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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Sammelrezension: Von Kokainmeeren, Todeskorridoren, Drogenkartellen und Favelas

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 20 Minuten

Lateinamerika als Exempel für das Scheitern des War on Drugs

Boullosa, Carmen/Wallace, Mike: Es reicht! Mexiko und der gescheiterte War on Drugs. Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2015

Glenny, Misha: Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart 2016

Martínez, Óscar: Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika. Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2016

Pérez, Ana Lilia: Kokainmeere. Die Wege des weltweiten Drogenhandels. Pantheon Verlag, München 2016

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Bei den hier rezensierten Büchern handelt es sich um Übersetzungen von Autoren, die sich in unterschiedlicher Weise mit dem Drogenhandel in Lateinamerika beschäftigen, wobei der Schwerpunkt auf der Entwicklung seit 2000 liegt. Alle vier sind 2015 bzw. 2016 in Deutschland publiziert worden, davon zwei auch als Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung (Boullosa/Wallace und Martínez). Zusammen ergeben sie ein vielfältiges Bild, das geographisch von einer globalen Perspektive (Pérez) über das regionale Mosaik Zentralamerikas (Martínez) und die bilaterale Drogengeschichte beiderseits des Rio Bravo (Boullosa/Wallace) bis hin zu lokalen Ereignissen in Rio de Janeiro (Glenny) reicht. Zeitlich umfassen die vier Bücher eine Spanne, die einen Bogen von der Karriere eines 2011 verhafteten Drogenbosses (Glenny) bis zur 100-Jahre-Bilanz des von den USA und Mexiko geführten Drogenkrieges schlägt (Boullosa/Wallace). „Kokainmeere“ liegt in seiner geschlossenen Darstellung näher bei „Es reicht!“, während das Buch von Martínez eine Sammlung von Berichten aus den Jahren zwischen 2011 und 2015 enthält. Bei der literarischen Form kann der Leser also zwischen historischer Gesamtschau (Pérez bzw. Boullosa/Wallace), kurzen Reportagen (Martínez) und der Lebensgeschichte eines Kriminellen aus der Favela Rocinha (Glenny) wählen. Die Autoren sind entweder angloamerikanischer (Glenny und Wallace) oder lateinamerikanischer Provenienz (Boulloso, Martínez und Pérez).

Óscar Martínez (Jahrgang 1978) hat bereits mit seinem ersten Buch, das 2010 unter dem wenig spektakulären Titel Los migrantes que no importan erschienen ist, einen größeren Leserkreis erreicht. Auf dem Zug la bestia begleitete er über zwei Jahre hinweg Migranten aus Zentralamerika von Chiapas bis an die 3.000 Kilometer lange Nordgrenze Mexikos. Seiner hier rezensierten „Geschichte der Gewalt“ liegt die 2016 auf Englisch erschienene Kompilation von 14 Reportagen zugrunde, die er für die online-Zeitschrift „El Faro“ verfasst hat.

Ana Lilia Pérez (Jg. 1976) ist eine der profiliertesten mexikanischen Enthüllungsjournalistinnen. Sie hat mehrere Bücher über die Verquickung von Mafia, Unternehmen und Regierung geschrieben. Wegen ihrer Recherchen musste sie Einschüchterungsversuche aller Art erfahren. 2012 ging sie deshalb für zwei Jahre ins Exil nach Deutschland. „Kokainmeere“ ist 2014 im spanischen Original in Barcelona erschienen. Ein neues Buch handelt von der Ermordung von 43 Studenten aus Ayotzinapa (Mexiko) – ein Verbrechen, das auch bei Boullosa und Wallace eine zentrale Rolle spielt.

Carmen Boullosa (Jg. 1954), eine bekannte mexikanische Schriftstellerin, hat sich zusammen mit dem US-amerikanischen Historiker und Pulitzer-Preisträger Mike Wallace (Jg. 1942) einem Thema gewidmet, das die enge Verwobenheit der Geschichte ihrer beiden Heimatländer aus der Perspektive des Drogenkrieges auf höchst anschauliche Weise aufzeigt.

