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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Serge, Victor; Sedova Trotzky, Natalia: Leben und Tod von Leo Trotzky*#

Sven Schaller | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Wiedergelesen: Eine Biographie Trotzkys zum 75. Todestag von Victor Serge

Leo Trotzky Politik sind Entscheidungen an Weggabelungen. Geschichte ist der Weg durch die Zeit. Eine Biographie ist das Abbild von Politik und Geschichte auf das Leben eines Individuums. Oftmals werden individuelle Lebenserinnerungen jedoch nicht festgehalten, weil Politik und Geschichte in scheinbar anderen Sphären verlaufen – und vor allem entschieden werden. Doch es gibt Personen, die an vielen Weggabelungen standen, entschieden (oder mitentschieden), welcher Weg eingeschlagen werden solle, und die somit Geschichte schrieben. Leo Trotzky ist ein solcher Mensch. Er war ein Instrument der Geschichte, denn er steht wie kein anderer für die Tragödie der russischen Oktoberrevolution und hat solchen Einfluss auf die russisch-sowjetische Geschichte genommen, dass es zu ihm sogar mehrere Biographien gibt, aber nur eine von ihm selbst (1929). Nicht zuletzt gibt es über sein Leben auch einen sehr lesenswerten Roman von Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte, den QUETZAL schon vor einer Dekade rezensierte.

QUETZAL hat sich nun eine Biographie Trotzkys aus dem Buchregal geangelt, die von Victor Serge und Trotzkys Witwe Natalia Sedova verfasst wurde. Serge, ein Anarchist, begleitete Trotzky – direkt und indirekt – ein halbes Leben lang. Beide waren Revolutionäre. Beide wirkten in der Sowjetunion. Beide starben in Mexiko.

Und so verwundert es nicht, dass die Biographie in Mexiko beginnt. Denn nachdem Trotzky am 21. August 1940 in seinem Haus in Coyoacán ermordet worden war, taten sich seine Witwe Natalia Sedova Trotzky und Victor Serge sechs Jahre später zusammen, um ihre Sicht auf Trotzkys Leben in einer Biographie darzulegen.

Warum fiel Trotzky knapp 23 Jahre nach der Oktoberrevolution einem Attentat zum Opfer? Wer ermordete ihn? Noch dazu in Mexiko? Diese Fragen wurden zu oft beantwortet. Warum letztlich Ramón Mercader den Eispickel gegen Trotzky erhob, soll deshalb auch nicht Teil dieser Rezension sein. Und auch Victor Serge belässt es bei dem eher allgemeinen Hinweis, dass sein Tod damit zusammenhing, dass er für die Führung in der Sowjetunion eine zu große Gefahr darstellte, falls er in sein Heimatland zurückkehren würde (S. 5-6).

Serge hält sich in seiner Biographie von Trotzky somit weder an dessen Ende, aber auch nicht an dessen Anfang lang auf. Über die Kindheit und die Jugendjahre Trotzkys schreibt er fast nichts. Seine erste Ehefrau (und die beiden Kinder) erwähnt er nur am Rande, ebenso wie seine spektakuläre Flucht durch den sibirischen Winter, als der Revolutionär einem Gefangenentransport in ein Straflager entkam. Viel Raum räumt er dagegen der Oktoberrevolution ein, so dass gerade in den ersten zwei Dritteln der „Biographie“ nicht mehr klar ist, ob es nicht doch eine historische Abhandlung über die Revolution in Russland darstellt – oder einen Abklatsch seiner (zugegebenermaßen sehr lesenswerten) Bücher „Year One of the Russian Revolution“ und „From Lenin to Stalin“.

