung zur Gruppe der Europäerinnen und Europäer dienen sollen. Da die mit dem Begriff bezeichneten Menschen diesen nicht selbst bestimmt haben und damit diskriminierende Vorurteile verbunden sind, sollte er nicht weiter benutzt werden.“ (Deutscher Kolonialismus, S. 38)
Plädoyer für einen umstrittenen Begriff
Es ist richtig, dass „Indianer“ eine Fremdbezeichnung ist, die auf einem Irrtum beruht. Treffen aber auch die nachfolgenden Argumente in gleicher Weise zu? Inwiefern ignoriert der Begriff die Vielfalt und die vorkoloniale Geschichte der amerikanischen Ureinwohner? Welche Eigenschaften verbinden wir damit? Müssen wir ihn ablehnen, weil ihn die damit Bezeichneten nicht selbst gewählt haben? Wer auf diese Fragen keine befriedigende Antwort findet, sollte dem Rat von Heike Bungert folgen. Ähnlich verfährt auch Sonja John in ihrem Artikel über die Grassroots-Bewegung „Idle No More“ in Kanada, die im Dezember 2012 von vier indigenen Frauen ins Leben gerufen wurde. In einer Fußnote (Anmerkung 4) erklärt sie ihre Vorgehensweise: „Sofern möglich benutze ich die Eigenbezeichnungen der jeweiligen Nationen. Wenn es sich um übergreifende, alle indigenen Nationen betreffende Zusammenhänge handelt, wie hier der Fall, greife ich auf die Begriffe Indigene und First Nations zurück, um die spezielle Qualität dieser Bevölkerungsgruppen als erste BewohnerInnen auszudrücken. Wenn von rechtlichen Klassifizierungen die Rede ist und es um offizielle Benennungen geht, lässt sich die Verwendung des Begriffs Stamm für die politische Einheit Tribe (USA) bzw. Band (Kanada) kaum vermeiden, da es sich um juristische Spezialbegriffe und Eigenbezeichnungen handelt. … Die Bezeichnung indigener Gemeinwesen in Nordamerika als Nationen ist sowohl in den USA als auch in Kanada Standard.“
Ungeachtet aller genannten Einwände möchte ich an dieser Stelle eine Lanze für den Begriff „Indianer“ brechen. Immerhin ist auch die Bezeichnung „Indigene“ ein Sammelbegriff, der die Vielfalt der so bezeichneten Völker und Kulturen in ähnlicher Weise wie „Indianer“ verdeckt. Beide Begriffe wurden zuerst von Europäern verwendet und lassen sich nicht auf die vorkoloniale Geschichte anwenden. „Indigen“ leitet sich aus dem lateinischen Wort für „eingeboren“ oder „Ureinwohner“ ab und setzt ebenso wie „Indianer“ eine eurozentristische Perspektive voraus. „Indígena“ ist die spanische und „indigenous“ die englische Entsprechung von „indigen“ – ein Wort, das nunmehr auch in der deutschen Sprache seinen Eingang gefunden hat.
Mein zweites Argument ist der (nicht nur) semantische Unterschied zwischen „Indian“ oder „Indio“ einerseits und „Indianer“ andererseits. Während die ersten beiden auch zur Bezeichnung der Einwohner Indiens – „Inder“ – dienen, ist dies bei letzterem nicht der Fall. Außerdem – und dies wiegt in meinen Augen schwerer – war Deutschland anders als Spanien, England oder Frankreich in den Amerikas nie Kolonialmacht und damit auch nicht direkt an der Unterwerfung, Ausbeutung und Ausrottung der ersten Amerikaner beteiligt. Die Bezeichnung „Indianer“ ist deshalb in ihrer Bedeutung von „Indio“ oder „Indian“ abzugrenzen. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass spätestens mit Karl Mays „Winnetou“ im deutschsprachigen Raum das „positive“ Indianerbild des „edlen Wilden“ vorherrscht. Auch wenn es wenig mit der Realität der „echten Indianer“ zu tun hat (diese Realität kann man in den Büchern von Lisolotte Welskopf-Henrich finden), vermittelt es nicht die Logik der „Eliminierung des Ureinwohners“, die Patrick Wolfe für alle (ehemaligen) Siedlerkolonien konstatiert. Während „Indio“ und „Indian“ vor 500 Jahren im Kontext dieser Eliminierungslogik der europäischen Welteroberung entstanden sind und seitdem mit dieser assoziiert werden, ist dies bei „Indianer“ deutlich weniger der Fall.
