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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Zur Geschichte der Lateinamerikawissenschaften in der DDR

Max Zeuske | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Anliegen dieser Zeilen ist nicht die Bilanz, die nur Ergebnis kollektiver Klärungen sein kann und eine Aufgabe der Zukunft bleibt, sondern die Information. Doch auch sie kann nicht Vollständigkeit anstreben, sondern muß sich auf ein Gerüst aus Eckpunkten und „Meilensteinen“ beschränken. Selbst dabei ist Einschränkung erforderlich; daher die im Titel genannten „Anfange“. Nach dem Tode von Walter Markov, Manfred Kossok, Ursula Schlenther und Adalbert Dessau und dem durch komplexe Umstände erzwungenen Weggang von Friedrich Katz, nach dem vorzeitigen Tod von Eberhard Hackethal (der nicht zu den „Anfängern“ gehörte) ist der Verfasser einer der relativ ältesten oder gar der älteste der außer Dienst gestellten universitären DDR-Lateinamerikanisten, und sein Wunsch ist, einige der auf das Thema bezüglichen Erinnerungen rechtzeitig zu Papier zu bringen. Für die Gelegenheit dazu bedankt er sich bei den Herausgebern von QUETZAL. Für Erinnerungslücken und Fehlinterpretationen ist er selbst verantwortlich, aber auch für Hinweise offen.

Den Anfang der „Anfänge“ hat Walter Markov schon vor zwei Jahrzehnten in der Zeitschrift AALA [1] beschrieben, doch das Interesse hatte er schon im Jahrfünft vor jenem Jahr 1952 durch seine begeisternden Vorlesungen und Seminare in Leipzig und Halle geweckt. Mißt man die knapp vierzigjährige Geschichte der DDR-Lateinamerikanistik an ihren Wirkungen, also an ihren Publikationen, läßt sie sich in drei ungleich lange Perioden unterteilen. Die erste reichte vom Erscheinen der Markovschen Studien zu „Fragen der Genesis und Bedeutung der vorimperialistischen Kolonialsysteme“ (1954), „Zur geschichtlichen Stellung der Siedlungskolonie“ (1956) und (parallel dazu von Manfred Kossok und W. Markov gemeinsam) „Konspekt über das spanische Kolonialsystem“ (1955/56) bis zum Abschluß der ersten Promotionen in Leipzig und Rostock 1965/66 und zur Bildung des ZENTRAAL [2] Ende 1966. Diese erste Periode umschließt eine komplizierte institutionelle Entwicklung, die Antworten suchte teils auf die stürmischen weltgeschichtlichen Prozesse dieser Jahre, teils auf interne universitäre, aber auch außenpolitische Bedürfnisse der DDR. Im Mai 1960 bildete sich in Leipzig unter Leitung Kossoks ein „Arbeitskreis Lateinamerika“, der interessierte Leipziger (und Hallenser) Wissenschaftler und Studenten bei unregelmäßigen Veranstaltungen zusammenfaßte und im Juni 1961 mit der „Unterabt. Lateinamerika“ am Institut für Allgemeine Geschichte, Abt. Neuzeit eine institutionelle Basis erhielt. Schon im November 1960 wurden die verschiedenen Historikergruppen Leipzigs im „Forschungszentrum zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas“ unter Leitung von Walter Markov zusammengefaßt, um angesichts des Zerfalls der imperialistischen Kolonialsysteme eine Reorientierung auf mehr zeitgeschichtliche Fragen, wie den Neokolonialismus, zu erleichtern und zu befördern. Einen Monat später entstand an der Humboldt-Universität unter Leitung von Helmuth Stoecker die „Forschungsgemeinschaft für die Geschichte der Kolonial – und überseeischen Expansionspolitik des deutschen Imperialismus“, die auch einen „Arbeitskreis Lateinamerika“ unter Leitung von Friedrich Katz einschloß. Katz war aus Wien ebenso wie die Ethnologin Ursula Schlenther aus Hamburg 1956 in die DDR gekommen, womit auch dort eine Basis für lateinamerikanische Forschungen entstand. Sie zerfiel allerdings nach fruchtbarer Tätigkeit [3] 1970 mit dem Weggang von F. Katz. Obgleich Berlin (später mit Potsdam und Kleinmachnow) über eine ganze Anzahl von Wissenschaftlern und Funktionären verfügte, die sich vor allem seit den siebziger Jahren (mit Ausnahme von F. Trappen, der 1965 sein „Die kubanische Volksrevolution“ veröffentlichte, und Paul Halpap, Ökonom, der schon seit den sechziger Jahren publizierte) mit Lateinamerika befaßten, entstand auch in späterer Zeit keine disziplinäre oder interdisziplinäre Gruppe wieder. In diese erste Etappe fällt auch die Gründung des Lateinamerika-Instituts an der Universität Rostock, auf dessen Entwicklung weiter hinten eingegangen werden soll. Diese erste Periode endete mit der Umbildung des Leipziger Forschungszentrums zur Sektion für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften, parallel zur Gründung des ZENTRAAL (1966). Aus mehr (Leipzig, Berlin) oder weniger (Rostock) spontanen Anfängen entstanden, markiert spätestens dieses Datum Absicht und Durchsetzung der Zentralisierung auch der Lateinamerikawissenschaften.