Das Lebensthema des britischen Journalisten Misha Glenny (Jg. 1958), der zahlreiche Artikel für den Guardian, den Observer und die New York Times geschrieben hat, ist die organisierte Kriminalität. Er war von der Lebensgeschichte seiner Hauptfigur Nem, bis zur spektakulären Verhaftung 2011 der meistgesuchte Verbrecher Rios, so fasziniert, dass er Portugiesisch lernte und drei Monate in der Favela Rocinha lebte, um das Leben dort besser verstehen zu können.

So unterschiedlich wie die fünf Autoren und Autorinnen sind auch die Bücher, die nun kurz vorgestellt werden sollen.

Kokainmeere

Gelesen: Pérez, Ana Lilia: Kokainmeere. Die Wege des weltweiten Drogenhandels - Foto: Screenshot„Kokainmeere“ beschreibt die globale Geoökonomie des maritimen Drogenhandels. Meere, Häfen, Schiffe, Routen und Kartelle werden in einem breiten geografischen Bogen vorgestellt, der von Lateinamerika über Europa bis nach Afrika und Australien reicht, wobei der Fokus auf dem erstgenannten Kontinent liegt. Die dabei gewählte maritime Perspektive erklärt sich daraus, dass heute „siebzig bis achtzig Prozent des weltweit konsumierten Kokains auf dem Seeweg verschoben“ werden (Pérez, S. 35). Von zentraler Bedeutung im weltweiten Drogenhandel sind zweifelsohne die mexikanischen Kartelle (S. 47). Das Buch beginnt mit den „Schiffen der Drogendealer“ (S. 17-46), um dann auf Kolumbien, den wichtigsten Kokainproduzenten Lateinamerikas, einzugehen (S. 47-84). Die dortigen Kartelle, benannt nach dem geographischen Ort ihrer Haupteinflussgebiete (Medellín, Cali, Norte del Valle) haben die Lage ihres Landes zwischen Pazifik und Karibik geschickt dazu genutzt, die günstigsten Transportrouten zu den wichtigsten Konsumentenmärkten in den USA und Europa aufzubauen. Zwei „Erfolge“ des von den USA  Anfang der 1970er Jahre gestarteten War on Drugs haben bewirkt, dass nunmehr mexikanische Kartelle die Spitzenposition auf dem globalen Kokainmarkt erobert haben. Die Anti-Drogen-Politik Washingtons, die einseitig auf die Angebotsseite fixiert ist, konnte in den 1990er Jahren zwar die Zerschlagung der kolumbianischen Kartelle und die massive Störung der Kokainrouten durch die Karibik erreichen. Dies führte jedoch nicht zum Ende oder Abflauen des Drogenhandels in der Region. Im Gegenteil: An die Stelle der Kolumbianer trat die mexikanische Mafia, die nicht nur die strategischen Zugänge zur 3.000 Kilometer langen nördlichen Landgrenze zu den USA kontrolliert, sondern inzwischen auch die Weltmeere erobert hat (S. 85-111).

Im folgenden Kapitel des Buches werden die Mittelamerikarouten (S. 113-130) genauer unter die Lupe genommen, auf die noch einmal bei der Besprechung des Buches von Martínez zurück zu kommen sein wird. Danach rückt Brasilien, „das neue Paradies des Kokains“ (S. 131-144), in den Fokus, gefolgt von kurzen Überblicken über die Situation in Argentinien, Peru und Ecuador (144-146) sowie Venezuela (147-151). Die zweite Hälfte des Buches widmet sich hauptsächlich dem transatlantischen Drogenhandel. Die nach Ländern bzw. Meeren geordneten Kapitel beginnen mit Spanien (S. 153-173), dem „Tor nach Europa“ (S. 171). Auf die „Grande Nation“ (S. 175-182) folgt Deutschland (S. 183-202), das im globalen Drogenhandel als „Umschlagplatz und Top-Konsumland“ fungiert. Am Beispiel Hamburgs, nach Rotterdam „der zweitwichtigste Hafen des alten Kontinents“ (S. 183) und zugleich Drehscheibe für die in Europa agierenden Mafiaorganisationen (S. 185), wird die Rolle der deutschen Häfen als „Stützpunkte der Rauschgifthändlerringe“ (S. 193) näher beleuchtet. Italien (S. 245-248), Portugal (S. 249-270) und Großbritannien (S. 271-289) runden die europäische Länderschau ab. Daneben geht die Autorin auf die Bedeutung des „Teufelsmeeres“ (Ostsee) und der „Kängururoute“ (Australien) ein (S. 203-220).