Im mexikanischen Exil

Näher an Trotzky dran ist die Biographie im letzten Drittel des Buches. Serge beschreibt die Odyssee des Revolutionärs ab 1929 durch halb Europa, von Dorf zu Dorf, Stadt zu Stadt, Land zu Land, ständig verfolgt von Stalins Schergen. Hier wird sein persönliches Schicksal und die Weltgeschichte förmlich greifbar. Und ab seiner Ausreise aus Norwegen 1936 auf dem Tanker Ruth kommt auch vermehrt Trotzkys Ehefrau, Co-Autorin Natalia Sedova, zu Wort. Sie schildert den freudigen Empfang in Tampico durch Max Schachtman, Frida Kahlo und Diego Rivera sowie die Übersiedlung in deren Haus in Coyoacán. Sie zeichnet ein Bild der absoluten Mittellosigkeit und der ständigen Abhängigkeit von der Hilfe durch Freunde. Sie skizziert Trotzky als einen unablässig Arbeitenden, der der Welt Stalins Lügen und Terror vor Augen führen will. Dabei verlässt sie, im Gegensatz zu Serge, die Ebene der objektiven Beschreibungen, die Welt der großen Ereignisse, um Trotzky als Privatperson zu beschreiben. Es ist an dieser Stelle, dass für den Leser dessen Bedrückung durch die äußeren Umstände förmlich greifbar wird, etwa indem sie die Depression beschreibt, als er von der Erschießung seines Sohnes Sergey erfuhr.

Ein ganzes Kapitel widmet sich der Dewey Commision, die im April 1937 vor Ort in Coyoacán in einer Befragung untersuchte, welche Rolle Trotzky in Bezug auf all die von Stalin direkt oder indirekt vorgebrachten Anschuldigungen spielte. Sedova bemerkte süffisant, dass sich in dieser Zeit immer mindestens 50 Leute in ihrem Haus breit machten.

Die Erleichterung Trotzkys, der Kommission seine Lebensgeschichte als Gegenentwurf zu den Anschuldigungen Stalins erzählt zu haben, währte nur kurz. Schon einen Monat später, im Mai 1937, holten ihn die Ereignisse in Spanien ein, als Stalin Geheimdienst-Einheiten nach Barcelona schickte und sich maßgeblich in den Bürgerkrieg einmischte. Unter anderem verschwand dort Trotzkys Sekretär aus Norwegen, Erwin Wolf, plötzlich spurlos. Wenige Tage vorher war bereits sein zweiter Sekretär aus dieser Zeit, Ignaz Reiss, in Lausanne ermordet worden.

Während Stalins Arm inzwischen überall hin reichte, veröffentlichte die Dewey-Kommission ihren Endbericht: „Not guilty“. Sedova kommentierte dieses wichtige Urteil mit den Worten, dass sie beide eine gewisse Freude empfanden, „wenn man von Freude unter diesen Umständen sprechen konnte“ (S. 227). Denn das Morden und die Erschießungen von Trotzkys Weggefährten in der Sowjetunion gingen ununterbrochen weiter. Trotzky fühlte sich erschöpft, siedelte vorübergehend nach Taxco über, nur um sich dann erneut dem „Body Count“ hinzugeben. Das Haus in Coyoacán leerte sich; es kamen immer weniger Besucher. Allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt Diego Rivera, Trotzkys Gastgeber, verdächtige Aktivitäten in einem Nachbarhaus beobachtet und sorgte sich fortan um Trotzkys Sicherheit. Doch bevor sie etwas unternehmen konnten, traf die Nachricht ein, Leon Sedov, ein weiterer Sohn Trotzkys, sei unter mysteriösen Umständen in Paris gestorben. Der Revolutionär im Exil kollabierte und „wurde über Nacht ein alter Mann“ (S. 228).

Im Fokus Stalins

Im Zuge der dritten Moskauer Prozesse (März 1938) rückte Trotzky erneut in den Fokus – trotz seiner Abwesenheit und den 10.000 Kilometern Entfernung zwischen beiden Städten. Wieder wurde er mit Lügen beschuldigt. Und wieder wurde er als Zielscheibe auserkoren. Trotzky und Sedova wussten darum; sie „erwarteten die Mörder mit absoluter Gewissheit“ (S. 251). Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verstärkt: eine Mauer wurde um das Grundstück gezogen, eine Sicherheitsschleuse an der Tür errichtet, die Polizeikontrollen intensiviert. Die Assistenten und Sekretäre Trotzkys, zugleich seine Bodyguards, blieben die meiste Zeit auf dem Gelände.

