Wer bei „Mord in Haiti“ einen Krimi erwartet, wird bitter enttäuscht sein. Das sei gleich zu Beginn gesagt. Dieser Film ist eher ein Kammerspiel, das sich in gut zwei Stunden auf ein sehr überschaubares Ensemble von Personen beschränkt. Und auch, wenn am Ende ein Mord geschehen sein wird – genaugenommen passiert nicht allzu viel.
Die Handlung spielt auf einem Grundstück in Pacot, einem Nobelviertel in Port-au-Prince, unmittelbar nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar 2010. Die wichtigsten handelnden Personen sind ein haitianisches Paar, der französische Entwicklungshelfer Alex, seine sehr junge haitianische Freundin Andrémise und Joseph, der Hausangestellte des Paars. Ähnlich wie in der Schöpfungsgeschichte zählt der Film die Tage der Handlung.
Das Paar ist obdachlos geworden, das villenähnliche Haus ist nicht mehr bewohnbar, das Restwasser im Pool wurde zum Wasserreservoir. Der Mann und die Frau haben im Film keinen Namen. Sie werden auch nicht näher vorgestellt. Man erfährt lediglich, dass sie wohlhabend sind, eine gute Ausbildung haben und sich einst in Europa kennenlernten. Sie sind kultiviert und weltläufig. Und sie hatten ein armes Kind adoptiert, das das Erdbeben nicht überlebt hat.
Da ein Beauftragter des Bauamts den Abriss des Hauses androht, wenn nichts für die Instandsetzung getan wird, beschließen die beiden, einen Mieter zu suchen, um mit der Miete die Reparaturen zu finanzieren. Und so ziehen Fremde in ihr Heim: Alex, ein weißer Entwicklungshelfer und die lebensfrohe Andrémise. Damit treffen sehr unterschiedliche Welten aufeinander: Schwarze und Weiße, Haitianer und westliche Helfer, reiche und arme Haitianer. Alex, der selbst aus einfachen Verhältnissen stammt, genießt seine Privilegien und fühlt sich als stolzer Helfer. Grundsätzlich scheint es, als diene die Hilfe vor allem den (weißen) Helfern selbst: Alex, der weder Land noch Leute versteht, Leonetti, der italienische Beauftragte des Bauamts, der nur Anweisungen ausführt oder die Verantwortlichen (von der UNO?), die in einer zerstörten, im Chaos versunkenen Stadt die Straßen in einem Luxusviertel fegen lassen. In den Augen der Haitianer, die zu Befehls- und Almosenempfängern werden, machen sie alle „nichts als leere Versprechungen“.
Aber die Haitianer gibt es nicht. Das reiche Paar, das nur schwer mit den veränderten Anforderungen zurechtkommt, versucht in einer Situation, die alle Unterschiede zunächst eingeebnet hat, in der „alles allen gehört“, seine Stellung zu behaupten, ja, sich nicht mit den Armen gemein zu machen. Waren sie nicht vor kurzem selbst noch „Entwicklungshelfer“, die ein armes Kind adoptiert hatten, um – wie sie wiederholt betonen – zu helfen?
Auch Andrémise, die jetzt in dem halbzerstörten Haus wohnt, das nach wie vor vom Reichtum seiner Besitzer zeugt, weiß um die sozialen Gegensätze. Doch anders als das wohlhabende Paar versucht sie, ihr Schicksal aktiv zu verändern, trotz der Verluste durch das Erdbeben. Ebenso wie ihre Freunde und der Hausangestellte Joseph, der kein Hausangestellter mehr sein will, blickt sie nach vorn, in die Zukunft. Der Mann und die Frau agieren lange Zeit geradezu apathisch und betrauern ihr Schicksal, aktives Handeln gegen das Chaos hält insbesondere der Mann für sinnlos. Er hat aufgegeben. „Alles tot. Du, ich, diese Stadt, dieses Land.“
Der verzweifelte Versuch des Mannes, Handlungsautonomie wiederzuerlangen – „Ich will auch leben!“ –, endet schließlich in der Katastrophe. Er tötet Andrémise, die ihn fasziniert und beunruhigt.
Der Mord ist wie eine Katharsis. Am neunten Tag steht das Paar zusammen mit Alex einträglich neben dem verbliebenen blank geputzten Auto und beobachtet, geradezu gelassen, den Abriss des Hauses. Man gehört irgendwie zueinander. Die Ordnung scheint wieder hergestellt.
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Mord in Haiti (Meurtre à Pacot). Haiti/ Frankreich/ Norwegen 2014. Regie: Raoul Peck.
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