Die globale Dimension des Kokainhandels wird noch einmal im letzten Kapitel über den „Highway 10 – Die Autobahn der Drogenhändler“ (S. 291-314) herausgearbeitet. Dieser zieht sich zehn Grad nördlich des Äquators von Costa Rica und dem nördlichen Südamerika durch 13 afrikanische und fünf asiatische Länder bis nach Mikronesien. Er verbindet drei Ozeane – den Pazifischen, Atlantischen und Indischen – sowie „zahlreiche Buchten und Meere der fünf Kontinente“ miteinander (siehe dazu auch die Karte auf der inneren Umschlagseite am Ende des Buches). „Da es auf dieser Schiffsroute zahllose Möglichkeiten gibt, jeden beliebigen Ort der Welt durch weitgehend unbewachte Gewässer zu erreichen, hat sich der zehnte Breitengrad zum Lieblingstransportweg der Drogenhändler entwickelt“ (S. 291). Obwohl diese Narcoroute erst seit 2004 (!) benutzt wird (S. 292), hat sie vor allem für Afrika gravierende negative Folgen. Die global agierende Drogenmafia hat dort innerhalb von zehn Jahren regelrechte Narcostaaten – von Pérez am Beispiel von Guinea-Bissau ausführlicher dargestellt (S. 298-302) – geschaffen und ihre Netzwerke agieren dort „wie neue Kolonialmächte“ (S. 291).

Todeskorridore

Gelesen: Martínez, Óscar: Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika - Foto: ScreenshotÓscar Martínez beleuchtet den Typus des Narcostaates aus der regionalen Perspektive Zentralamerikas, wobei der Schwerpunkt auf dem „nördlichen Dreieck“ liegt. Innerhalb desselben konzentrieren sich seine eindrucksvollen Reportagen mit neun Beiträgen auf El Salvador, die Heimat des Autors. Guatemala ist drei Mal vertreten und Honduras ein Mal, ebenso das außerhalb des „Dreiecks“ gelegene Nicaragua. Martínez‘ „Geschichte der Gewalt“ gliedert sich in drei Abschnitte mit jeweils vier bis fünf Beiträgen. „Einsamkeit“ (Martínez, S. 11-114) bezieht sich auf die „Ärmsten der Armen“, die nach dem Rückzug des Staates dem organisierten Verbrechen ausgeliefert sind. Der zweite Abschnitt „Wahnsinn“ (S. 117-202) thematisiert die traumatischen Konsequenzen, denen sich die Bevölkerung infolge des „großen Scheiterns“ der staatlichen Autorität ausgesetzt sieht. „Flucht“ (S. 205-301) ist denjenigen gewidmet, die „glauben, dass es in diesem Winkel der Welt für sie keine Zukunft mehr gibt. Sie stürzen sich in eine andere Hölle und versuchen sie zu durchqueren, um der eigenen Hölle zu entfliehen“ (S. 205).