In grober Kenntnis des institutionellen Rahmens kann man sich nun den inhaltlichen Fragen zuwenden. Die entscheidenden äußeren Anregungen empfing die entstehende Lateinamerikanistik von den weltgeschichtlichen Umwälzungen nach dem Sieg über den deutschen Faschismus (der heute aus so naheliegenden Gründen meist genüßlich als „National-Sozialismus“ bezeichnet wird) und über den japanischen Militarismus, vor allem in Außereuropa. Die inneren Erfordernisse dafür, sich den geschichtlichen Wandlungen und ihren Voraussetzungen dort zuzuwenden, waren nicht nur durch die angestrebte Überwindung des traditionellen Eurozentrismus gegeben, sondern in Deutschland überdies durch einen penetranten und blinden Germanozentrismus, wie er heutzutage wieder Mode zu werden droht. Um so wichtiger war es, die universelle Weltsicht des originären Marxismus zur Grundlage zu nehmen, aber auch das Erbe eines Karl Lamprecht sich kritisch anzueignen. Das kam den Bedürfnissen der Außenpolitik der DDR, die um ihre internationale Anerkennung kämpfen mußte, entgegen, obgleich die Lateinamerikanistik erst später und nur relativ selten zum Lieferanten außenpolitisch relevanter Untersuchungen wurde. Das unterschied die gesamte universitäre Lateinamerikanistik der DDR übrigens prinzipiell von ihrem Partnerinstitut der Moskauer Akademie der Wissenschaften. Dennoch haben ihre Protagonisten gerade in diesen frühen Jahren und mehr als ein Blick auf ihre Themen erwarten ließ, zur Anerkennung des zweiten deutschen Staates in einer Reihe lateinamerikanischer Länder beigetragen, und wiederum mehr durch Fernwirkung ihrer Arbeiten als etwa auf den wenigen Reisen, die damals möglich waren, oder bei den noch selteneren längerfristigen Arbeitsaufenthalten.

Aus wissenschaftlicher Sicht mußte zunächst die Grundlagenforschung betrieben werden. Auf dem Gebiet der Geschichte erfüllten diese Aufgabe in der ersten Etappe vor allem Walter Markov mit den bereits angeführten Arbeiten, Manfred Kossok und Friedrich Katz, dessen wichtigsten Arbeiten schon genannt wurden. Im Laufe nur eines Jahrfünfts folgten dem ebenfalls schon erwähnten „Konspekt“ die Kossokschen Arbeiten „Neuere Literatur zur Kolonialzeit“ und die „Grundzüge der sozialökonomischen Struktur des Rio de la Plata“ (beide 1956/57), gemeinsam mit W. Markov „Zur Stellung der Philippinen in der spanischen Chinapolitik“ (1958/59), über die Rolle der Mennoniten in Paraguay (1960) und wiederum gemeinsam mit W. Markov „Las Indias no eran colonias? Hintergründe einer Kolonialapologetik“ (1961). Markov schloß den kolonialhistorischen Zyklus zunächst ab mit „Sistemi coloniali e movimiento di liberacione“ (Rom 1961), während Kossok mit „Kolonialbürgertum und Revolution: Über den Charakter der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung (1810-1824)“ bereits eine erste Überleitung zu seinen vielfältigen Arbeiten zu den Unabhängigkeitsrevolutionen in Lateinamerika anlegte. Deren erster Höhepunkt war seine 1964 erschienene Habilitationsschrift „Im Schatten der heiligen Allianz. Deutschland und Lateinamerika 1815-1830. Zur Politik der deutschen Staaten gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung Mittel- und Südamerikas“ (Studien zur Kolonialgeschichte… Bd.4/5).

