Weder schwarze noch rosa Legende.
Die zwei Extreme dieses Gegensatzes -eines falschen Gegensatzes- stellen uns außerhalb der Geschichte; sie stellen uns außerhalb der Realität. Beide Interpretationen der Eroberung Amerikas entlarven eine verdächtige Verklärung vergangener Zeiten, eine schillernde Leiche, deren Glanz uns blendet und erblinden läßt gegenüber der heutigen Zeit in unsren Ländern. Die schwarze Legende schlägt uns vor, das Museum der guten Wilden zu besuchen, wo wir uns ausweinen können über das zerstörte Glück enger Menschen aus Wachs, die nichts mit dem Wesen aus Fleisch und Blut zu tun haben, die unsere Länder bevölkerten. Spiegelbildlich dazu, lädt uns die rosa Legende in den Großen Tempel des Westens ein, wo wir unsere Stimmen dem universellen Chor beimischen können – der hymnisch das große zivilisatorische Werk Europas feiert, eines Europas, das sich über die ganze Welt ausbreitete, um sie zu erlösen. Die schwarze Legende lädt auf die Schultern Spaniens, und im geringerem Umfang auf die Portugals, die Verantwortung für den ungeheuren kolonialen Raubzug, der eigentlich in viel größerem Maße andere europäische Länder begünstigt und die Entwicklung des modernen Kapitalismus ermöglicht hat. Die so oft erwähnte »spanische Grausamkeit« hat es nie gegeben: was es tatsächlich gab -und weiterhin gibt-, ist ein abscheuliches System, das grausame Methoden brauchte -und weiterhin braucht-, um sich durchzusetzen und zu wachsen. Spiegelbildlich dazu, fälscht die rosa Legende die Geschichte, lobt die Infamie, benennt mit »Evangelisation« den kolossalsten Raubzug der Weltgeschichte und verleumdet Gott, wenn sie diesen Raubzug als gottbefohlen darstellt.
Nein, nein: weder schwarze noch rosa Legende.
Die Wirklichkeit zurückzugewinnen: das ist die Herausforderung. Um die Wirklichkeit von heute zu ändern, um die Wirklichkeit von gestern zurückzugelangen, die versteckte, verratene Wirklichkeit der Geschichte Amerikas. Uns überfluten ganze Katarakte wohlklingender Reden und ansehnlicher Zeremonien: Die fünfhundert Jahre der sogenannten Entdeckung rücken näher.
Ich glaube, daß Alejo Carpentier nicht geirrt hat, als er sagte, daß dies das größte Ereignis in der Menschheitsgeschichte gewesen sei. Aber es erscheint mir geradezu augenfällig, daß Amerika nicht 1492 entdeckt wurde, ebensowenig wie die römischen Legionen Spanien entdeckt haben, als sie es im Jahre 218 vor Christus besetzten. Und es erscheint mir in völliger Evidenz offenkundig: es ist nun langsam Zeit, daß Amerika sich selbst entdeckt. Und wenn ich Amerika sage, meine ich hauptsächlich jenes Amerika, welches aller Dinge beraubt wurde, sogar seines Namens, in einem Prozeß, der es im Laufe der Jahrhunderte in den Dienst fremden Fortschritts gestellt hat: unser Lateinamerika.
Diese notwendige Entdeckung, Enthüllung des unter den Masken versteckten Gesichts, muß über die Rettung einiger unserer ältesten Traditionen gehen. Aus der Hoffnung, und nicht aus der Nostalgie muß eingefordert werden: die gemeinschaftliche Produktions- und Lebensweise, die sich auf Solidarität und nicht auf Habsucht stützt, den Einklang des Menschen mit der Natur und den alten Regeln der Freiheit. Ich glaube, daß es keine bessere Möglichkeit gibt, die Indios zu ehren, diese ersten Amerikaner, die von der Arktis bis zum Feuerland in der Lage waren, immer neuen Ausrottungswellen zu überstehen und ihre Identität und ihre Botschaft lebendig zu halten. Heute noch schenken sie ganz Amerika, und nicht nur unserem Amerika, grundlegende Aufschlüsse für die Erinnerung und die Zukunft: Sie geben ein Zeugnis der Vergangenheit ab und entzünden zugleich Feuer, die den Weg erhellen. Wenn jene Ideale, die sie verkörpern, nur noch einen archäologischen Wert hätten, dann wären die Indianer nicht bis heute das Ziel erbitterter Verfolgung, und die Machthaber wären nicht so sehr daran interessiert, sie von den Klassenkämpfen und den Befreiungsbewegungen zu trennen.