Die Chronik des angekündigten Todes von El Niño (dt.: Das Kind) zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch (S. 15-18, 29, 37, 39, 122-126, 128, 130-131, 145-149, 283-301). El Niño, hochrangiges Mitglied bei der salvadorianischen Gang (in Zentralamerika spricht man von maras) Hollywood Locos Salvatrucha, ist der Kronzeuge in einem Prozess gegen 42 mareros, von denen 30 aufgrund seiner Aussagen im Gefängnis landen. Es sind auch mindestens 30 Morde, die El Niño selbst nachgewiesen werden können. Der Autor hat ihn im Verlauf von zwei Jahren 15 Mal besucht und intensive Gespräche mit ihm geführt. Alle Beteiligten wissen, dass El Niño ermordet werden würde. Als dies am 21. November 2014, fünf Jahre nachdem der inzwischen 30jährige Kronzeuge mit seinen Aussagen begonnen hatte, schließlich passiert, wundert das keinen. „Niemand tat etwas, um es zu verhindern“ (S. 298).

Eine andere Geschichte handelt von Israel Ticas, dem einzigen Gerichtsmediziner der Staatsanwaltschaft El Salvadors, der von 2000 bis 2013 insgesamt 703 Leichen geborgen hat (142). Vergebens müht er sich 805 Tage lang, die Leichen in einem „Brunnen ohne Boden“ (S. 119-132) freizulegen. Eine weitere Reportage spielt in Copán an der Grenze zwischen Honduras und Guatemala, dem „großen Tor des Korridors des Todes“ (S. 41). Der Petén, das größte und nördlichste Departement Guatemalas, ist ein weiteres „großes Tor“, das die Droge auf ihrem Weg von Zentralamerika nach Mexiko durchquert (S.79). Martínez beschreibt mit erschreckend nüchternen Worten, das Leben der Bauern im „Land der Drogenbosse“ (S. 79-99): „Petén ist zu einer Art Privatbesitz der großen Familien des organisierten Verbrechens Guatemalas geworden“ (S. 90). Im Besitz der kriminellen Banden, die mit Drogen, Holz und Menschen schmuggeln, befinden sich 1.179 caballerias (ca. 530 km²), mehr als das Siebenfache der Größe San Salvadors. Es folgen die Palmölkonzerne mit offiziell 1.027 caballerias (S. 91). Martínez gibt den indigenen Bauern, die durch die Drogenbosse und das Agrobusiness von ihrem Land vertrieben werden und dagegen erbittert Widerstand leisten, eine Stimme. Wie gefährlich der „mexikanische Korridor“ für die Migranten aus Zentralamerika ist, zeigt der Beitrag „Die gezähmten Kojoten“ (S. 207-229). Darin berichtet der Autor über die Flucht von 72 zentralamerikanischen Migranten, die im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas ihr tödliches Ende fand. Sie mussten mit ihrem Leben dafür bezahlen, dass ihre Schlepper, Kojoten genannt, den Zetas, dem wohl blutrünstigsten Verbrecherkartell Mexikos, nicht den geforderten Tribut entrichten wollten.

Treffend beschreibt Martínez die Bedeutung Guatemalas für Drogenhandel im Allgemeinen und den des Petén im Besonderen. Im nördlichsten Land Zentralamerikas zeigen sich in paradigmatischer Weise das Versagen des Staates und die verheerenden Konsequenzen, die sich daraus für die Bevölkerung ergeben: „Stimmt man dem berühmten Satz zu, dass Mexiko der Hinterhof der Vereinigten Staaten ist, so könnte man ebenso gut sagen, dass Zentralamerika der Hinterhof Mexikos ist. Ein schmutziger, ungepflegter Hinterhof, in den man nur durch eine Hintertür gelangt. Die mexikanische Grenze zu Guatemala hat große Ähnlichkeit mit einer solchen Hintertür.

Zwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean gelegen ist Guatemala mit seiner mehr als 950 Kilometer langen Grenze zu Mexiko für den Drogenhandel jedoch eher „ein riesiges Tor als eine Hintertür“ (S. 62). Petén, das mit Mexiko ca.600 Kilometer Grenze teilt, ist „eine ausgedehnte, dicht bewaldete Provinz, in der alle wichtigen Familien des organisierten Verbrechens Guatemalas präsent sind. Petén ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie im Drogenhandel alles mit allem verflochten ist und die Wörter ‚Politiker‘ und ‚Drogenhändler‘ manchmal zu Synonymen werden. Der Staat hat beschlossen, nicht gegen seine mächtigen Gegner in den Ring zu steigen und stattdessen auf die Schwächsten in diesem Dschungel einzuprügeln“ (S. 79). 