Drittens sei angemerkt, dass „Indio“ und „Indian“ trotz ihrer rassistischen und kolonialistischen Makel zum Teil auch heute noch von den indigenen Völkern der Amerikas akzeptiert oder mit eigenen Inhalten gefüllt werden. Davon zeugen in Nordamerika solche indigenen Bewegungen wie „Indians of All Tribes“ oder „American Indian Movement“, die mit den Besetzungen von Alcatraz (20. November 1969 bis 11. Juni 1971) bzw. Wounded Knee (27. Februar bis 8. Mai 1973) zu unvergessenen Symbolen des Widerstandes und der Renaissance der Indianer geworden sind. Ein weiteres Beispiel für die anhaltende Verwendung der Begriffe „Indianer“ und „indianisch“ stellt die Übersetzung eines Artikels von Walter Echo-Hawk aus dem Jahr 2014 dar, der sich mit der „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung“ beschäftigt. Der Autor ist Angehöriger des Pawnee-Stammes und arbeitet als Anwalt, Juraprofessor, Stammesrichter, Autor und Aktivist. Sein Engagement begann in den späten 1960ern in der Red-Power-Gruppe des National Indian Youth Council (Nationaler Indianischer Jugendrat). Als Anwalt für Indianerrecht vertritt er seit 1973 indianische Stämme und indigene Gruppen in den Vereinigten Staaten. In der deutschsprachigen Übersetzung ist immer wieder von „amerikanischen Indianern“, „indianischer Souveränität“, „indianischer Kultur“ oder einfach nur von „Indianern“ die Rede.
Auch bei der Verwendung des Begriffs „Indio“ gilt es zu differenzieren. So begründet Thomas Zimmermann, der auf der Grundlage zahlreicher Gespräche mit Madarejúwa vom indigenen Volk der Tenharim, das im brasilianischen Amazonasgebiet lebt, ein Buch verfasst hat, seine Wortwahl wie folgt: „Vor allem in der Fachliteratur ist es heute üblich, von «indigenen Völkern» zu sprechen: Dies wird als politisch korrekter betrachtet als früher gebräuchliche Bezeichnungen wie «Indianer», «Indio » oder auch «Urvölker» und «Eingeborene». In diesem Buch wird das nicht so streng gehalten, weil umständliches Formulieren den bedrohten Völkern kein bisschen hilft. Anders als im Spanischen hat der Begriff «Índio», also Indianer im Portugiesischen, keine negative Konnotation. Tatsächlich heißt die staatliche Behörde für den Schutz dieser Völker die «Fundação Nacional do Índio». Madarejúwa bezeichnet sich selber als «Índio», gelegentlich auch als Indigener. Die Frage ist mit ihm für dieses Buch diskutiert worden, und er hält beide Worte für identisch und keines für derogativ. Wo er selber spricht, wird in diesem Buch daher seiner jeweils eigenen Wortwahl gefolgt. Wo der Autor Fischermann spricht, soll es überwiegend «Indigene» oder «indigene Völker» heißen. Wörter wie «Indianerreservate» oder «Indianerschutzbehörde» sind so gebräuchlich und werden verwendet“ ( Madarejúwa/ Fischermann, S. 30, Anmerkung 3).