Die weltpolitische Entwicklung seit der 2. Hälfte der fünfziger Jahre forderte aber nun ihren Tribut auch von den Lateinamerikanisten: der aufmerksam verfolgte, dennoch unerwartet schnelle und als Sensation empfundene Sieg der Guerillabewegung auf Kuba und die demokratischen Bewegungen auf dem gesamten Subkontinent. Während die mit Afrika, Arabien und Asien verbundenen Regionalwissenschaften sich vor allem den vielfältigen Problemen des Neokolonialismus in ihren Regionen zuwandten, folgte für die Lateinamerikanisten in einer Art Zwischenetappe die Hinwendung zu fundamentalen Problemen „ihres“ Subkontinents. Der Verfasser legte 1963 seine „Grundzüge der Agrarfrage in Lateinamerika“ vor und publizierte 1964 – von Kuba aus, wo er Aufbau – und Lehrhilfe leistete – „Die Bildung des Partido Unido de la Revolucion Socialista de Cuba“; von F. Trappen erschien 1965 „Die kubanische Volksrevolution“ und J. Hell brachte 1966 seine „Kurze Geschichte des kubanischen Volkes“ heraus. J. Kubier veröffentlichte seine vielbeachteten zeitgeschichtlichen Arbeiten „Die Allianz für den Fortschritt. Wurzeln und Mißerfolg der strategisch-taktischen Neuorientierung der Lateinamerikapolitik der USA unter John F. Kennedy“ und „Politische Wandlungen in Lateinamerika und der Kurs des USA-Imperialismus“ (beide 1967). Auch Kossok wandte sich der Gegenwart mit Arbeiten zu, die zu einem guten Teil auf den Erfahrungen während seiner Gastlehrtätigkeit an der Universidad de Chile gründeten: „Revolution in Freiheit. Bürgerlicher Reformismus und christlich-demokratische Parteien in Lateinamerika“ (1965), „Armee und Politik m Lateinamerika“ (1966), hervorgegangen aus einem Hauptvortrag zur Leipziger Konferenz „Die politische Funktion der Armee in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas“ (Dezember 1966) sowie „Aktuelle Probleme der nationalen Befreiungsbewegung in Lateinamerika“ (1967), ebenfalls Ergebnis der Mitarbeit an der ersten vom ZENTRAAL veranstalteten internationalen Konferenz in Berlin „Probleme der nationalen Befreiungsbewegung“ (März-April 1967).

Nach drei Jahrzehnten sollte auch daran erinnert werden, daß die sechziger Jahre ein Jahrzehnt sowohl umfangreicher Solidaritätsaktionen mit Kuba waren – der USA-Überfall auf Kuba in der Bahia de Cochinos im April 1961, die Erklärung des „sozialistischen Charakters“ der Revolution, die sogenannte „Karibische Krise“ vom Oktober 1962, die die beiden Supermächte und damit die ganze Welt an den Abgrund des Atomkrieges führte, die USA-Intervention in der Dominikanischen Republik und die nachfolgende Johnson-Doktrin führten nicht nur in den sozialistischen Ländern, sondern in aller Welt zur Belebung demokratischer Massenbewegungen -, als auch infolge der Verletzung des kubanischen Souveränitätsgefühls durch die UdSSR und der damals entstehenden Focustheorie und -praxis in Lateinamerika eine Zeit heftiger Kontroversen, zu denen unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten keine einfachen Antworten möglich und keine simplen Pro- oder Kontrareaktionen zulässig waren. Es war auch erforderlich, sich zu den sich häufenden, wenngleich sehr differenzierten Militärputschen und -Staatsstreichen in Lateinamerika Stellung zu beziehen und sich auch in der Öffentlichkeit dazu zu äußern (angefangen von Brasilien 1961 bis zu Peru und Panama 1968 und dem mexikanischen Massaker auf dem Platz der Drei Kulturen). Dies alles löste nicht nur unter den Lateinamerikanisten heftige, allerdings meist intern geführte Debatten aus, sondern auch in der Öffentlichkeit. Und auch im eigenen „Lager“ war die Situation nicht einfach: Vietnamkrieg, Kontroversen und Konflikte zwischen der UdSSR und der Volksrepublik China, schließlich die ungerechtfertigte und beschämende Intervention in der CSSR… Die Situation in Lateinamerika und namentlich in Kuba blieb von all dem nicht unberührt.

