Vom 26. Mai bis 9. Juni 1998 stand das Internationale Wiener Filmfestival Viennale ganz im Zeichen des 68er Films. Das Jahr der gesellschaftlichen Zäsur hat auch auf den internationalen Leinwänden seine Spuren hinterlassen. Während die Protagonisten der revolutionären Bewegungen in den westlichen Metropolen und der Dritten Welt noch an eine Wende glaubten, begannen sich die Verhältnisse bereits wieder konservativ zu verfestigen. Wie radikal hat 1968 die Welt wirklich verändert? Wurden nicht im Verlauf der revolutionären Niederlagen auch Kräfte mobilisiert, die nichts mehr so sein ließen, wie es vorher war? Insbesondere das Kino erreichte eine neue Dimension, entstanden doch erstmals verschiedene Alternativen zur Hegemonie Hollywoods. Der argentinische Regisseur Fernando E. Solanas strebte ein „Drittes Kino“ aus der „Dritten Welt“ an, welches schließlich seinen Höhepunkt im Revolutionstheater des Brasilianers Glauber Rocha finden sollte. Chris Marker charakterisierte das Kino von vor 20 Jahren so: „Vor allem war aber endlich ein Dialog möglich, zwischen all den Stimmen, die für einen kurzen Augenblick eine lyrische Illusion von 68 zusammengebracht hatten. Als sie sich wieder verliefen, kehrte jeder einzelne in seine triumphierende oder zornige Eintönigkeit zurück.“
Auch im umfangreichen Wiener Festivalprogramm dominierten wieder die US-amerikanischen Beiträge. Die vier vertretenen Filme aus Lateinamerika sind jedoch spannende Zeitzeugen eines heftigen intellektuellen Widerstandes gegen den Neokolonialismus und bestechen im Gegensatz zu vielen künstlerischen Experimenten im Westen durch ihre starke politische Aussagekraft.
Der brasilianische Film Terra em Transe von Glauber Rocha beschreibt beispielsweise die Vision eines sterbenden Dichters, der sein Leben lang mit der Macht paktierte, gegen sie opponierte und schließlich resignierte. In einer Kritik von 1968 wird dieser Film als einer der wenigen revolutionären bezeichnet, da nicht sein Thema die Revolution sei, welche sich den bürgerlichen Idealen unterordnet, sondern der Film selbst die Revolution ist. In O dragão da malade contra o santo guerreiro – Antonio das Mortes entwirft Rocha ein blutig-radikales Bild von jungen, stolzen Nationalisten. Er glorifiziert die Volksmythologie und Legenden der wilden brasilianischen Banditengeschichten, der cangaceiros. So ist auch der Protagonist Antonio das Mortes ein ehemaliger Bandit, der nun als berufsmäßiger Killer für die reichen Landbesitzer und die Kirche seine früheren Kameraden jagt. Rochas brutale Geschichten sind erschütternde Zeugnisse des Verfalls einer Gesellschaft, ohne Tradition, Ehre und Moral.
Der Kubaner Santiago Alvarez polemisiert in LBJ böse und aggressiv gegen die Brutalität des „Durchschnittsamerikaners“, den er im Prototyp des damaligen US-Präsidenten Johnson verwirklicht sieht. Alvarez lässt Martin Luther King ebenso wie J. F. Kennedy an ihren Illusionen scheitern. Sie hätten die barbarischen Gesetzmäßigkeiten ihrer eigenen Gesellschaft unterschätzt.
Zu den Höhepunkten dieser Festspiele zählte sicherlich der vierstündige Essay-Film La hora de los hornos des Argentiniers Fernando E. Solanas. Er schuf einen marxistischen Film, der voller Stolz, Leidenschaft und Subjektivität zur vernichtenden Anklage des amerikanischen Imperialismus in Lateinamerika wird. Radikale und provozierende Parolen schlagen auf den Zuseher ein. Der ständig wiederholte Aufruf zur gewaltsamen Revolution gegen den Feind Neokolonialismus wird von romantischer Musik untermalt. Für Solanas ist der Aufruhr von 1968 in der westlichen Welt zu einer schlechten Kopie der ursprünglichen Intention degradiert. People are taught to think in English – die vermeintlich moderne und rebellische Jugend habe sich selbst kolonialisiert und von der US-Amerikanisierung abhängig gemacht. Lateinamerika besitze nur noch eine eurozentristische Second-Hand-Kultur. Es sei nun an der Zeit, für eine neue Geschichtsschreibung zu kämpfen. Schließlich bedient sich Solanas der pathetischen, beinahe sentimentalen Verehrung der kubanischen Revolution. Der starre Blick des toten Che Guevara soll dem Zuschauer drogengleich Motivation zur Rebellion sein. La hora de los hornos ist ein kommunistisches Manifest in Bildern. Ein ausblutender Stier wird zum Symbol für einen ausblutenden Kontinent. Un pueblo sin odio no puede triunfar – so lautete 1968 die finale Botschaft Solanas‘.