In der ZDF-Sendung „aspekte“ vom 25. September diesen Jahres ist unter dem Titel „Vernichtung der Indianer“ ein Video (bis zum 25.9.2021 unter: https://www.zdf.de/kultur/aspekte/vernichtung-der-indianer-kanadas-unter-dem-nordlicht-100.html) zu sehen, in dem über die Geschichte und das heutige Leben der Indianer Kanadas berichtet wird. In dem trotz seiner Kürze (fünf Minuten) sehr informativen und erschütternden Film, in dem auch das neueste Buch des Schweizer Historikers Manuel Menrath vorgestellt wird, ist neben den konkreten Stammesnamen durchgängig von „Indianern“, manchmal auch „First Nations“, die Rede. Das Video liefert ein sehr aktuelles und anschauliches Beispiel dafür, dass der umstrittene Begriff „Indianer“ trotz aller Einwände Inhalte und Botschaften vermitteln kann, die den Rassismus und die Verbrechen der Europäer gegenüber den indigenen Völkern der Amerikas (im konkreten Fall auf Kanada bezogen) bloßstellen und anprangern. Worum dann die Scheu, „Indianer“ zu sagen und zu schreiben?
Indianer – die indigenen Völker der Amerikas
An dieser Stelle bedarf es einer Klärung dieses Begriffs in Bezug auf die oft synonym gebrauchte Bezeichnung „Indigene“ bzw. „indigene Völker“. Diese beiden letztgenannten Begriffe haben – anders als „Indianer“ – einen weltweiten Bezug. 2007 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Deklaration verabschiedet, die nach jahrzehntelanger Debatte die Rechte dieser Völker anerkannt hat. In diesem Zusammenhang wurden auch die Merkmale diskutiert und benannt, die allen indigenen Völkern gemeinsam sind. Oft wird die Erstbesiedlung von Kontinenten oder bestimmten Regionen innerhalb dieser als das entscheidende genannt. Aus den damit verbundenen eigenständigen Traditionen, Institutionen und Weltsichten und der mehr oder weniger langen Geschichte des Widerstandes gegen Marginalisierung, Diskriminierung, Assimilierung und Ausrottung durch die Europäer (und später auch andere Einwanderungs- und Mehrheitsgesellschaften) hat sich eine Identität herausgebildet, die einerseits durch die jeweils eigenen Lebensräume und -weisen, andererseits durch die übergreifende Grunderfahrung des Rassismus geprägt ist. Im Unterschied zu anderen Völkern, die sich von der Kolonialherrschaft befreien konnten und sich eigene Staaten geschaffen haben, leben die indigenen Völker nach wie vor in einer „kolonialen Situation“. Aus diesem „inneren Kolonialismus“ und ihrer Anerkennung als „Völker“ leitet sich – neben anderen Rechten – ihr Recht auf Selbstbestimmung ab. Dies bildet auch den entscheidenden Unterschied allen anderen Minderheiten, die ebenfalls unter Rassismus, Diskriminierung und Unterdrückung zu leiden haben. Die Identität der indigenen Völker (Indigenität) kann sich je nach Situation und Handlungszusammenhang auf unterschiedlichen Ebenen artikulieren: Erstens auf der globalen Ebene als Gemeinschaft aller indigenen Völker; zweitens als Bezeichnung der indigenen Völker in Bezug auf die Staaten, in denen sie leben (z.B. Aboriginal Peoples mit First Nations, Inuit und Metis in Kanada, Maori in Neuseeland, Sami in Skandinavien); drittens auf der ethnischen bzw. lokalen Ebene (Quechua in den südamerikanischen Anden, Lakota und Cherokee in den USA etc.).