Trotz allem entwickelte der Revolutionär einen geradezu friedlichen Alltag: Er stand früh auf, fütterte die Hasen und Hühner, und dann erfreute er sich an der Kakteensammlung, die er zum Teil selbst mit angelegt hatte. Die folgenden Stunden verbrachte er im Studierzimmer. Er las und beantwortete Briefe, studierte Artikel und Bücher, verfasste Entwürfe für Beiträge. Das größte Projekt dieser Zeit war die Verfassung einer Biographie über Stalin für Harpers. Die Schilderungen über das Leben und die Machtergreifung eines furchtlosen Tyrannen waren es, was sich die Verlage und die Öffentlichkeit von ihm wünschten. Er selbst hätte jedoch in diesen Tagen am liebsten ein Buch über die lebenslange Freundschaft von Marx und Engels geschrieben, wie sich Sedova erinnerte (S. 252).

Obwohl er meist seinen Sekretären diktierte, war und blieb Trotzky in seiner Arbeit detailversessen (z.B. bei den Quellen) und sorgfältig, zum Teil penibel (bei der Grammatik und Zeichensetzung). Sogar bei dem emotional so aufwühlenden Thema wie der Lebensbeschreibung von Stalin blieb er akademisch und objektiv. Anders dagegen der Umgang mit ihm. Jedes Ereignis im In- und Ausland, etwa der Staatsstreich von General Cedillo oder die Verstaatlichung der mexikanischen Ölindustrie, wurde in den Zeitungen ihm angelastet. Trotzky steckte scheinbar hinter allem.

Trotz der schwierigen Umstände blieb Trotzky seinen alten Leidenschaften, dem Angeln und der Orchideenzucht, treu. Patzcuaro und der Pedegral oder die Taxco Sierra waren beliebte Ausflugsziele. Doch die schönsten Landschaften in Mexiko vermochten es nicht, seinen Schmerz angesichts des ungebrochenen Hinmordens seiner Weggefährten und Freunde zu beseitigen.

Das Attentat

Leo Trotzky in Mexiko Am 24. Mai 1940 klopfte der Tod das erste Mal an seine Tür. Ein schwer bewaffnetes Kommando drang auf das Grundstück in Coyoacán ein und gab aus vier Richtungen 60 Schüsse auf das Schlafzimmer von Trotzky ab. Jedes Detail, die Lage des Studierzimmer, des Schlafraums und der Betten, waren den Killern bekannt. Doch Trotzky und Sedova überlebten – wie durch ein Wunder. Wer genau hinter dem Attentat steckte, wird nie zweifelsfrei aufgeklärt. Die Anzahl an schweren Waffen, die zum Einsatz kamen, sprechen allerdings für einen organisierten Akt. Trotzky selbst erkannte den Maler David Alfaro Siqueiros beim Überfall; die Rolle von Robert Sheldon Harte, einem US-amerikanischen Wächter in der Villa, konnte nie aufgeklärt werden. Vermutlich öffnete er dem Kommando das Tor, und er bezahlte sein Wissen mit dem Tod. Seine Leiche wurde schließlich in einem Haus in Tlalminalco gefunden, das Siqueiros Schwager gemietet hatten.

Trotzky war also vor den Gefahren für sein Leben vorgewarnt. Doch er arbeitete zunächst so weiter wie vor dem Überfall. Dabei liefen die Vorbereitungen zu seiner Ermordung parallel. Dass der Überfall gescheitert war, bedeutete nicht, dass die anderen Aktivitäten ruhten. Bereits im Juni 1938 hatte sich ein gewisser „Jacson Mornard“ über Silvia Agelof, die Schwester einer vormaligen Sekretärin von Trotzky, Zugang zum Freundeskreis des Revolutionärs verschafft. Sedova erinnert sich, dass sie zu dem Mann mit der Zeit so viel Vertrauen aufgebaut haben, dass sie ihn vier Tage nach dem Überfall das erste Mal zu sich in das Haus einluden. Dann verschwand er für einen Monat in den USA. Keiner wusste, was er dort tat. Aber er kam wie verwandelt zurück, wirkte nervös. Intellektuell konnte er es mit Trotzky nicht aufnehmen, der die kurzen Gespräche mit ihm auch nicht sonderlich mochte, zumal “Mornard“ scheinbar nicht an Politik, sondern nur am großen Geld interessiert war. Trotzky wurde misstrauisch, um so mehr, als ihn “Mornard“ plötzlich einen Aufsatz präsentierte und um eine Einschätzung bat. Der Aufsatz war – wie sollte es anders sein – nur ein Abklatsch von banalsten Phrasen. Aber es war zu spät. Der Feind sollte nicht mehr versuchen, mit Gewalt in die Festung in Coyoacán einzudringen, er war schon drin.

