Auch die Anhänger des erst im 16. Jahrhundert gegründeten Jesuitenordens machten sich bereits 80 Jahre nach der Entdeckung des neuen Kontinents auf, diesen zu christianisieren. Im Gegensatz zu ihren Glaubensgenossen von der katholischen Kirche, machten sich die hochqualifizierten Jesuitenpatres mit viel Idealismus und Einfühlungsvermögen an die Christianisierung ihrer neuen „Schäfchen“. Sie lernten deren Sprache, studierten ihre Sitten und Gebräuche und begannen dann erst mit der Verkündung des Evangeliums und dem Aufbau neuer Strukturen, die vom Gesellschaftssystem der dort lebenden Guarani-Indianer inspiriert waren.
So begann die Geschichte eines immerhin von 1609 bis 1768 dauernden „Jesuitenstaates“ (eigentlich eines mehr oder weniger autonomen Gebietes, das der direkten Kontrolle des spanischen Herrschers unterstand). Dieser bestand aus einem Verbund sogenannter reducciones (etwa unseren Stadtstaaten vergleichbar) mit jeweils bis zu zehntausend Guarani-Indianern und ein bis zwei Patres als Leiter der neuen Gemeinden.
Einmalig muß genannt werden, was die Jesuiten und die Guarani-Indianer in Südamerika schufen. Für viele Philosophen und Denker der alten Welt war es sogar die Verwirklichung einer Utopie: Einige sahen in dem Siedlungs- und Verwaltungskonglomerat der reducciones die Verwirklichung des „Sonnenstaates“ des italienischen Kirchenreformers und -rebellen Fra Tomaso Campanella (1568 – 1639). Andere meinten die Jesuiten seien beeinflußt gewesen von Platons Modell eines idealen Staates.
Ob die verantwortlichen Patres ein Modell vor Augen hatten oder, wie der Autor des Buches, der Mainzer Historiker Peter Claus Hartmann, meint, die Republik sich langsam zu dem entwickelte, was auch die deutschen Geistesgrößen Lessing, Herder, Wieland und Schiller dazu bewegte, sich mit dem fernen Staate in Südamerika auseinanderzusetzen, kann heute nicht mehr entschieden werden. Wenn man sich jedoch in die Beschreibung des Gesellschaftssystems des „Jesuitenstaates“ vertieft, kann man nicht umhin, in ihm die Verwirklichung der Utopie Campanellas, die den gelehrten Patres sicher bekannt war und sie inspiriert hat, sehen.
In dem von den Patres mit Idealismus geleiteten Gemeinwesen, gab es kein vererbbares Grundeigentum. Grund und Boden wurde von den Bewohnern der reducciones, bis auf einen kleinen Teil, der jedes Jahr gleichmäßig unter allen aufgeteilt wurde, gemeinsam bearbeitet. Die Erträge wurden unter allen verteilt. Ebenso war es mit allen anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Sie wurden gemeinsam hergestellt und zentral je nach Bedarf ausgegeben. Keiner hatte mehr als der andere und keiner galt mehr als ein anderer. Die soziale Absicherung der Alten und Kranken war gewährleistet und keiner mußte Hunger oder Not leiden. Wenn dieses Gesellschaftssystem sicherlich auch unter heutigen Maßstäben mit seinem Paternalismus der Geistlichen sicherlich seine Schwächen hatte, waren die Patres ihrer Zeit dennoch weit voraus und schufen ein anderes Modell der Kolonialisierung, das den Unterdrückungs- und Ausbeutungssystemen der europäischen Kolonialstaaten (und auch der „anderen Kirchen“ mit ihren rabiaten Methoden der Christianisierung) diametral entgegengesetzt war. Dies führte schon sehr früh zu Argwohn gegenüber dem „Jesuitenstaat“ und letztendlich zu seiner Zerstörung.
Hartmann ist mit dieser Publikation den Spuren des „Jesuitenstaates“ auf eine sehr lesenswerte Weise nachgegangen. An keiner Stelle des Buches sind die Ausführungen des gelernten Historikers, die durch schöne, von Augenzeugen verfertigte Bilder und Karten, ergänzt werden, trocken geraten. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß Hartmann bei der Darstellung und Bewertung der „idealen Republik“ viele Zeitgenossen zu Worte kommen läßt.
Ergänzt wird die Darstellung der reducciones durch einen ausführlichen Quellenteil, in dem u. a. sowohl jesuititische Patres als auch der spanische König Philipp V. und Gegner des sozialen Experimentes der Geistlichen zu Wort kommen sowie eine Auswahlbibliographie für diejenigen, die vom Thema fasziniert, mehr über den Versuch der Jesuiten wissen wollen, einen „gerechten Staat“ auf Erden zu verwirklichen.
Trotz der Sympathie, die Hartmann dem „sozialen und wirtschaftspolitischen Experiment“ entgegenbringt, übersieht er nicht die negativen Seiten, die der „Gottesstaat“ der Jesuiten hat, und so gelingt ihm eine ausgewogene Würdigung des Jesuitenstaates.
Zum Schluß gibt Hartmann m. E. zu Recht noch zu bedenken, daß „das Experiment als realisiertes Modell einer erfolgreichen, der Mentalität der Bevölkerung angepaßten Zivilisierung und Entwicklungshilfe“ gelten kann und auch heute noch für die „europäischen Entwicklungshelfer“ Vorbildcharakter haben sollte. Aber nicht nur für diese. Auch für Lateinamerikaner, die heute im Transitionsprozeß auf der Suche nach einer neuen gerechteren Staatsform sind, können auf diese, auf ihrem Kontinent gelebte Tradition zurückgreifen.
Peter Claus Hartmann:
Der Jesuitenstaat in Südamerika, 1609-1768
Weißenhorn, Anton H. Konrad Verlag, 1994