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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Bei uns in Deutschland gibt‘s schließlich keine Eingeborenen!

Günter Weller | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Die Präsidenten Lateinamerikas und der Karibikstaaten erklärten 1991 in Guadalajara/Mexiko, wo sie sich erstmals zu einem Gipfeltreffen mit Spanien und Portugal versammelt hatten: „Wir anerkennen den gewaltigen Beitrag der indigenen Völker zur Entwicklung und Vielfalt unserer Gesellschaften und bekräftigen unsere Verantwortlichkeit für ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstand wie auch unsere Verpflichtung, ihre Rechte und kulturelle Identität zu achten“. Die Bedeutung dieses Gipfeltreffen erhielt von anderer Seite seine Bestätigung. Die Vertreter indigener Völker erklärten zum Abschluß ihres 2. Gipfeltreffen am 8.10.1993 in Oaxtepec, Morelos/Mexiko: „Es ist nicht der Weg der Konfrontation, auf den wir die neuen Beziehungen zwischen unseren Völkern und den Nationalstaaten finden und aufbauen werden. Der Dialog, gegenseitiger Respekt und der würdige Umgang miteinander werden uns erlauben, eine neue Beziehung mit den nicht-indigenen Völkern zu erreichen, sowohl bei den Nationen untereinander als auch im Inneren unserer Länder. Damit kommen wir voran im Aufbau einer neuen Zukunft für unsere Völker und für die Menschheit insgesamt“.

Beim 2. Gipfeltreffen iberoamerikanischer Staaten unterzeichneten siebzehn Außenminister Lateinamerikas sowie die Vertreter Spaniens und Portugals am 24.7.1992 in Madrid den Konstituierungsvertrag des „Entwicklungs-Fonds für die indigenen Völker Lateinamerikas und der Karibik“. Nachträglich setzten auch Peru und Venezuela ihre Unterschriften unter der Vertrag. Damit unterstützen neunzehn Staaten des Subkontinents und die beiden europäischen „Mutterländer“ [1] diesen Entwicklungsfonds für die indigenen Völker der Region. Die Zielsetzung, gewählte Vertreter der Indigenas gleichberechtigt mit den Regierungsvertretern an den Entscheidungen des Fonds zu beteiligen, ist ein neuer Politikansatz, den man 502 Jahre nach der Eroberung Lateinamerikas als Sensation bezeichnen kann. Und auch hinsichtlich der Politik der Regierungen einzelner lateinamerikanischer Staaten in ihrem Verhältnis zur indigenen Bevölkerung ist diese Herangehensweise ein Novum. Ähnliches gab es bisher nicht. Erstmals wird den Vertretern indigener Bevölkerungsgruppen eine gleichberechtigte Entscheidungsbefugnis mit den Regierungsvertretern auf allen Arbeitsebenen eingeräumt. Die politische Initiative zur Fonds-Gründung kam von Jaime Paz Zamora; bis Mitte 1993 Präsident Boliviens. In diesem südamerikanischen Land bilden die Völker der Quechua und Aymara die Bevölkerungsmehrheit. Folgerichtig nahm der Fonds seinen Sitz in La Paz/Bolivien und richtete 1992 dort auch sein Technisches Sekretariat ein. Den Vorsitz des Fonds übernahm Mexiko. Auf einen mexikanischen Vorschlag hin wurde Rodolfo Stavenhagen zum Präsidenten des Fonds ernannt. Stavenhagen, ehemals langjähriger Präsident der Mexikanischen Akademie der Menschenrechte und einer der namhaftesten Soziologen Lateinamerikas, hatte sich bereits 1988 in seinem bei El Colegio de Mexico veröffentlichten Sammelwerk „Derecho Indigena y Derechos Humanos en America Latina“ (Indigenes Recht und Menschenrechte in Lateinamerika) der Dringlichkeit einer Anerkennung der Rechte der Urbevölkerung zugewandt. Die Aussagen dieses Buches belegen die Notwendigkeit, den Fonds als „verspätetes Werk der Gerechtigkeit“ anzuerkennen.

Anläßlich seiner Europareise und seines damit verbundenen Deutschlandbesuchs im Frühjahr 1993 stellte Paz Zamora als noch amtierender bolivianischer Präsident den Entwicklungsfonds für die indigenen Völker Lateinamerikas in Bonn und anschließend in Hamburg bei der Jahrestagung der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) vor. Bei seinen Gesprächen wurde jedoch deutlich, daß unter Lateinamerikanern und Europäern gleichermaßen eine bedrückende Unkenntnis über die sozialen und politischen Ursachen besteht, die diesen Fonds notwendig und unaufschiebbar machen. Da das Bewußtsein für die Ursachen der seit 500 Jahren andauernden Not der Indio-Völker Lateinamerikas noch sehr wenig ausgeprägt ist, wird die politische Dimension des Fonds kaum erkannt. Deshalb sind die nicht anerkannten Rechte der indigenen Bevölkerung besonders in der ihnen gewidmeten Weltdekade der Vereinten Nationen, die 1994 begann, auch in Lateinamerika ein so vordringliches Thema. Die Verwirklichung der Rechte der eingeborenen Völker ist nur möglich, wenn die verantwortlichen Politiker den politischen Neuansatz, der mit dem Fonds zum Ausdruck gebracht wird, zu ihrer eigenen Sache machen. Sie müssen die an den Entscheidungen beteiligten Vertreter indigener Bevölkerungsgruppen und Völker als gleichberechtigte Partner annehmen.