Drogenkartelle

Gelesen: Boullosa, Carmen/Wallace, Mike: Es reicht! Mexiko und der gescheiterte War on Drugs - Foto: ScreenshotCarmen Boullosa und Mike Wallace zeichnen die Geschichte der Drogenbekämpfung in Mexiko chronologisch nach, wobei 140 der etwa 240 Seiten den Jahren ab 2000 gewidmet sind. Es gelingt ihnen überzeugend, deutlich zu machen, dass diese Geschichte aufs engste mit dem War of Drugs verwoben ist, den der nördliche Nachbar seit 1920 führt, als die Prohibition der Droge Alkohol Verfassungsrang bekam. Die damals verfolgte Logik wurde später auf Marihuana, Opium und Kokain übertragen. Während in Mexiko die Drogenbekämpfung noch bis 1947 in den Händen des Gesundheitsministeriums lag, das sich dabei auf den kontrollierten Verkauf und die Behandlung der Süchtigen konzentrierte (Boullosa/Wallace, S. 44), setzten die USA von Anfang an auf die Kriminalisierung der Drogensucht. Für Harry Anslinger, von 1930 bis 1962 einflussreicher Chef des Federal Bureau of Narcotics (FBN) der USA, war diese Krankheit ein „Übel“, das mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden musste (S. 43-45).

Bei den bilateralen „Drogenbeziehungen“ sind die Rollen beider Länder ähnlich klar und asymmetrisch verteilt wie ansonsten auch: Die USA sind nicht nur der größte Markt, sondern beanspruchen auch die Funktionen des Regelgebers, Richters, Anwalts und Sheriffs in Sachen Drogenbekämpfung für sich, während Mexiko als Lieferant und Produzent den Part des alleinig Schuldigen zu spielen hat. Dass der mexikanische Staat in diesem komplexen „Spiel“ keineswegs das unschuldige Opfer ist, machen die beiden Autoren bereits in ihrer Einleitung (S. 7-26) deutlich.  

Dort schildern sie das Verbrechen an den Dreiundvierzig von Ayotzinapa, die in der Nacht vom 26. zum 27. September 2014 spurlos „verschwanden“. Nach bisherigen Erkenntnissen wurden die Studenten auf bestialische Weise ermordet, wobei neben den Killern der örtlichen Drogenmafia auch staatliche Amtsträger und Polizisten darin verwickelt sind. Im Oktober entdeckten Suchmannschaften mehrere Massengräber, ohne dass das „richtige“ gefunden werden konnte.

Das ganze Land war zutiefst erschüttert und überall kam es zu Großdemonstrationen. Der Zorn der Menschen richtet sich gegen einen Staat, dessen Spitzen und Handlanger sich längst als Komplizen oder gar Organisatoren des organisierten Verbrechens entpuppt haben. Angesichts des „Krieges gegen die Drogen“, der Ende 2006 überraschend vom damals frisch gewählten Präsidenten Felipe Calderón ausgerufen wurde und der inzwischen mehr als 100.000 Tote gefordert hat, mag dieser Befund erstaunen. Wer des Rätsels Lösung finden will, kommt an der Lektüre von „Es reicht!“ nicht vorbei. Die beiden Autoren sezieren das komplizierte Geflecht der maßgeblichen Akteure in professioneller und überzeugender Weise. Neben den wichtigsten Drogenkartellen Mexikos – dem Tijuana-, Sinaloa-, Sonora-, Juarez- und Golf-Kartell, zu denen sich später Los Zetas und La Familia Michoacana gesellen (S. 87-88, 107), wird durchgängig die Rolle der verschiedenen staatlichen Akteure auf beiden Seiten des Rio Bravo analysiert. Am 24. Februar 2013 trat „plötzlich eine ganz neue Riege von Mitspielern auf den Plan“: Wütende Bürger, die zu den Waffen griffen und als autodefensas (Selbstverteidigungskräfte) gegen die schlimmsten Kartelle in die Offensive gingen (S. 197-207). Der überraschte und um sein „Gewaltmonopol“ besorgte Staat reagiert darauf mit einem undurchsichtigen Wechselspiel von Kooperation, Kooptierung und Repression. Am Ende ihres Buches versuchen Boullosa und Wallace einen Ausblick auf die Zukunft (S. 207-213).

