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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Argentinische Filmtage 2008 in Leipzig

Wencke Dittmann | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

argentinische_filmtage_leipzig_2008_01.jpgDie Leipziger Argentinischen Filmtage vom 1. – 9. Februar 2008 konnten in diesem Jahr mit einer breiten Palette an gut ausgewählten Filmen und einem interessanten Rahmenprogramm aufwarten. Der Aufwand, welcher durch die Verantwortlichen um Diego Serra (Festivalleitung) betrieben wurde, scheint sich gelohnt zu haben, kamen doch mit insgesamt 2.700 Besuchern mehr als doppelt so viele Besucher wie im vorangegangenen Jahr zu dem noch jungen Filmfestival. An Filmen gab es zum einen neue argentinische Filme aus den letzen Jahren, mit Camila, Esperando la carroza und La Patagonia Rebelde aber auch einige Klassiker des argentinischen Kinos zu sehen. Weiterhin standen cineastische Werke, die es bisher in Deutschland nicht oder kaum zu sehen gab, iberoamerikanische Koproduktionen und Dokumentar- und Kurzfilme auf dem Programm. Die Genre-Bandbreite reichte von Komödien über historische Dramen bis hin zu Dokumentationen mit politischen und gesellschaftskritischen Inhalten; wobei, aufgrund der anspruchsvollen Auswahl, kaum ein Film nicht überzeugen konnte. Den Jurypreis gewann der Film La cáscara, während das Publikum XXY zu seinem Favoriten wählte. Zum Rahmenprogramm des Festivals gehörte neben der Auftaktveranstaltung im Horns Erben, ein Tangonachmittag in der Moritzbastei und die Vorträge von Michael Riekenberg (Historiker) und Peter Gärtner (Politikwissenschaftler), beide Dozenten der Universität Leipzig. Da wir leider nicht alle Filme sehen konnten, werden im Folgenden die subjektiv ausgewählten Werke bewertet, unter denen sich aber das eine oder andere cineastische Highlight befindet.

Afroargentinos (Jorge Fortes, Diego H. Ceballos, Argentinien 2002, Doku)

Schwarze in Argentinien? Nicht nur in Europa ist kaum bekannt, dass es Schwarze in Argentinien gibt; auch in Argentinien selbst negiert man ihre Existenz. So entgegnete Ex-Präsident Carlos Menem während eines offiziellen Besuchs in den Vereinigten Staaten auf die Frage, ob es Argentinier mit afrikanischer Herkunft gebe: „Nein, wir haben keine Schwarzen. Dieses Problem hat Brasilien.“

Diese Aussage ist nur ein Beispiel aus einer langen Reihe rassistischer Bemerkungen von berühmten argentinischen Persönlichkeiten, die in dem sehenswerten Dokumentarfilm zitiert werden. Die Regisseure nutzen einen geschichtlichen Abriss der schwarzen Bevölkerung in Argentinien, von der Kolonialzeit bis heute, als roten Faden für ihre dokumentarische Arbeit. Den Hauptteil des Werkes bilden aber eine Reihe von Interviews mit Afroargentiniern verschiedenster Herkunft und Berufe, die von ihren persönlichen Erfahrungen in der angeblich völlig europäisch-stämmigen argentinischen Gesellschaft erzählen.

Interviews, historische Szenen und Zitate gehen fließend ineinander über und geben dem Zuschauer einen guten Eindruck davon, wie Afroargentinier in Argentinen behandelt wurden und werden. Es wird klar, dass die argentinische Gesellschaft äußerst rassistisch war und es auch heute noch ist. Das kaum bekannte Thema ist von Jorge Fortes und Diego H. Ceballos sehr gut und seriös aufgearbeitet worden. Der Dokumentarfilm ist auf jeden Fall zu empfehlen.

Camila (María Luisa Bemberg, Argentinien 1984)

1847 kam es in Argentinien zu einem Skandal. Camila O`Gorman, Tochter aus gutem Hause in Buenos Aires, brannte mit dem Jesuitenpartner Ladislao Gutierres durch. Das Paar wurde wegen der verbotenen Beziehung auf Befehl der Regierung aufgespürt und erschossen.