Ich bin nicht einer von denen, die an die Traditionen um ihrer selbst willen glauben: ich glaube an das Erbe, das die Freiheit der Menschen vermehrt, und nicht an jenes, das sie in Käfige steckt. Eigentlich scheint es überflüssig, dies klarzustellen, aber es kann nicht schaden: Wenn ich mich auf die fernen Stimmen beziehe, die uns aus der Vergangenheit helfen, die Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Zeit zu finden, dann berufe ich mich weder auf jene rituellen Opferungen, die den Göttern menschliche Herzen anboten, noch stimme ich das Loblied auf den Despotismus der Inka- und Azteken- Könige an.
Vielmehr preise ich die Tatsache, daß Amerika aus seinen ältesten Quellen die frischesten Kräfte beziehen kann: was die Vergangenheit sagt, ist für die Zukunft wichtig.
Ein System, das die Welt und ihre Menschen tötet, das das Wasser verseucht, die Erde vernichtet und die Luft und die Seele vergiftet, steht in einen gewaltigen Widerspruch zu den Kulturen, die daran glauben, daß die Erde heilig sei, weil heilig auch wir sind, ihre Kinder: diese verachteten und verleugneten Kulturen behandeln die Erde, als sei es eine Mutter, und nicht ein Produktionsmittel und eine Einnahmequelle. Dem kapitalistischen Gesetz des Profits setzen sie das gemeinschaftliche Leben, die gegenseitige Hilfsbereitschaft entgegen, die gestern Thomas Morus dazu inspiriert haben, seine Utopie zu erschaffen, und die uns heue helfen, das amerikanische Antlitz des Sozialismus zu entdecken, dessen tiefste Wurzeln in der Tradition der Gemeinschaften liegen.
Mitte letzten Jahrhunderts warnte ein Indianerhäuptling namens Seattle die Regierungsbeamten der Vereinigten Staaten: „Nach einigen Tagen nimmt der Sterbende den üblen Geruch seines eigenen Körpers nicht mehr wahr. Verseucht nur weiterhin euer Bett, und eines Nachts werdet ihr sterben, erstickt in eurem eigenen Dreck.“ Der Häuptling Seattle sagte aber auch: „Was der Erde angetan wird, wird auch den Kindern der Erde angetan.“ Ich habe eben diesen Satz, genau diesen, aus dem Munde eines Maya-Indios gehört, in einem Dokumentarfilm, der vor kurzem in den Bergen von Ixcán, in Guatemala, gedreht wurde. Da erklären die -von der Armee verfolgten- Mayas mit folgenden Worten die Treibjagd, die ihr Volk erleidet: „Sie töten uns, weil wir zusammen arbeiten, weil wir zusammen essen, zusammen leben, zusammen träumen.“
Welche finstere Bedrohung strahlen die Indianer Amerikas aus, welche trotzig lebende Bedrohung, trotz der Jahrhunderte voller Verbrechen und Verachtung? Welche Gespenster beschwören die Henker? Welche panischen Ängste?
Ende letzten Jahrhunderts, um die Usurpation des Landes der Sioux-Indianer zu rechtfertigen, erklärte der Kongreß der Vereinigten Staaten, daß „das gemeinschaftliche Eigentum gefährlich ist für die Entwicklung des freien Unternehmertums.“ Und im Jahr 1979 wurde in Chile ein Gesetz verkündet, das die Mapuches dazu zwingt, ihr Land in Parzellen aufzuteilen und sich, ohne jede Beziehung zueinander, in Kleingrundbesitzer zu verwandeln; damals erklärte der Diktator Pinochet, daß die Gemeinschaften unvereinbar seien mit dem Fortschritt der nationalen Wirtschaft. Der US-amerikanische Kongreß hat sich nicht getäuscht. Auch der General Pinochet hat sich nicht getäuscht. Vom kapitalistischen Gesichtspunkt aus betrachtet, sind die kommunitären Kulturen, die den Menschen weder von den anderen Menschen noch von der Natur abtrennen, feindliche Kulturen. Aber der kapitalistische Gesichtspunkt ist nicht der einzige mögliche Gesichtspunkt. Vom Gesichtspunkt eines Gesellschaftsprojektes, das sich auf der Solidarität gründet und nicht auf dem Geld, sind diese so alten und doch so zukunftsträchtigen Traditionen ein wesentlicher Teil der ursprünglichsten Identität Amerikas: eine dynamische Energie, keine tote Masse. Wir sind Ziegelsteine eines noch zu bauenden Hauses: diese Identität, kollektive Erinnerung und geteilte Aufgabe, kommt von der Geschichte und kehrt zur Geschichte zurück, ohne Unterlaß, umgestaltet durch die Herausforderungen und Zwänge der Realität.