Im letzten Kapitel skizzieren sie eine Drogenpolitik, die einen „Aufbruch zu neuen Ufern“ verheißt und auf die Entkriminalisierung der Drogensucht zielt. Auch wenn der Weg dahin noch weit zu sein scheint, erkennen beide Autoren sowohl in Mexiko als auch in den USA (unter Barack Obama) erste Schritte in diese Richtung (S. 215-236). Es ist zu vermuten, dass nach der Wahl von Donald Trump zum neuen Chef im Weißen Haus diese zarten Anzeichen einer Umkehr zu einer realistischen Drogenpolitik gefährdet sind. Ob ihnen damit auch der Garaus gemacht werden kann, muss die Zukunft zeigen. 

Favelas

Gelesen: Glenny, Misha: Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption - Foto: ScreenshotMisha Glenny erzählt die Geschichte von Antônio Francisco Bonfim Lopes, genannt Nem (dt.: Baby). Sein Buch basiert hauptsächlich auf zehn etwa dreistündigen Gesprächen, die er mit Nem im brasilianischen Hochsicherheitsgefängnis Campo Grande führte, wo dieser seine Strafe absitzt. Nem, der immerhin länger als andere Favelabosse seine Rolle als „König“ durchgehalten hatte, begann seine kriminelle Karriere relativ spät. Ihr Start war vor allem einer persönlichen Notlage geschuldet: Er brauchte dringend Geld für die Operation seiner schwerkranken Tochter. Der im Buchtitel in irreführender Weise als „König der Favelas“ bezeichnete Held stand bis 2011 an der Spitze nur einer Favela, der von Rocinha in Rio de Janeiro. In der brasilianischen Millionenstadt tritt die soziale Ungleichheit besonders krass zutage. Oft trennen nur wenige Meter den Asfalto, gemeint sind die bürgerlichen Viertel, vom Morro (dt. Hügel), wo die Armut herrscht. Rocinha, das strategisch günstig im zentralen Stadtgebiet von Rio liegt, zählt mit seinen ca. 120.000 Einwohner zum Morro.

Die materielle Grundlage der Herrschaft über die Favelas bildet der Drogenhandel, der in Brasilien seit Ende der 1980er Jahre zu florieren begann. Der Aufstieg Brasiliens zum Kokaintransitland fand schon bald seine Ergänzung im wachsenden Drogenkonsum der heimischen Mittel- und Oberschicht (Glenny, S. 103-107). Das hatte auch dramatische Folgen für das Heimatviertel von Nem: Im Jahr 2007 „gingen sechzig Prozent von Rios gigantischem Kokainkonsum durch Rocinha“ (S. 108; siehe auch S. 251).

Unter der Regie von Nem, der 2005 zum Boss der Favela aufgestiegen war, beschäftigte der Drogenhandel in Rocinha 200 bis 300 Menschen. Das straff organisierte und akribisch kontrollierte System war nach unterschiedlichen Funktionen untergliedert und beruhte auf drei Pfeilern: Erstens auf dem lokalen Gewaltmonopol, das durch Waffenbesitz und Bestrafung abgesichert war; zweitens auf der Korruption von Polizisten und anderen örtlichen Amtsträgern; drittens auf der Versorgung der Bewohner von Rocinha mit existentiellen Gütern und Dienstleistungen wie Lebensmitteln, Medikamenten und Darlehen. Nems Macht basierte demzufolge auf seinem persönlichen Ansehen innerhalb der Favela, der Akzeptanz durch die örtliche Polizei und der Autorität als Chef des Drogenhandels innerhalb seines Reviers (Glenny, S. 219, 231-240).