Inzwischen begann sich zwischen den Lateinamerikanisten der DDR eine neue, den gewandelten Umständen, Bedingungen und Möglichkeiten entsprechende Arbeitsteilung herauszubilden. Sie ergab sich vor allem aus der Gründung der späteren Sektion Lateinamerikawissenschaften an der Universität Rostock. Deren Gründung resultierte aus mehreren Gesichtspunkten. Weder in Leipzig noch in Berlin, den bis zum Beginn der sechziger Jahre entstandenen Schwerpunkten der Beschäftigung mit Lateinamerika, gab es eine prägraduale Ausbildungsrichtung, die einer spezialisierten und interdisziplinären Studienrichtung zur Grundlage hätte dienen können. Die Geschichte Lateinamerikas wurde nur im Rahmen der Weltgeschichte, bestenfalls in speziellen Seminarveranstaltungen geboten; ähnlich war es in der Literaturwissenschaft, und in der Wirtschaftswissenschaft existierte nicht einmal diese Möglichkeit. Aber aus der angestrebten internationalen Anerkennung der DDR wie aus den im Aufbau befindlichen Handelsbeziehungen zu Ländern Lateinamerikas ergab sich bereits in den fünfziger Jahren sowohl ein akuter wie ein voraussehbarer Bedarf an Hochschulabsolventen, die als Dolmetscher und Übersetzer sowie als sprachkundige Mitarbeiter in außenpolitischen und Außenhandelseinrichtungen der DDR künftig gebraucht würden, möglicherweise – wie damals überlegt wurde – sogar in staatlichen Dienststellen und politischen beziehungsweise Massenorganisationen, dazu auch an den wenigen allgemeinbildenden Schulen, an denen das Fach Spanisch gelehrt werden sollte. Die Errichtung einer Ausbildungsinstitution interdisziplinären Charakters nach dem Modell der in angelsächsischen Ländern bestehenden „area oriented studies“, verbunden mit solider und praxisnaher Ausbildung in mehreren Fremdsprachen (nämlich neben Russisch und Englisch, Spanisch und Portugiesisch), erschien weder in Leipzig noch in Berlin tunlich, da die beiden größten Universitäten an die Grenzen der damals für optimal gehaltenen Kapazität und Strukturvielfalt gelangt waren. Es gab daher seit der Mitte der fünfziger Jahre sowohl im Bezirk Rostock selbst wie auch im Berliner Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen Überlegungen, ein solches Institut in Rostock anzusiedeln. Da bei der mit der Aufhebung der Länder (1952) durchgesetzten und sich verstärkenden Zentralisierung auch des Hochschulwesens die Existenz Romanistischer Institute an ausnahmslos allen Universitäten des Landes für überflüssig angesehen wurde, nutzte man das in Rostock bestehende gewissermaßen als Okulationsunterlage für ein künftiges Lateinamerikainstitut.