Unsere Identität liegt in der Geschichte, der lebendigen Geschichte, und nicht in der Biologie, und sie wird von den Kulturen geschaffen und nicht von den Rassen.
Die Gegenwart wiederholt nicht die Vergangenheit, sie schließt sie ein. Aber: welchen Spuren folgen unsere Schritte? Welches sind die tiefsten Spuren in der Erde Amerikas? Im allgemeinen ignorieren unsere Länder ihre eigene Geschichte, wie sie sich auch untereinander ignorieren. Das neokoloniale Statut entleert den Sklaven von jeglicher Geschichte, damit der Sklave sich selbst mit den Augen seines Herren betrachtet. Man lehrt uns die Geschichte mit Daten und Fakten, die aus dem Zusammenhang der Zeit gerissen werden, und diese Fakten gehören, das ist unvermeidbar, nicht zu jener Wirklichkeit, die wir kennen, lieben und erleiden; und man bietet uns eine von elitärem Denken und Rassismus entstellte Version der Vergangenheit an. Damit wir leugnen, was wir sein können, wird uns lügnerisch verheimlicht, was wir einmal waren. Die offizielle Geschichte der Eroberung Amerikas wurde vom Gesichtspunkt des expandierenden Merkantilismus erzählt. Diese Perspektive hat Europa als Mittelpunkt und das Christentum als einzige Wahrheit. Das ist letzten Endes dieselbe offizielle Geschichte, die uns die „Wiedereroberung“ Spaniens durch die Christen gegen die „maurischen“ Invasoren erzählt -eine unlautere Art, jene Spanier moslemischer Kultur zu disqualifizieren-, die schon sieben Jahrhunderte auf der Halbinsel lebten, als man sie hinauswarf. Die Vertreibung dieser vermeintlichen „Mauren“ -Mauren waren sie ja in keiner Weise- zusammen mit den Spaniern jüdischer Religion bedeutete den Sieg der Intoleranz und der Lehnsherrschaft und besiegelte zugleich den historischen Zerfall jenes Spanien, das Amerika entdeckt und erobert hat. Einige Jahre bevor Fray Diego de Landa in Yucatán die Bücher der Mayas ins Feuer warf, hatte der Bischof Cisneros die islamischen Bücher in Granada auf einem großen reinigenden Scheiterhaufen verbrannt, der mehrere Tage loderte.
Die offizielle Geschichte wiederholt die ideologischen Vorwände, die schon von den Usurpatoren der Erde Amerikas und seiner Bodenschätze gebraucht wurden; aber dieser Geschichte zum Trotz, deckt sie auch die ihr widersprechende Wirklichkeit auf. Diese verbrannte, verbotene und von Lügen entstellte Wirklichkeit kommt trotz allem zutage in dem Entsetzen und dem Grauen, der Empörung und auch der Bewunderung der Chronisten angesichts jener nie gesehenen Wesen, die das Europa der Inquisition gerade „entdeckte“.