Der Film Camila, ein argentinischer Klassiker, bezieht sich auf die lange in Argentinien tabuisierte Geschichte. Sehr dramatisch werden Liebe, Flucht und Tod von Camila und Ladislao in Szene gesetzt, so dass man gut beraten ist, sich vor Filmbeginn mit Taschentüchern auszustatten. Jedoch geht es um wesentlich mehr als um kirchlich und gesellschaftlich verbotene Liebe. Neben einigen Andeutungen auf die politische Situation, zeigt die Regisseurin vor allem die Stellung der Frauen im Argentinien des 19. Jahrhunderts. Die selbständige Camila, mit ihren eigenen Vorstellungen und ihrer eigenen politischen Meinung, stellt ein gesellschaftliches Problem dar, da sie nicht in das Schema einer gehorsamen, niemandem widersprechenden jungen Frau passt. Wie sich eine Frau zu fügen hat, wird in den Dialogen mit dem Vater und durch die Rollen der anderen weiblichen Familienmitglieder demonstriert.

Der Film ist sehenswert, allerdings sollte man dafür ein sehr gefühlsbetontes und melodramatisches Kino lieben.

Estrellas (Federico León/ Marcos Martínez, Argentinien 2007, Doku)

Der Dokumentarfilm mit fiktiven Einflüssen stellt das Werk und die Ideen Julio Arrieta’s, Bewohner des Armenviertels Villa 21 in Buenos Aires, dar. Arrieta, selbst Schauspieler, Leiter einer Theatergruppe und vieles mehr, ist zum Manager für Komparsen und Darsteller aus Villa 21 geworden. Für Filmszenen, die in einem Armenviertel handeln sollen, stellen die Bewohner von Villa 21 sich selbst dar: Arme in allen vom Regisseur gewünschten Lebenslagen. Arrieta ist Entdecker dieser „Marktlücke“, der Ansprechpartner für bekannte und unbekannte Filmproduzenten und scheint recht erfolgreich damit zu sein, den Bewohnern von Villa 21 Arbeit zu besorgen. Aber geht es ihm um viel mehr: Kultur und Kunst in Villa 21 zu fördern, Projekte auf die Beine stellen, die es in Armenvierteln normalerweise nicht gibt und Villa 21 vor allen seinen Bewohnern aus einem neuen Blickwinkel zu zeigen.

Sehr geschickt stellen Federico León und Marcos Martínez die Welt Arrieta’s durch Interviews sowie Szenen aus seinem Leben und Werk dar, so dass dem Zuschauer nie langweilig wird. Ganz im Gegenteil regt die Art wie Arrieta seine Arbeit, seine Ideen und sich selbst vorstellt, sehr zum Schmunzeln an. Außerdem zeigt der dokumentarische Film genau das, was Arrieta will: Kunst und Kultur sind auch in einem Armenviertel möglich.

Fusilados en Floresta (Diego H. Ceballos, Argentinien 2005, Doku)

argentinische_filmtage_leipzig_2008_04_fusilados_en_floresta.jpgFusilados en Floresta setzt sich mit der Ermordung dreier völlig unschuldiger Jugendlicher in einem Vorort von Buenos Aires durch einen Bundespolizisten im Jahr 2001 auseinander. Das Verbrechen steht im Zusammenhang mit vorangegangen Unruhen aufgrund der sozialen Lage der Bevölkerung infolge der anhaltenden argentinischen Wirtschafts- und Finanzkrise. Auch das repressive Vorgehen der Polizei, durch welches einige Tage vorher 30 Menschen getötet wurden, trug zu der angespannten Situation bei.

Die Dokumentation versucht anhand des Schicksals der drei jungen Männer nicht nur die Tat zu rekonstruieren und ihre Sinnlosigkeit darzustellen, sondern auch eine historische und soziologische Analyse für die fast schon traditionelle staatliche Gewalt und das Versagen des Ordnungs- und Justizsystems in Argentinien zu liefern. Letzteres gelingt allerdings weniger überzeugend. Man wünscht dem Regisseur, er hätte sich nur auf die eigentliche, tragische Geschichte konzentriert und die Analyse in einem weiteren Werk versucht, welches eine größere Bandbreite an Fällen und Beispielen hätte abdecken können.

Die Tragik der Vorkommnisse wird teilweise mit einer etwas zu melodramatischen Musik unterlegt, die den Rezipienten fast schon zu einer sentimentalen Reaktion zwingt. Sie kanalisiert aber auch den angestauten Zorn und die Ohnmächtigkeit über die Ereignisse, welche in dieser aufwühlenden Dokumentation präsentiert werden.