1958 wurde der Berliner Romanist und damalige Habilitationsaspirant Adalbert Dessau mit dem Auftrag an das Romanistische Institut Rostock entsandt, eine „ibero-amerikanische Abteilung“ parallel zur bestehenden Französisch-Abteilung aufzubauen. Das gelang ihm auch im Ansatz bis 1961. Im gleichen Jahr wurden erstmals Studenten für „Ibero-Amerikanistik“ immatrikuliert. 1964 wurde dann das „Lateinamerika-Institut der Universität Rostock“ gegründet, und die Französisch-Abteilung stellte ein Jahr später ihre Tätigkeit ein. Mit der III. Hochschulreform wurde daraus die „Sektion Lateinamerikawissenschaften“, ebenso wie in Greifswald die Sektion Nordeuropawissenschaften, in Berlin die Sektion Asienwissenschaften und in Leipzig die Sektion Afrika-Nahost-Wissenschaften entstanden. Die Gründung des Instituts bot den Vorteil, daß „created interests“ kaum im Wege standen, aber auch den großen Nachteil, daß die Universität Rostock weder über einschlägige bibliothekarische Fonds noch über jene gutbesetzten traditionellen Wissenschaftsgebiete in Geschichte, Literatur, Linguistik, Ökonomie, Geographie und Ethnologie verfügte, aus denen man junge Interessenten und Nachwuchswissenschaftler an Lateinamerika und seine vielfältigen Forschungsprobleme hätte heranführen und für das Institut gewinnen können. Das Institut wurde daher weitgehend zu einem Importeur von Lehrenden und Studierenden aus dem Binnenland. Das fing mit dem Direktor aus Sachsen an, dem Professor für Ökonomie Lateinamerikas, einem Thüringer, der dazu von Hause aus auch Geograph war, und dem für Geschichte, ebenfalls Thüringer, dessen Spezialgebiet eigentlich die südwestafrikanische Geschichte war, und auch in späteren Jahren ging es in der Regel so weiter. Allerdings hatte diese bunte „Blutmischung“ auch ihre Vorteile, aber bevor sie zur Geltung kommen konnten, waren viele Schwierigkeiten zu überwinden. Dennoch hat sich das Institut schon vor seiner offiziellen Gründung mit einigen internationalen Studentenkonferenzen, vor allem aber mit seiner ab 1965 erscheinenden Zeitschrift „Lateinamerika. Semesterbericht des Lateinamerika-Instituts der Universität Rostock“ (ab Herbstsemester 1965) bedeutende Verdienste um die Entwicklung der Lateinamerikawissenschaften in der DDR erworben. Allerdings hat es seine „Kinderkrankheiten“ nur recht langsam überwunden, wie etwa die anfängliche deutliche Anlehnung an die Struktur des Moskauer Lateinamerika-Instituts, vor allem bei der Konzipierung und Anlage einzelner seiner Wissenschaftsgebiete: statt Geschichte „Zeitgeschichte unter besonderer Berücksichtigung progressiver und revolutionärer Traditionen“, statt Philosophie „Ideologie“, statt Ethnologie „Indianische Sprachen und Kulturen“ u.a. Zumindest auf dem Gebiet der Geschichte entsprach das zwar der damaligen beherrschenden Position der Leipziger Lateinamerikahistoriker, doch eine solide Ausbildung war allein mit „Gegenwartsgeschichte“ nicht zu gewährleisten. Hier wie auf anderen Gebieten korrigierte das Leben manche Schemata. Eine spezielle Art von Arbeitsteilung gab es auch zwischen Rostock und Berlin. Während in Rostock die „Gegenwartsgeschichte“ gepflegt werden sollte, behielten sich das Zentralkomitee der SED und seine Institute die Behandlung der „Parteigeschichte“, das heißt, der kommunistischen Parteien Lateinamerikas sowie die Geschichte der Parteibeziehungen zwischen Deutschland/DDR und Lateinamerika vor; hinsichtlich Leipzigs betraf das auch die Geschichte der Kommunistischen Internationale in Lateinamerika (J. Mothes).