Im Jahr 1537 gab die Kirche zu, daß die Indios mit Seele und Verstand begabte Personen seien, aber zugleich segnete sie die Verbrechen und die Plünderungen; schließlich waren die Indios zwar Personen, aber von
Dämonen besessene Personen, und somit hatten sie keine Rechte. Die Konquistadoren handelten im Namen Gottes, um den Götzendienst auszumerzen, und die Indios lieferten ja ständig Belege ihrer ewigen Verdammnis und unzweifelhafte Gründe für ihre Bestrafung. Die Indios kannten nicht das private Eigentum. Sie benutzten weder das Gold noch das Silber als Geld, sondern schmückten damit ihre Körper oder verehrten damit ihre Götter. Diese -falschen- Götter standen auf der Seite der Sünde. Die Indios liefen nackt umher: Das Schauspiel der Nacktheit, sagte der Bischof Pedro Cortés Larraz, „schlägt viele Wunden im Gehirn“. Nirgendwo in Amerika war die Ehe unauflöslich, und die Jungfräulichkeit hatte keine Bedeutung. Entlang der Küsten der Karibik, und auch anderswo, war die Homosexualität frei, aber darüber entrüstete sich Gott vielleicht mehr als über den Kannibalismus im Amazonas- Urwald. Die Indios hatten die schlechte Angewohnheit, jeden Tag zu baden, und zu allem Überfluß glaubten sie an Träume. Die Jesuiten haben den Einfluß Satans auf die Indianer Kanadas folgendermaßen festgestellt: die Indianer waren so teuflisch, daß sie Übersetzer hatten, die ihnen die symbolische Sprache ihrer Träume erklärten, denn sie glaubten, daß die Seele spreche, während der Körper schläft, und daß die Träume die unerfüllten Wünsche zum Ausdruck brächten.
„Der beste Fisch langweilt auf die Dauer, aber Sex macht immer Spaß“,
sagten und sagen die Mehinaku in Brasilien. Die sexuelle Freiheit verbreitete einen unerträglichen Schwefelgeruch. In den Chroniken aus dem falschen Indien ist die Empörung ob dieser höllischen Vergnügen allgegenwärtig, die einem in jedem Winkel Amerikas auflauerten, wenn er nur weit genug von Mexiko oder Cuzco, den zwei puritanischen Sanktuarien entfernt war. Die offizielle Geschichtsschreibung reduziert in großem Maße die präkolumbianische Realität auf die Zentren der beiden Zivilisationen mit dem höchsten Grad sozialer Organisation und materieller Entwicklung. Die Inkas und Azteken befanden sich in einer Phase imperialer Expansion, als sie von den europäischen Eroberem niedergeschlagen wurden – diese hatten sich mit jenen Völkern verbündet, die von ihnen unterdrückt wurden. In diesen Gesellschaften -vertikal gelenkt von Königen, Priestern und Kriegern- herrschten strenge Sitten, deren Tabus oder Verbote der Freiheit kaum Platz ließen. Aber selbst in diesen Zentren, den repressivsten ganz Amerikas, kam das Schlimmere erst danach. Die Azteken zum Beispiel bestraften den Ehebruch zwar mit dem Tod, aber sie erlaubten die Scheidung auf Wunsch des Mannes oder der Frau. Ein anderes Beispiel: die Azteken hatten Sklaven, aber die Kinder dieser Sklaven wurden nicht als Sklaven geboren. Der ewige Ehebund und die erbliche Sklaverei waren europäische Produkte, die Amerika im XVI. Jahrhundert einführte.
In unseren Tagen geht die Conquista, geht die Eroberung weiter. Die Indios büßen immerfort für ihre Sünden, für Gemeinschaft, Freiheit und andere Unverschämtheiten. Die seelenreinigende Aufgabe der Zivilisation verbrämt jetzt nicht mehr die Plünderung des Goldes und des Silbers: hinter den Fahnen des Fortschritts schreiten die Legionen moderner Piraten voran -ohne Handhaken, ohne Augenklappe, ohne Holzbein-, große multinationale Firmen, die sich auf Uran, Erdöl, Nickel und Magnesium stürzen. Die Indios leiden wie ehedem am verfluchten Reichtum ihrer Erde. Sie waren zuerst auf unfruchtbare Böden vertrieben worden; aber genau unter diesen Böden entdeckte die moderne Technologie reiche Schätze.