Neben dem Geschehen in und um Rocinha sowie den Aktivitäten von Nem, die im Mittelpunkt des Buches stehen, wird der Leser über die allgemeine Entwicklung des Landes (S. 99-103, 209-217, 289), brasilianische Drogenorganisationen wie Rotes Kommando, Drittes Kommando und Amigos dos Amigos (S. 131-137), die BOPE, eine Spezialeinheit der Militärpolizei von Rio de Janeiro (S. 179-180) und andere wissenswerte Dinge wie die jahrelangen polizeilichen Ermittlungen gegen Nem informiert (S. 242-248, 297-300). Damit gelingt Glenny nicht nur das Porträt eines außergewöhnlichen Kriminellen, sondern auch die anschauliche Darstellung des komplexen Wechselspiels von Macht, Armut, Gewalt und Korruption. Zwar bemüht sich der Autor um Ausgewogenheit, seine Schilderungen erfolgen jedoch größtenteils aus Nems Perspektive. Nichtsdestotrotz vermittelt sein Buch ein realistisches Bild der Welt der Favelas. Es wird deutlich, dass Drogenhandel und Kriminalität vor allem aus den klaffenden Widersprüchen Brasiliens resultieren. Solange sich der Staat gegenüber den Bewohnern des Morro nur von seiner repressiven Seite zeigt, kann der Teufelskreis von Exklusion, Verbrechen und Gewalt nicht durchbrochen werden.

Mit dieser Botschaft gelangt Glenny zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie die Autoren der anderen drei Bücher: „Die Logik des ‚War on Drugs‘ – des Kriegs gegen die Drogen –, an dem Washington und der Großteil Europas nach wie vor festhalten, hatte einen gnadenlosen Kreislauf aus Mord und Exzess in Gang gesetzt, der die Waffenhersteller, die südamerikanischen Drogenhändler und die Kokain konsumierende Mittelschicht von Berlin bis Los Angeles zusammenschweißte. Rios Abstieg, der Ende der 1980er Jahre einsetzte, war in erster Linie einer über Jahrzehnte gescheiterten Politik zu verdanken – dem Krieg gegen Drogen. Kolumbien, dann die Karibikstaaten und Brasilien sowie zuletzt auch noch Mexiko haben mit dem Blut Hunderttausender Männer, Frauen und Kinder für eine Politik der Drogenprohibition, die, wäre sie Teil einer privatwirtschaftlichen Strategie, schon Jahrzehnte vorher als desaströs ausgemustert worden wäre“ (S. 104/105).

Der War on Drugs ist gescheitert!

Das Scheitern des Krieges gegen die Drogen wird an drei miteinander verwobenen Problemfeldern deutlich, die in allen vier Büchern zwar aus unterschiedlicher Perspektive umrissen werden, sich aber dennoch zu folgenden gemeinsamen Schlussfolgerungen zusammenfassen lassen:

Erstens existiert in allen geschilderten Fällen eine enge Verquickung zwischen Staat, Verbrechern und Unternehmern, wobei sich in den einzelnen Ländern verschiedene Varianten dieser Symbiose herausgebildet haben. In Mexiko hat sich während der Einparteienherrschaft des Partido Revolucionario Instituciona (PRI), die erst im Jahr 2000 unterbrochen wurde, das sogenannte plaza-System (Boullosa/Wallace, S. 61-62, 84-85) etabliert. Unter der Dominanz des Staates können die Drogenkartelle ihren Geschäften nachgehen, müssen sich dafür aber an bestimmte Spielregeln halten und einen Teil ihrer riesigen Gewinne an die korrupten Politiker, Beamten und Militärs abführen. Die auf diese Weise gesicherte plaza befindet sich an Orten, die für den Drogenhandel von strategischer Bedeutung sind (Häfen, Grenzübergänge, Knotenpunkte auf den Haupttransportrouten). „De facto hielten die staatlichen Vorschriften die Drogenbanden unter Kontrolle, dämmten ihre Gewalt ein und verschafften den Fahndern großzügige Gewinne“ (ebenda, S. 62). Mit dem Niedergang des PRI in den 1990er Jahren begann der „Narco-Staat-Komplex“ zu bröckeln und spätestens 2003 „zerbrach die alte Kumpanei zwischen den Schurken und dem Staat endgültig“ (ebenda, S. 90). Durch die von Calderón 2006 begonnene militärische Eskalation des Drogenkrieges war das plaza-System so gründlich zerschlagen worden, dass es auch nach der Rückkehr des PRI an die Regierung (2012) nicht mehr zusammengesetzt werden konnte (ebenda, S. 184). Eine andere Variante hat sich im nördlichen Dreieck Zentralamerikas durchgesetzt. In Guatemala und Honduras ist der Staat von Allianzen konkurrierender Machtakteure, darunter auch die Ableger und Juniorpartner der mexikanischen Drogenkartelle, faktisch „gekapert“ worden. Unter dem Mantel der Straflosigkeit fechten sie ihre blutigen Machtkämpfe in einer Weise aus, die diesen Teil Zentralamerikas zur Region mit der weltweit höchsten Mordrate macht. Die brasilianische Variante hingegen ähnelt mehr einem Spinnennetz, wobei nicht immer klar ist, wer die Spinne und wer die Fliege ist.

Zweitens ist die gesamte Drogenökonomie transnational organisiert und entfaltet ihre expansive Dynamik als „dunkler“ Teil der neoliberalen Globalisierung, was vor allem von Pérez thematisiert wird. Martínez und Glenny beschreiben auf anschauliche Weise den verordneten Rückzug des Staates aus seinen sozialen und ordnungspolitischen Verpflichtungen. Die daraus erwachsenden Konsequenzen ermöglichen erst das Vordringen der Drogenkartelle. Boullosa und Wallace konzentrieren sich vor allem auf die verheerenden Folgen, die einerseits das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA und andererseits die verfehlte Sicherheitspolitik der USA nach dem 11. September 2001 für Mexiko gezeitigt haben.

Drittens wird in allen vier Büchern herausgearbeitet, dass die Ärmsten der Armen im erbarmungslosen Kampf der bzw. gegen die Drogenkartelle das größte Leid zu tragen und die meisten Opfer zu beklagen haben. Boullosa und Wallace zeigen darüber hinaus Beispiele des (erfolgreichen) Widerstands der Bevölkerung in Gestalt der autodefensas und der Massenproteste gegen die Verbrechen des Drogenkrieges. Martínez beschreibt in einer seiner Reportagen, wie sich die Bauern im Petén sowohl gegen die Drogenkartelle als auch gegen die Palmölkonzerne und das repressive Vorgehen des Staates wehren. An anderer Stelle würdigt er Beispiele des persönlichen Mutes von vergewaltigten Frauen, die ungeachtet aller Drohungen bereit sind, gegen ihre Peiniger vor Gericht auszusagen. Das Verdienst von Glennys Darstellung des Lebens in Rocinha besteht darin zu zeigen, dass es trotz allem auch in den Favelas Regeln und gegenseitige Hilfe gibt, die den Bewohnern ein Mindestmaß an Hoffnung und Würde vermitteln. Pérez verweist hingegen auf Beispiele erfolgreicher Maßnahmen gegen den Drogenhandel, auch wenn diese mit der Expansion des (transnational) organisierten Verbrechens nicht Schritt halten können.

All dies sind gewichtige Argumente, die überzeugend belegen, dass und warum der Krieg gegen die Drogen gescheitert ist. Jeder, der eines oder gar alle der hier empfohlenen Bücher liest, wird sich dieser zentralen Erkenntnis nicht verweigern können. Eine Abkehr vom War on Drugs, wie sie vor allem in „Es reicht!“ gefordert und untermauert wird, ist das Gebot der Stunde.

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