Am 20. August 1940 verbrachte Trotzky mit “Mornard“ am späten Nachmittag zunächst einige Zeit im Garten. Trotz Sonnenscheins hatte der Besucher einen Regenmantel dabei, den er auch auf keinen Fall ablegen wollte. Trotzky hegte keinen Verdacht. Dafür kannte er den Gast zu lange. Also gingen beide in das Studierzimmer. Drei bis vier Minuten später gab es einen Schrei, und Trotzky erschien blutüberströmt in der Tür. „Mornards“ Eispickel hatte ihn schwer am Kopf verletzt. „Jetzt ist es passiert“, sagte er. Und zugleich wollte er verhindern, dass der Attentäter gelyncht würde. Er sollte reden… Drei Wächter hatten “Mornard“ bald nach der Tat überwältigt. Es zeigte sich, dass “Mornard“ neben der Mordwaffe, einem Eispickel, noch zwei weitere Waffen in dem Mantel bei sich trug: einen Dolch und eine automatische Pistole. Er erklärte im Beisein Sedovas, dass SIE ihn zur Tat gezwungen hätten. Seine Mutter hätten SIE bereits ins Gefängnis geworfen. Das war wohl die ehrlichste Antwort, die er je geben sollte. Alle späteren Aussagen zu seiner Identität, seinem Leben und seinen Gründen, die er während der Anhörungen zu Protokoll gab, waren vollgepackt mit Lügen. Doch wer war „Mornard“ wirklich? Bei der Veröffentlichung des Buches schrieb Serge noch: „Die wahre Identität „Mornards“ wurde niemals ermittelt.“ (S. 272). Erst später wurde bekannt, dass der Mörder eigentlich Ramón Mercader hieß.

Nachdem Mercader/“Mornard“ Trotzky die klaffende Kopfwunde zugefügt hatte, wurde der Verwundete ins Krankenhaus gebracht. Er diktierte seinem Sekretär sogar noch irgendwelche französische Statistiken und sprach vom Erfolg der IV. Internationalen. Im Krankenhaus gab er Natalia Sedova schließlich den letzten Kuss – und verlor das Bewusstsein, das er nicht wiedererlangen sollte. Der Chefarzt, Ruben Lenero, und der Mexikanische Gesundheitsminister, Gustavo z, konnten ihn nicht mehr retten. Am 21. August 1940, um 19.25 Uhr, starb Trotzky.

Einordnung der Biographie

Das Besondere an der vorliegenden Biographie Trotzkys liegt darin, dass im Fokus vor allem die letzten zehn Jahre im Exil in Mexico stehen, über die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung kaum etwas bekannt war.

Es fehlt in dieser Biographie allerdings eines: Trotzkys Werden, d.h. seine Jugendjahre, und Trotzky selbst. Das Buch ist und bleibt über weite Teile eine Außenansicht. Über die Entwicklung von Trotzky als Person erfährt man sehr wenig, welche Gedanken ihn zu welchen Entscheidungen gebracht haben oder welche Ereignisse welche Gedanken ausgelöst haben, wie sie ihn bewegt, ggf. geändert haben – ist allenfalls an einigen Stellen angedeutet.

Dennoch ist es Victor Serge zusammen mit Natalia Sedova gelungen, ein wichtiges Zeitzeugendokument zu verfassen und der Menschheit zu erhalten. Und die beiden begannen und beendeten das Projekt zur Biographie Trotzkys keinen Moment zu früh. Wenige Tage nach dem Erscheinen des Buches 1947 starb Victor Serge, offiziell an einem Herzinfarkt. Eine andere Version besagt, er sei vergiftet worden. Haben Stalins Schergen auch ihn auf dem Gewissen?

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* Der Rezension zugrunde lag die englische Ausgabe von 1973. Alle Übersetzungen in diesem Beitrag stammen vom Verfasser.

# Leo Trotzky hieß mit bürgerlichem Namen Lew Dawidowitsch Bronstein. Im Englischen wird er Leon (mit „n“) Trotsky (mit „s“) geschrieben.

Bildquellen:

[1]-[2] gemeinfrei.

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