Andererseits blieb es bei einer mehr normalen Arbeitsteilung in der Literaturwissenschaft, soweit sie sich mit Lateinamerika befaßte, zwischen Leipzig, Berlin und Rostock. Auf dem Gebiet der ibero-amerikanischen Sprachwissenschaft dagegen vermochte das Rostocker Institut den Vorsprung der Leipziger mit der ab 1968 bestehenden Sektion Theoretische und Angewandte Sprachwissenschaft nicht aufzuholen. Abschließend eine Bemerkung zu den internationalen Beziehungen der Lateinamerikawissenschaften der DDR: Ohne sie wäre ihre Entwicklung vor allem in den Anfangsjahren wesentlich langsamer und schwieriger verlaufen. Das gilt sowohl für Kenntnisse und Kontakte, die zahlreiche und namhafte lateinamerikanische (und andere) Gäste beibrachten als auch für die Teilnahme der ersten Lateinamerikanisten an internationalen Kongressen, insbesondere an den Amerikanisten- und den Welthistorikerkongressen und im hohen Maße auch für die durch Freundschafts- und Kooperationsverträge mit Universitäten in Lateinamerika gesicherten Studien- und Arbeitsaufenthalte. Daneben hat besonders für die Ausbildung des Rostocker Nachwuchses die schon früh hergestellte Arbeitsbeziehung mit dem Lateinamerikainstitut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau eine wichtige Rolle gespielt. In den sechziger Jahren waren es vor allem die Beziehungen nach Kuba, Chile, Kolumbien und Uruguay, die halfen, die Isolierung zu überwinden und neue Einsichten zu gewinnen. Auch wenn aus finanziellen Gründen längerfristige Aufenthalte in Archiven oder gar echte Feldstudien nicht oder nur ganz selten möglich waren, so boten sie doch Gelegenheit zur „Autopsie“, Training zur Sprachbeherrschung, Literatur- und Materialaustausch und die Anknüpfung von Freundschaften, auch von Lehrer-Schüler-Partnerschaften, die die Zeiten überdauern.

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Etappen der DDR-Lateinamerikanistik

Erste Etappe 1952 bis Mitte der 60er Jahre: Schaffung der Grundlagen

Zweite Etappe Mitte 60er bis Ende 70er Jahre: Herausbildung der 2. Generation von Lateinamerikanisten, Gründung und erstes Wirken des „Wissenschaftlichen Beirats für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften“ im Oktober 1973; Beginn der multilateralen Zusammenarbeit in den Arbeitsgruppen der Kommission „Ökonomie und Politik der Entwicklungsländer“ der Akademien sozialistischer Länder ab 1974

Dritte Etappe Ende der siebziger Jahre bis 1990/91: personelles Breitenwachstum, zunehmende Schwierigkeiten in Kenntnisnahme der Quellen, der Literaturbeschaffung und der Publikation; 1990/91 Kampf gegen die Austrocknung und „Abwicklung“ der Institutionen, Arbeitsgruppen und Stellen für die Beschäftigung mit Lateinamerika.

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Max Zeuske:

geb. 1927 in Berlin; Studium der Geschichte in Leipzig; seit 1979 Professor für Geschichte ; 1981 bis 1985 Direktor der Sektion Lateinamerikawissenschaften der Universität Rostock; 1991 mit Abwicklung des Instituts im Vorruhestand. Auslandsaufenthalte in Chile, Ecuador, Kolumbien, Nikaragua, Peru, Uruguay und Venezuela.

Walter Markov:

geb. 1909 in Graz; gest. 1994 bei Berlin; studierte Geschichte, Geographie, Philosophie, Religionsgeschichte, Orientalistik und Slawistik in Leipzig, Köln, Berlin, Hamburg und Bonn. 1934 Promotion. Wegen Gründung einer Widerstandgruppe an der Bonner Universität 1935 Verurteilung zu 12 Jahren Haft; 1949 Berufung zum Professor und Institutsdirektor an der Leipziger Universität, wo er in den 50er Jahren gemeinsam mit Gelehrten wie Werner Krauss, Ernst Bloch und Hans Mayer das geistige Klima prägte. 1953 aus der SED ausgeschlossen. Markov gilt als Nestor der marxistischen Geschichtsschreibung der DDR und international als bedeutendster Revolutions- forscher im deutschsprachigen Raum. Zum Leben und Wirken Walter Markovs sei auf das Buch „Zwiesprache mit dem Jahrhundert“, Berlin und Weimar 1989 verwiesen.

