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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Dürr, Eveline/ Kammler, Henry (Hrsg.): Einführung in die Ethnologie Mesoamerikas

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Rezension_Dürr_Kammler_DeckblattWie dem Titel des Buches zu entnehmen ist, handelt es sich um ein Handbuch, das dem Leser eine Einführung in die indigenen Kulturen Mesoamerikas verspricht. Inwieweit dieser hohe Anspruch von den Herausgebern und Autoren umgesetzt worden ist, lässt sich an drei Maßstäben festmachen: Struktur, Umfang und Inhalt. Die 600 Seiten sind in sechs Teile untergliedert, wovon der letzte Anhänge enthält, die dem Leser neben verschiedenen Verzeichnissen (Literatur, Tabellen, Karten) und Angaben zu den insgesamt 32 Autoren auch ein Register und ein Glossar bieten. Die ersten 200 Seiten des Buches beleuchten Mesoamerika als Ganzes aus drei Perspektiven: Teil I vermittelt einen Überblick über die Ethnologie und die Sprachen, Teil II beschreibt in drei Kapiteln die Forschungsgeschichte und Teil III (mit fünf Kapiteln) schlägt einen historischen Bogen von der Eroberung bis zur Gegenwart. Der IV. Teil ist mit 14 Kapiteln und 166 Seiten der umfangreichste des Buches. Hier findet der Leser Themen und Falldarstellungen, von denen sich sieben mit Mexiko, eine mit Guatemala (Religion) und eine weitere mit den Garinagu (oft auch als Garífuna bezeichnet) beschäftigen. Die restlichen fünf befassen sich mit historischen und gegenwärtigen Aspekten Mesoamerikas (Raum-Zeit-Vorstellungen, Handschriften, Gemeindestrukturen, Migration). Teil V ist mit „Überregionale Prozesse“ überschrieben, was in Hinblick auf die darin enthaltenen acht Kapiteln etwas irreführend ist. Jeweils ein Kapitel beschäftigt sich mit den indigenen Bewegungen in Mexiko (Kapitel 27) bzw. Guatemala (Kapitel 25). Ein weiteres (Kapitel 28) knüpft mit dem Thema „Indigene Autonomien in Mesoamerika“ daran an. Politische Gewalt gegen indigene Gemeinschaften (Kapitel 26) wird anhand von drei Fallbeispielen (Mexiko, Guatemala, El Salvador) vergleichend beschrieben. Von den übrigen vier Kapitel beschäftigen sich zwei mit Tourismus (Kapitel 29) bzw. Film in Mesoamerika (Kapitel 30), während die beiden letzten (Kapitel 31 und 32) kulturellen Aspekten (Film und Literatur) Mexikos gewidmet sind. Abgesehen von Kapitel 1, das in die Thematik einführt, haben die übrigen Kapitel einen Umfang zwischen zehn und fünfzehn Seiten. Bereits die Auswahl und Anordnung der Themen nebst den gleichermaßen nützlichen wie umfangreichen Anhängen belegen, dass hier Pionierarbeit geleistet wurde.