La patagonia rebelde (Héctor Olivera, Argentinien 1974)

argentinische_filmtage_leipzig_2008_05_la_patagonia_rebelde.jpgDen Veranstaltern der argentinischen Filmtage gebührt ein Glückwunsch für die Aufnahme dieses Historien-Dramas mit Klassikercharakter in das diesjährige Programm. Der Film, welcher auf historischen Gegebenheiten beruht, ist ein herausragendes Portrait der rauen patagonischen Lebensrealität der 1920er Jahre. Er zeichnet ein Bild vom Klassenkampf zwischen den englischen Estancia-Besitzern und den ebenfalls eingewanderten, sich in anarchistischen, syndikalistischen, sozialistischen und kommunistischen Gewerkschaften organisierenden, Estancia-Arbeitern. Der Konflikt kulminiert 1922 letztendlich in einem vom Militär verübten Massaker an den Landarbeitern, welche für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und die Freilassung ihrer inhaftierten Gewerkschaftsfunktionäre gestreikt hatten.

Unter der Regierung Juan D. Perón (1973/74) wurde der Film zunächst von der Zensur verboten und dann wieder zugelassen, nur um unter der an die Macht gelangten Witwe des verstorbenen Präsidenten, Isabel Perón und in den Jahren der Militärjunta wieder der Zensur zum Opfer zu fallen.

Das Werk besticht durch eine, mit langsamen Kamerabewegungen, Groß- und Nahaufnahmen der Protagonisten und entsprechender Musik, an das Western-Genre angelehnte Inszenierung. Es ist spannend wie ein Krimi erzählt und gibt trotzdem die historischen Fakten und Umstände gut wieder. Ein wirklich sehenswerter Film, von dem nur noch wenige Originale auf Filmrolle existieren sollen!

Trelew (Mariana Arruti, Argentinien 2003, Doku)

In die thematische Reihe der bisher besprochenen Filme mit (sozial)politischem Hintergrund reiht sich der Dokumentarfilm Trelew fast nahtlos ein. Er erzählt die hochspannende und tragische Geschichte einer nur teilweise geglückten Flucht von politischen Gefangenen aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Rawson in der argentinischen Südprovinz Chubut während der Präsidentschaft des vom Militär ernannten Alejandro Lanusse im Jahr 1972. Während des Ausbruchs von fast 100 Inhaftierten schaffen es nur einige Wenige sich vom Provinzflughafen Trelew mit einem Flugzeug in das sozialistische Nachbarland Chile abzusetzen. Bei dem anschließend vom Militär „statuierten Exempel“ an jenen, denen die Flucht nicht gelang, sterben 13 Menschen, nur drei überleben. Auch die Bewohner des Ortes werden später vom Militär zur Rechenschaft gezogen.

Zu Wort kommen Beteiligte des Ausbruchs und Augenzeugen aus dem Ort selbst. Gefilmt wurde auch an den Schauplätzen des Geschehens, wie dem ehemaligen Gefängnis, welches heute nur noch als halb verfallenes Zeugnis der Ereignisse inmitten der argentinischen Pampa steht. Leider war es wahrscheinlich dem Ort der Spielstätte (Cineding, Karl-Heine-Strasse) geschuldet, dass sich nur ein kleines Publikum die Doku ansah, welche nicht so sehr durch die Bilder, dafür aber durch eine wirklich interessante Darstellung des Geschehens durch die beteiligten Zeitzeugen bestechen kann.

XXY (Lucía Puenzo, Argentinien/Spanien/Frankreich 2007)

Alex ist zwar als Mädchen aufgewachsen, ist aber mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet. Die Eltern sind nach ihrer Geburt von Buenos Aires in eine abgelegene Hütte an der uruguayischen Küste gezogen, so dass ihr Kind beschützt aufwachsen kann. Als Alex 15 ist, kommen Freunde der Eltern mit ihrem Sohn Alvaro zu Besuch. Alvaros Vater, ein plastischer Chirurg, interessiert sich für Alex aus medizinischer Sicht. Alex interessiert sich für Alvaro. Zum gleichen Zeitpunkt kommen erstmals Gerüchte über Alex im nahe gelegenen Küstenort auf, wo man bisher nichts von ihrem Geheimnis wusste.

Lucía Puenzo zeigt auf sehr ruhige, eindringliche Art die Verwirrung von Alex über ihre sexuelle Identität, sowie die Besorgnis und Unsicherheit ihrer Eltern, die das Beste für sie wollen, aber nicht wissen, was sie tun sollen. Die überwiegend schroffen und knappen Dialoge zwischen den wenigen Schauspielern werden von ausdrucksstarken Bildern und Handlung ohne Worte ergänzt.

Der Film ist sehr zu empfehlen. Neben anderen Filmpreisen bekam er dieses Jahr in Spanien den Goya für den besten ausländischen Film. Von den Leipziger Zuschauern wurde er zum Publikumsliebling gewählt. Abgesehen davon, ob man sich für das leider viel zu stark tabuisierte Thema interessiert oder nicht, handelt es sich schlicht und ergreifend um exzellentes Kino.

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