Wie reihen sich nun „die Indianer“ in diese Vielfalt ein? Hier kommen historische Besonderheiten zum Tragen, die es sinnvoll erscheinen lassen, diesen Begriff zur Bezeichnung der indigenen Völker der Amerikas zu verwenden. Für die Europäer war die Begegnung mit der Erstbevölkerung des ihnen bis dahin unbekannten amerikanischen Doppelkontinents ein völlig überraschendes Novum. Sie reagierten darauf mit der Schaffung des Konstrukts des „Indio“ bzw. „Indians“ zur Kennzeichnung einer grundsätzlichen Differenz, die sie auf gesamte Bevölkerung der neuen Welt übertrugen. Dieses Konstrukt der Inferiorität diente den europäischen Kolonialmächten als rassistisch begründete Legitimierung für die koloniale Unterwerfung der vorgefundenen Bevölkerung. Die Indianer – um an dieser Stelle den deutschsprachigen Begriff zu verwenden – stellen damit sowohl historisch als auch definitorisch den paradigmatischen Prototyp jener Menschen dar, für die sich heute der Begriff „indigene Völker“ durchgesetzt hat. Als erste und am umfassendsten erlebten sie den europäischen Kolonialismus und seine Folgen. Diese gemeinsame kontinentale Erfahrung macht den Kern ihrer Identität als Indians, Indios oder Indianer aus. 1492 stellte für alle Völker der Amerikas einen katastrophenhaften Bruch mit ihrer bisherigen Lebensweise dar, den nur ein Zehntel der Indianer überlebt hat. Mit diesem Wissen in unseren Köpfen kann und sollte der Begriff „Indianer“ weiterhin Verwendung finden. Wer dies trotzdem nicht will, dem stehen genügend Alternativen zur Verfügung. Er oder sie sollte sich aber auch nicht zum Zensor aufschwingen, wenn Indianer als solche bezeichnet werden – in Zukunft wieder ohne An- und Ausführungszeichen.
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Literatur:
Bungert, Heike: Die Indianer. Geschichte der indigenen Nationen in den USA. München 2020
Deutscher Kolonialismus. Ein vergessenes Erbe? Postkolonialität in der rassismuskritischen Bildungsarbeit. Frankfurt a. M. 2015 (Abruf vom 25.8.2020 unter: https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/user_upload/Slider/Publikationen/Deutscher_Kolonialismus.pdf)
Echo-Hawk, Walter: Selbstbestimmung statt Liquidierung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung. (eng.: Self-Determination, Not Termination. Past, Present and Future of the American Indian Movement) New York (RLS) 2014
Jeier, Thomas: Die ersten Amerikaner. Eine Geschichte der Indianer. München 2011
Jeier, Thomas: Das große Buch der Indianer. Augsburg 2011
John, Sonja: Idle No More – Indigene Aktivistinnen und Feminismen, in: Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Jg. 23 (2014) Nr. 1, S. 89-102
Lips, Eva: Das Indianerbuch. Leipzig 1956
Lips, Eva: Sie alle heißen Indianer. Hanau 1987
Madarejúwa Tenharim/ Fischermann, Thomas: Der letzte Herr des Waldes. Ein Indianerkrieger aus dem Amazonas erzählt vom Kampf gegen die Zerstörung seiner Heimat und von den Geistern des Urwalds. München 2018
Mattioli, Aram: Die Native Americans und der Memory-Boom in den USA. Luzerner Universitätsreden Nr. 24, Januar 2013
Mattioli, Aram: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas. Bonn 2018 (Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung)
Menrath, Manuel: Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land. Berlin 2020
Nduka-Agwu, Adibeli: „Indianer_in“. In: Nduka-Agwu, Adibeli/ Hornscheidt, Antje Leann (Hrsg.), Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, Frankfurt a. M. 2013 (2. Auflage), S. 140-145.
Perdue, Theda/ Green, Michael: North American Indians. A Very Short Introduction. Oxford u.a. 2010 (dt. als Reclam-Sachbuch: Die Indianer Nordamerikas. Stuttgart 2013)
Wolfe, Patrick: Settler colonialism and the elimination of the native, in: Journal of Genocide Research, 8 (2006) 4, S. 387-409
Lorenz, Erik: Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer. Chemnitz 2010
Frühere Quetzal-Artikel zum Thema unter:
https://quetzal-leipzig.de/rezension-buch-literatur/uff-sprach-winnetou“>https://quetzal-leipzig.de/rezension-buch-literatur/uff-sprach-winnetou bzw. Quetzal Nr. 8, Sommer 1994, S. 37-38
https://quetzal-leipzig.de/themen/ethnien-und-kulturen/indianer-indigen-indigenas-indigenismus-indianidad Hartwig, Vera: Indianer? Indigen? Indígenas? Indigenismus? Indianidad?, in: Quetzal, Nr. 8, Sommer 1994, S. 2-6 (in der Druckversion)
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Bildquellen: Scans_Buchcover