Im Deutschen Bundestag hat die SPD-Fraktion im Oktober 1993 zwei Entschließungsanträge eingebracht. [2] Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, die Rechte indigener Völker anzuerkennen und zu unterstützen. Das betrifft vor allem die Verabschiedung des im August 1993 von der zuständigen Arbeitseinheit der Vereinten Nationen (UN) vorgelegten Entwurfs einer „Allgemeinen Erklärung über die Rechte eingeborener Völker“ in der 49. Sitzungsperiode der UN-Generalversammlung. Im zweiten Antrag wurde darüber hinaus die Unterstützung des „Fondo Indigena“, des „Lateinamerikanischen Entwicklungsfonds für indigene Völker“, gefordert.

Seit Dezember 1993 wurden die Anträge in den zuständigen Ausschüssen beraten. Erste Zwischenergebnisse deuteten zunächst auf eine Zustimmung der Entwicklungspolitiker der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP zu den SPD-Anträgen und damit auf eine gemeinsame Unterstützung der Rechte eingeborener Völker hin. In der Sache wollten CDU/CSU und FDP ihre Positionen mit den Standpunkten der Sozialdemokraten auf eine Linie bringen. Dies sollte bis zum 20. April 1994 erfolgen. Zur Haltung der Bundestagsparteien in dieser Frage sei hier eine Bemerkung erlaubt. Der Deutsche Bundestag hat das Übereinkommen Nr. 169 der internationalen UN-Arbeitsorganisation (ILO) 1993 nicht ratifiziert. Das „Übereinkommen über Eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Staaten“ wurde im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorbereitet und 1989 vom höchsten Gremium dieser für Sozialfragen zuständigen internationalen Organisation unter der Nummer 169 angenommen. Es ist für jene Staaten völkerrechtlich bindend, die eine Ratifikation des Übereinkommens beim Sitz der ILO hinterlegt haben, wie z.B. Mexiko, Kolumbien und Bolivien. Grundsätzlich kann ILO-169 auch von Staaten ohne „eigene tribale“ Populationen ratifiziert werden, wie dies auch Österreich praktiziert hat. Organisationen indigener Völker fordern deshalb auch andere europäische Staaten zu diesem Schritt auf. Einer Aufforderung der Bundesregierung folgend verhinderte die parlamentarische Mehrheit der Regierungskoalition die Ratifizierung, obwohl sich die Entwicklungspolitiker im Parlament für die Anerkennung der Inhalte von ILO 169 ausgesprochen hatten. Die jetzt beratenen SPD-Anträge korrigieren teilweise die Nichtratifizierung vom Vorjahr zugunsten einer interfraktionellen Unterstützung für die Anerkennung der Rechte indigener Völker. Damit stellen sie sich hinter neue Politikansätze in Lateinamerika für eben diesen Teil der Bevölkerung. Diese neuen Ansätze kommen institutioneil auch im „Fondo Indigena“ zum Ausdruck.

Der mit der Verbesserung der Rechtssituation indigener Völker befaßte Antrag Nr. 12/5740 mündete bereits in einem interfraktionellen Antrag der SPD mit der Regierungskoalition CDU/CSU und FDP, der jedoch am 20. April 1994 von den Koalitionsfraktionen zu Fall gebracht wurde. Auch der Antrag Nr. 12/5739 zur Unterstützung des „Fondo Indigena“ sollte in einem interfraktionellen Antrag münden, um die notwendige parlamentarische Mehrheit sicherzustellen und ihm stärkeres politisches Gewicht zu geben. Danach wird sich vorerst eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit zwischen den Fonds und Deutschland auf die Prüfung prioritärer Bedarfsstudien konzentrieren. Die mehr als 100 vom Fonds bereits erstellten Bedarfsevaluierungen fußen auf von indigenen Bevölkerungsgruppen selbst beantragten vordringlichen Bedarf. An den Evaluierungen haben die indigenen Antragsteller entscheidend mitgewirkt. Auch das ist ein in Lateinamerika bisher nicht praktizierter Politikansatz zwischen Regierungen und indigenen Bevölkerungsgruppen. Deshalb begründen die SPD-Entwicklungspolitiker im Deutschen Bundestag ihre Anträge auch mit der vorrangigen Notwendigkeit für ein neues politisches Bewußtsein bei den Regierenden als Voraussetzung für die Achtung der Menschenrechte und der Rechte originärer Völker in Lateinamerika. Diese Begründung war auch maßgeblich für die bereits erfolgten Beitritte Spaniens und Portugals zum „Fondo Indigena“. Mit der Begründung, daß es in Deutschland ja keine Eingeborenen gäbe, wurde auch dieser Antrag von den Parlamentariern der Regierungskoalition bis zur Unkenntlichkeit verwässert.


 

Anmerkungen:

[1] Dies sind im einzelnen Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kuba, Dominikanische Republik, Ekuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Peru, Mexiko, Nikaragua, Panama, Paraguay, Uruguay und Venezuela sowie Spanien und Portugal.

[2] Vergleiche dazu die Dokumente 1 und 2 im Dokumententeil

ALASEI-Bonn Agencia Latinoamericana de Servicios Especiales de Informacion


 

Günter Weller
Journalist aus Bonn, geb. 1936 in Dresden, Studium in Buenos Aires, seit 1967 als Redakteur in der Lateinamerikaabteilung der DPA in Hamburg, seit 1984 als Korrespondent der von ihm gegründeten lateinamerikanischen Presseagentur Alasei in Bonn.

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