„Die Eroberung ist noch nicht zu Ende“, verkündeten unbekümmert fröhlich vor sieben Jahren in Europa veröffentlichte Anzeigen, in denen Bolivien den Ausländern feilgeboten wurde. Die Militärdiktatur überließ den Meistbietenden die besten Böden des Landes, während sie die bolivianischen Indios genau so behandelte wie im XVI. Jahrhundert. In den ersten Zeiten der Eroberung wurden die Indios dazu gezwungen, sich in den öffentlichen Urkunden mit „Ich, erbärmlicher Indio…“ zu bezeichnen. Heute haben die Indios nur noch als billige Arbeitskraft oder als touristische Attraktion ein Existenzrecht. „Die Erde verkauft man nicht. Die Erde ist unsere Mutter. Man verkauft nicht seine Mutter. Warum bieten sie dem Papst nicht hundert Millionen Dollar für den Vatikan?“, sagte kürzlich einer der Sioux-Häuptlinge in den USA. Ein Jahrhundert zuvor hatte die Siebente Kavallerie die Black Hills -die Heilige Erde der Sioux- überfallen, weil es dort Gold gab. Jetzt beuten die multinationalen Unternehmen das Uran aus, obwohl sich die Sioux weiterhin weigern, ihr Land zu verkaufen. Inzwischen verseucht das Uran die Flüsse. Vor einigen Jahren sagte die Regierung Kolumbiens den indianischen Gemeinschaften im Cauca-Tal: „Die Bodenschätze gehören euch nicht. Die gehören der kolumbianischen Nation.“ Und sogleich übergab sie die Bodenschätze der Celanese Corporation. Nach einiger Zeit entstand im Cauca-Tal eine Mondlandschaft. Tausend Hektar indianischen Landes blieben unfruchtbar. Im Amazonasgebiet Ekuadors verdrängt das Erdöl die Aukas. Ein Helikopter überfliegt den Urwald mit einem Lautsprecher, der in Auka-Sprache verkündet: „Es ist die Zeit gekommen, aufzubrechen … “ Und die Indios befolgen den Willen Gottes.
Die Menschenrechtskommission der UNO warnte 1979 in Genf: „Es ist zu befürchten, daß der größte der überlebenden Indianerstämme innerhalb von zwanzig Jahren ausstirbt, sollte die Regierung Brasiliens ihre Pläne nicht ändern,“ Die Kommission bezog sich auf die Yanomani, in deren Gebiet man Zinn und andere seltene Erze entdeckt hatte. Aus demselben Grund gibt es heute nur noch weniger als zweihundert Nambiquara, und am Anfang des Jahrhunderts waren es noch funfzehntausend. Die Indios sterben wie Fliegen, wenn sie mit unbekannten Bakterien in Kontakt kommen, die von den Eroberern mitgebracht werden – genau so wie zu den Zeiten von Cortes und Pizarro. Die Entlaubungsmittel der Dow Chemical, von Flugzeugen aus versprüht, beschleunigen diesen Prozeß. Als die Kommission ihren pathetischen Aufruf in Genf losließ, wurde die FUNAI, die Behörde zum Schütze der Indios Brasiliens, von sechzehn Obristen geleitet – und sie beschäftigte vierzehn Anthropologen. Seitdem haben sich die Regierungspläne nicht geändert.
In Guatemala wurde -auf dem Land der Quiché- das größte Erdölvorkommen ganz Mittelamerikas gefunden. Die achtziger Jahre waren ein einziges, langes Massaker. Die Armee -die Chefs waren Mestizen, die Soldaten Indiosbeschäftigten sich damit, Dörfer zu bombardieren und Leute zu vertreiben, damit Texaco, Hispanoil, Getty Oil und andere Firmen nach Erdöl bohren und es ausbeuten konnten. Der Rassismus verleiht der Plünderung die nötigen Vorwände. Sechs von zehn Guatemalteken sind Indios, aber in Guatemala wird das Wort „indio“ als Schimpfwort benutzt. Schon beim ersten Mal, als ich in Guatemala-Stadt ankam, spürte ich, daß ich in einem Land war, das sich selbst fremd ist. In der Hauptstadt habe ich nur ein einziges wirklich guatemaltekisches Haus kennengelernt, mit schönen Holzmöbeln, Decken und Wandteppichen der Indios und handgefertigten Geschirr aus Kristall und Ton: nur ein einziges Haus, das nicht vom Plastikschund im Miami-Stil erobert war – das Haus einer französischen Lehrerin. Aber kaum entfernt man sich nur etwas von der Hauptstadt, da entdeckt man die grünen Zweige am alten Baumstamm der Mayas, der wie durch ein Wunder weiterhin steht, trotz der