Manfred Kossok:

geb. 1930 in Breslau; gest. 1993 in Leipzig; studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Leipzig sowie Geschichte Lateinamerikas in Köln. 1963 wurde er zum Professsor für allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Leipzig berufen. Als Gastprofessor arbeitete Kossok in Kolumbien, Peru, Chile, Uruguay, Kuba und den USA. Kossok war ein weltweit geachteter Kenner Lateinamerikas und Revolutionshistoriker.

Adalbert Dessau:

geb. 1928; gest. 1984; Studium der Romanistik in Berlin; seit 1958 an der Universität Rostock; dort 1960 Habilitation zum mexikanischen Revolutionsroman; anschließend Professur; 1960-1981 als Vorgänger von Max Zeuske Direktor der Sektion Lateinamerikawissenschaften; Studienreisen nach Mexiko, Brasilien, Chile und Kuba.

Friedrich Katz:

Nach seinem Weggang aus der DDR und einem Aufenthalt in seinem Geburtsland Österreich wurde Katz Professor in Chicago. Heute gilt er als eine der führenden Mexikanisten der Welt. Vgl. auch Interview mit Kießling in diesem Heft.

Jürgen Kubier:

geb. 1931; studierte Geschichte an der Universität Leipzig; 1969-79 Dozent für Allgemeine Geschichte; als Professor für Wissenschaftlichen Kommunismus Leiter der Forschungsgruppe „Lateinamerika“ ; mit Abwicklung der Sektion Politikwissenschaft und Soziologie 1991 in den Vorruhestand entlassen. Gastprofessuren und -Vorlesungen in Kuba, Chile, Uruguay, Argentinien, Ecuador, Nicaragua, Mexiko und den USA.

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Anmerkungen:

[1] in: Asien, Afrika, Lateinamerika (AALA), Berlin 1973, Bd. l, H.5, S. 790/791). Diese Zeitschrift wurde als erstes Fachorgan der DDR-Entwicklungsländerforschung vom Zentralen Rat für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften (ZENTRAAL) im Akademie-Verlag seit 1973 herausgegeben. Nach der Wende wurde die Herausgeberschaft von einem Ost-West-Gremium namhafter Wissenschaftler übernommen.

[2] Der ZENTRAAL – Zentraler Rat für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften der DDR -unterstand ursprünglich dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, wurde aber bereits im Mai 1969 der Koordinierung durch das Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg unterstellt.

[3] Während seiner wissenschaftliche Tätigkeit 1956 in Ostberlin erschienen u.a. folgende Arbeiten von Friedrich Katz:
– Die sozialökonomischen Verhältnisse bei den Azteken im 15. und 16. Jahrhundert, Promotion 1956;
– Deutschland, Diaz und die mexikanische Revolution, 1964;
– Der deutsche Faschismus in Lateinamerika 1933-1943, 1966;

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Literaturhinweise:

Für die frühen Jahre wird auf die „Wissenschaftlichen Zeitschriften. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe“ der Universitäten Berlin, Leipzig und Rostock verwiesen, daneben auf die „Studien zur Kolonialgeschichte und Geschichte der nationalen und kolonialen Befreiungsbewegung“ (Bd. 1-11 1959-1964; Bd. 12-24 unter dem Titel „Studien zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas (1966-1972) sowie auf „Die nationale Befreiungsbewegung – Jahresübersicht“ (L Band für 1963, Leipzig 1964), seit 1967 unter dem Titel „Asien- Afrika- Lateinamerika. Bilanz, Berichte, Chronik“. Ferner die „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ (ZfG) und „Militärgeschichte“. Wichtige Generalübersichten finden sich in den Sonderbänden der ZfG zu den Welthistorikerkongressen 1960, 1970 und 1980 (VIII. Jg. 1960, XVIII. Jg. 1970, XXVIII. Jg. 1980). Für den Madrider Kongreß 1990 wurde von Werner Pade und Max Zeuske ein vergleichbares Manuskript erarbeitet, fiel aber der „Wende“ zum Opfer.Ab 1965 erschien „Lateinamerika. Semesterbericht des Lateinamerika-Instituts der Universität Rostock“.

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