Das von Carmen Pinilla und Frank Wegner herausgegebene und übersetzte Buch enthält 17 literarisch gestaltete Reportagen, die von ihren Autoren in verschiedenen Zeitschriften und Büchern auf Spanisch bzw. Englisch bereits veröffentlicht wurden. Das Format dieser Reportagen oder »Crónicas« entspricht dem politischen Ziel, dass die Geschichten in Lateinamerika nicht erfunden, sondern eben entdeckt werden müssen. Während die traditionellen »Crónicas« in Zeiten der Kolonisierung und Eroberung Amerikas im 16. Jahrhundert entstanden, verwandelt sich das Format im 20. und 21. Jahrhundert zu einem Werkzeug, welches den »Verdammten der Erde« behilflich sein kann. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der ChronistInnen darin, unsichtbare Geschichten sichtbar zu machen.
In den Beiträgen von JournalistInnen aus Kolumbien, Chile, Mexiko und Argentinien, die sich im „Verdammten Süden“ versammeln, geht es einerseits um Menschen, die gegen den Strom schwimmen und Lateinamerika irgendwie am Leben halten. Hierzu gehört beispielsweise die aus der Feder Cristian Valencias erzählte Geschichte des Grundschullehrers Soriano, ein kolumbianischer Don Quixote, der seine Bibliothek mit Hilfe einiger Esel transportiert, um die Kinder einer vergessenen Region mit Wissen und Phantasie zu versorgen. Andererseits erzählt das Buch von Menschen, deren Schicksale von Familienzerfall oder Armut bestimmt wird. Während einige von ihnen Kriminelle werden, bevor sie die Volljährigkeit erreicht haben, sterben andere beim Versuch, das gelobte Land USA zu erreichen. „Verdammter Süden“ zeigt also auch Geschichten von Menschen, die zwangsläufig vom Strom getrieben wurden.
Im Bericht des chilenischen Journalisten Juan Pablo Meneses über die Tourismusunternehmen, die den Reisenden aller Welt eine Schifffahrt durch den Fluss Amazonas anbieten, werden die Weltanschauungen der Mitarbeiter, Klienten und der »exotischen« Ethnien, welche als Sehenswürdigkeiten gelten, kontrastiert. Auch wenn die erwähnten Mitarbeiter sich über die Naivität derjenigen Touristen lustig machen, welche das Abenteuer ihres Lebens suchen, und man als Leser eben mitlacht, bestätigt das vorherige Kapitel vom Castaño, dass das Außergewöhnliche doch geschehen kann: In einem Fluss Kolumbiens findet man zwei hungrige afrikanische Nilpferde, die aus der extravaganten Welt des Drogenhändlers Pablo Escobar entkommen konnten. Auch wenn das »Exotische« eine zentrale Rolle spielt, beschränken sich die Texte jedoch nicht darauf, die bloße Beschreibung des »Unbekannten« zu verbreiten. Doch gelingt es dem Buch, die einzelnen Fälle mehr oder weniger gut zu kontextualisieren. Da es sich in der Regel um Ungerechtigkeiten bzw. traurige Ereignisse handelt, besteht für die ChronistInnen auch die Möglichkeit, kleine Beiträge gegen die Interessen der Mächtigen bzw. Ungerechtigkeiten zu leisten.
Die Insel Santa Cruz stellt – leider – den Sieg der Kultur über die Natur dar. Die Witze, mit denen der kolumbianischer Komiker die Angehörigen der Verstorbenen bei der Totenwache zum Lachen bringt, sind ein Sieg des Lebens über den Tod. Die Auftritte der Wrestlerinnen Cholitas lassen die Lebensfreude über die Traurigkeit des Alltagsleben in El Alto triumphieren. Die Arbeit der AnthropologInnen widerlegt die Lügen der von Washington unterstützten Juntas. Im „Weißen Haus“, dem kolumbianischen, ungetrennten Gefängnis von Villavicencio, stellt die Liebe den Sieg über den Mangel an Freiheit und die Moral der Gefängniswärter dar. Das Nachbarschaftskino zeigt das Aufzwingen des wirklichen Lebens über die Drehbücher. Der Schriftsteller Eduardo Galeano verglich einmal metaphorisch diese treibende Kraft Lateinamerikas mit dem unwiderstehlichen Drang zu trinken.
Idyllische Bilder von Karibikinseln finden hier ihre dunkle, unerträgliche Seite: Zum einen das von Martín Caparrós beschriebene Bild von der kolumbianischen Insel Santa Cruz del Islote, ein kleiner Ort, der dem Elendsviertel einer lateinamerikanischen Metropole ähnelt. Zum anderen die Reportage von Guido Bilbao über die panamaische Insel San José, welche am Ende des Zweiten Weltkrieges von den USA, Kanada und Großbritannien zu einem Chemiewaffenlabor umfunktioniert wurde. Nach vier Jahren hatte sich die Insel in einen Friedhof der Blindgänger verwandelt, die dort bis heute zu finden sind. Lateinamerika wird also im Buch als ein Raum präsentiert, wo die gegensätzlichen Pole zusammenleben müssen.
Kritische Reflexionen über »Grenzen« tauchen mehrmals im Buch auf. Ein anschauliches Beispiel bildet das von Caparrós besuchte Dreiländereck, der geographische Punkt, in dem Paraguay, Brasilien und Argentinien sich treffen, ein paradoxerweise unbegrenzter Ort, in dem die Fälschung das einzig Wahre ist. Dies umfasst bspw. Elektrogeräte und Zigaretten sowie Menschenrechte, Kinder nordeuropäischer Abstammung und volljährige Frauen. In diesem Sinne wird gezeigt, wie der Süden selbst ein Konstrukt ist, welcher irgendwie durch die Abgrenzung vom Norden entstand. Das Bild Lateinamerikas als »Süden« entspricht einer Vorstellung der Region als ausgegrenzter Ort. Ebenso wie im Rest der sogenannten »Dritten Welt« entstand die Vorstellung Lateinamerikas als »verdammte« Region aus einer fragmentarisch ahistorischen Darstellung, nach der die Folgen von weltweit geplanten Ausplünderungen von der regierenden Klasse immer noch als »strukturelle« Probleme erklärt werden.
Bei allem Respekt für die große Arbeit der Herausgeber, muss jedoch festgestellt werden, dass sich leider in den Erklärungen einige Ungenauigkeiten finden, welche durch eine einfache Recherche hätten vermieden werden können: Concepción del Uruguay liegt nicht in der (nicht existierenden) „uruguayischen Provinz Entre Ríos“ [sic.] (S.152) und das Ariguaní-Tal nicht „im Süden Kolumbiens“ (S.265). Auch wenn die Spannbreite von sehr originellen Texten bis zu eher konventionellen Darstellungen reicht, liefert das Buch insgesamt hoch interessante Bilder, welche zeigen, wie ein Teil der Welt so „schief wachsen“ kann und dennoch nicht zusammenbricht.
Carmen Pinilla und Frank Wegner (Hgs.)
Verdammter Süden. Das andere Amerika
Suhrkamp. Berlin: 315 Seiten