unerbittlichen Axthiebe, die er Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert erlitt. Die herrschende Klasse -vom schlechten Geschmack beherrscht-, meint, daß die traditionellen und schönen Trachten nur alberne Verkleidungen sind, gerade gut genug für den Karneval oder das Museum, ebenso wie man den Harnburger den Tamales, den Maispasteten, und die Coca Coia den Fruchtsäften vorzieht. Das offizielle Land, das vom realen Land lebt, aber sich seiner schämt, möchte es abschaffen: es betrachtet die Eingeborenensprachen als einfältige, gutturale Laute und die Religionen der Eingeborenen als Götzendienerei – weil für die Indios jeder Erdflecken eine Kirche ist und jeder Wald ein Tempel. Wenn die guatemaltekische Armee -Häuser, Ernten und Tiere zerstörend-durch die Maya-Dörfer zieht, dann verwendet sie besondere Energie darauf, Kinder und Alte systematisch zu ermorden. Es werden Kinder getötet, wie man Maisfelder bis auf die Wurzeln niederbrennt:
„Wir werden nicht einmal den Samen lassen“
erklärt Oberst Horacio Maldonado Shadd. Und jeder Alte verkündet die unverzeihliche Tradition der Gemeinschaft und die nicht minder unverzeihliche Tradition, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Die Mayas bitten noch heute den Baum um Vergebung, wenn sie ihn fällen müssen. Die Repression ist eine grausame Zeremonie des Exorzismus. Man braucht sich nur die Photos anzusehen, die Gesichter der Offiziere und der großen Figuren: diese von ihrer Kultur desertierten Indio-Enkel träumen davon, George Custer oder Buffalo Bill zu sein, und trachten danach, Guatemala in einen riesigen Supermarkt zu verwandeln. Und die Soldaten? Haben die nicht etwa dasselbe Gesicht wie ihre Opfer, dieselbe Hautfarbe, dasselbe Haar? Es sind Indios, zur Demütigung und zur Gewalt ausgebildete Indios. In den Kasernen findet die Metamorphose statt: zuerst verwandelt man sie in Kakerlaken, später dann in Raubvögel. Schließlich vergessen sie, daß jedes Leben heilig ist. Sie reden sich ein, das Grauen liege in der natürlichen Ordnung der Dinge.
Der Rassismus ist kein trauriges Privileg Guatemalas. Ganz in der Nähe, von Norden bis Süden, erkennt die herrschende Kultur die Indianer als Studienobjekte an, aber nicht als Subjekte der Geschichte: die Indios haben Folklore, aber keine Kultur; sie haben ihren Aberglauben, aber keine Religion; sie sprechen Dialekte, aber keine Sprachen; sie machen Kunsthandwerk, aber keine Kunst.
Vielleicht können die bevorstehenden Feierlichkeiten zu den fünfhundert Jahren dazu beitragen, all‘ das wieder auf die Beine zu stellen, was auf dem Kopf steht. Nicht um die Weltordnung zu bestätigen und das Selbstlob der Machthaber zu fördern, sondern um sie anzuschwärzen und sie zu verändern. Dazu müßten aber die Besiegten gefeiert werden, und nicht die Sieger. Die Besiegten und jene, die sich mit ihnen identifizierten – wie Bernardino de Sahagún, oder jene, die mit ihnen lebten, wie Bartolomé de Las Casas, Vasco de Quiroga und Antonio Vieira, und jene, die für sie starben, wie Gonzalo Guerrero, der erste eroberte Eroberer, der seine letzten Tage damit verbrachte, an der Seite seiner auserwählten Brüder in Yucatán zu kämpfen.
Und vielleicht können wir uns so, ein klein wenig, dem Tag des Gerichts nähern, auf den die Guaranis, die das Paradies suchen, schon immer warten. Die Guaranis glauben, daß die Erde eine andere sein will, neu geboren sein will, und deswegen fleht die Erde den Ersten Vater an, den blauen Tiger loszulassen, der unter seiner Hängematte schläft. Die Guaranis glauben, daß dieser gerechte Tiger irgendwann diese Erde zerstören wird, damit eine andere Erde -ohne Leid und ohne Tod, ohne Schuld und ohne Verbot- aus ihrer Asche geboren werde. Die Guaranis glauben, und ich auch, daß das Leben sicherlich dieses Fest verdient.
aus: Eduardo Galeano: Von der Notwendigkeit, Augen am Hinterkopf zu haben
Peter Hammer Verlag Wuppertal 1992