Es liegt zugleich in der Natur der Sache begründet, dass es etliche Lücken gibt und manche Fragen auftauchen. Eine erste, grundsätzliche resultiert aus der Verwendung (und Untersetzung) des Begriffes „Mesoamerika“. In der Einführung (S. 30-33) erläutern die beiden Herausgeber dessen Entstehung. Er geht auf Paul Kirchhoff zurück, der ihn 1943 zur Bezeichnung jenes Kulturareals einführte, das große Teile des heutigen Mexikos und Zentralamerikas umfasst. Dabei lag der Fokus klar auf der vorkolonialen Geschichte, wobei die Ausdehnung und damit auch die Grenzen Mesoamerikas im Laufe der Zeit variierten. In der Maximalvariante lagen sowohl das nördliche Drittel Mexikos als auch die südliche Hälfte des zentralamerikanischen Isthmus (also Panama, Costa Rica sowie die karibischen Gebiete von Nicaragua und der größte Teil der honduranischen Nordküste) außerhalb des von Kirchhoff konzipierten Areals. Die Halbinsel Nicoya, die ursprünglich zu Nicaragua gehörte und erst 1824 von Costa Rica annektiert wurde, bildet damit das am weitesten nach Südwesten reichende Gebiet Mesoamerikas. Diese vorkoloniale Figur Kirchhoffs verwenden die Verfasser des Handbuches nun in zweifacher Weise: Mesoamerika wird erstens in die Gegenwart projiziert, was zweitens damit verbunden wird, seine geographische Dimension – unter der Hand – bis zur Nordgrenze Mexikos bzw. Südgrenze Nicaraguas auszuweiten. Damit werden indigene Völker zum Gegenstand der „Ethnologie Mesoamerikas“ gemacht, die – nimmt man den Erstkontakt mit den Spaniern als Zäsur – nie zu diesem Kulturareal gehört haben. Im Interesse konzeptioneller Klarheit wäre es wünschenswert gewesen, die Verwendung des Begriffs „Mesoamerika“ für die Gegenwart plausibel zu begründen. Das Überleben indigener Kulturen, die ihre Wurzeln im vorkolonialen Mesoamerika haben, reicht dafür nicht aus.

Paradoxerweise geht keiner der zahlreichen Autoren auf den gegenwärtigen Gebrauch des von Kirchhoff entliehenen Begriffs ein. Dieser wird z.B. von den zehn Ländern, die im „Mechanismus von Tuxtla“ zusammenarbeiten, verwendet, um mit einer griffigen Klammer ihre regionale Kooperation zu legitimieren. Mexiko, Belize, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama, Kolumbien und die Dominikanische Republik betreiben gemeinsam das Proyecto de Integración y Desarrollo de Mesoamérica (Projekt zur Integration und Entwicklung Mesoamerikas), um das Gebiet von Puebla (Mexiko) bis Panama besser ausbeuten zu können. Dies geht vor allem zu Lasten der Umwelt und der dort lebenden Völker, die sich deshalb zu regionalen und translokalen Bündnissen des Widerstandes zusammengeschlossen haben. Diese Bündnisse beziehen sich ebenfalls explizit auf Mesoamerika, was durch eine kurze Aufzählung jener illustriert werden soll, die dies bereits durch die Wahl ihres Namens ausdrücken: Foro Mesoamericano de los Pueblos (Mesoamerikanisches Forum der Völker), Foro Mesoamericano por la Diversidad Biológica y Cultural (Mesoamerikanisches Forum für biologische und kulturelle Vielfalt), Movimento Mesoamericano contra las Represas (Mesoamerikanische Bewegung gegen Staudämme) und Movimiento Mesoamericano contra el Modelo Extractivo Minero (kurz M4; Mesoamerikanische Bewegung gegen extraktiven Bergbau).

Die genannten Beispiele machen zwei Dinge deutlich: Der Begriff Mesoamerika erlebt erstens eine Renaissance, die weit über die Ethnologie hinausreicht. Zweitens wird nolens volens das gesamte Gebiet Mexikos und Zentralamerikas darunter subsumiert. Hinzu kommt, dass antagonistische Akteure – Koalitionen von oben, die Raubbau betreiben oder ihm den Weg bereiten, einerseits und soziale Bewegungen von unten, die sich dagegen zur Wehr setzen, andererseits – Anspruch auf den Begriff „Mesoamerika“ erheben. Dass all dies im Handbuch nicht zur Sprache kommt ist schade. Bei einer Neuauflage sollte diese gravierende Lücke unbedingt geschlossen werden.

Ein zweiter Aspekt betrifft die Gewichtung der Länder Mesoamerikas. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um das Dilemma zu benennen: Dem „Riesen“ im Norden stehen im Süden fünf (wenn man Costa Rica und Panama hinzuzählt sogar sieben) „Zwerge“ gegenüber, die – was Einwohnerzahl und Territorium angeht – zusammen nur einen Bruchteil Mexikos ausmachen. Nichtdestotrotz wäre es angebracht gewesen, den zentralamerikanischen Kleinstaaten größere Beachtung zu schenken. Dies gilt insonderheit für die indigenen Bewegungen dieser Länder. Im Handbuch erfahren nur Mexiko und Guatemala in Gestalt eines eigenen Kapitels die erforderliche Aufmerksamkeit, während alle anderen Länder „leer“ ausgehen. Dies ist gerade im honduranischen Fall unverständlich. Die dort aktiven indigenen Bewegungen stehen seit Jahren an der Spitze der sozialen und politischen Proteste. Mit der Aktivistin Berta Cáceres, die an der Spitze von COPINH (Consejo Cívico de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras/ Ziviler Rat der Indigenen und Volksorganisationen von Honduras) stand und wegen ihres Widerstandes gegen das Staudammprojekt Agua Zarca am 3. März 2016 hinterrücks ermordet worden war, haben sie auch außerhalb Mesoamerikas eine Aufmerksamkeit geweckt, die ein eigenes Kapitel wert gewesen wäre.

Eng damit verbunden ist das Thema des Extraktivismus, von dem die indigenen Völker in besonderem Maße betroffen sind. Gerade in Mesoamerika hat der Widerstand gegen die damit verbundene Zerstörung der Natur- und Lebensräume hohe Priorität. Umso unverständlicher ist es, dass sich keines der vielen Kapitel des Handbuches mit diesem Aspekt des Kampfes der indigenen Völker befasst. In Mexiko und Zentralamerika setzen sie sich gleichermaßen gegen Landraub, Vertreibung, Repression und Umweltzerstörung zur Wehr. Auch diesem wichtigen Aspekt der Ethnologie des indigenen Mesoamerika sollte bei einer möglichen Neuauflage ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Im deutschsprachigen Raum hat Marius Haberland mit seiner Dissertation über die mesoamerikanische Anti-Bergbau-Bewegung einen zentralen Beitrag zur Analyse des – nicht nur – indigenen Widerstandes gegen den Extraktivismus geleistet.

Alles in allem erfüllen die Herausgeber und Autoren ihren selbst gestellten Anspruch, „aus zeitgeschichtlicher, kulturwissenschaftlicher und empirisch fundierter Perspektive die indigenen Kulturen Mesoamerikas zu präsentieren, aktuelle Themen aufzugreifen und fachliche Orientierung für ein weiterführendes, vertiefendes Studium zu bieten“. Die von ihnen vorgelegten Beiträge erfüllen in der Summe die Ansprüche, die gemeinhin an ein „kompaktes Einstiegswerk“ gestellt werden (alle Zitate von Seite 15). Es handelt sich um einen gelungenen Mix aus Überblicksdarstellungen (Teil I bis III) und empirisch gesättigten Fall-, Länder- und Teilstudien (Teil IV und V). Äußerst hilfreich ist auch das umfängliche Glossar (Seite 484-501). Die vorn aufgezeigten Lücken schmälern zwar den positiven Gesamteindruck. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Handbuch eine Pionierleistung auf hohem fachlichen Niveau darstellt. Für alle, die sich für die indigenen Kulturen Mesoamerikas – in welcher Form auch immer – interessieren, bietet es eine Fundgrube voller Wissen und Anregungen. Die „Einführung …“ stellt der deutschsprachigen Mesoamerikanistik ein beeindruckendes Zeugnis aus, das neue Maßstäbe setzt und nicht zuletzt deshalb als Lektüre unbedingt zu empfehlen ist.

 

Dürr, Eveline/ Kammler, Henry (Hrsg.):

Einführung in die Ethnologie Mesoamerikas. Ein Handbuch zu den indigenen Kulturen

Waxmann Verlag. Münster/ New York: 2019.

ISBN: 978-3-8309-3804-0

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