Ché – Mythos und historische Realität(en)
Nachdem sich die offenbar allen Jahrestagen eigene Aufregung um die Wiederkehr der Todestages von Ernesto Guevara vor 30 Jahren gelegt hat und aus dem von sämtlichen Medien verbreiteten Weihrauch die Konturen eines Menschen aus Fleisch und Blut mit all seinen Idealen, Illusionen und Irrtümern hervortreten, kann auch wieder in der angemessenen Mischung von Nähe und Distanz, Mitfühlen und Analyse über das Leben und Sterben eines Mannes nachgedacht werden, der für die einen mehr denn je ein Mythos, für andere hingegen ein durch die Realität erledigter Idealist ist. Ob bewundert oder verdammt, gerade die durch Ché verkörperte Utopie zwingt zum Nachdenken über die Gegenwart. Die an Unbarmherzigkeit grenzende Konsequenz des Revolutionärs verlangt Parteinahme, ob für oder gegen Ché.
Wenn es denn einen Sinn seines Scheiterns gibt, dann liegt er wohl in der Herausforderung, mit der jede Utopie Individuum wie Gesellschaft konfrontiert. Aber auch umgekehrt legt die historisch anders gewordene Realität der Utopie die Frage nach ihrer Relevanz für hier und heute vor. Die vorliegende Biographie hat zweifellos den Vorzug, den Leser dieser Spannung zwischen Utopie und Realität auszusetzen und ihm selbst die Entscheidung zu überlassen, wie er sich ihr stellen will und kann. Ist man einmal in das Leben von Ernesto Guevara eingetaucht, gibt es jedenfalls kein lauwarmes Unentschieden mehr. Es ist schon spannend, lesend mitzuerleben, wie der ausgewiesene Krimi-Autor Taibo II die Stilmittel des Romans mit der Gewissenhaftigkeit eines Historikers, der er ja auch ist, verbindet und vor unseren Augen ein authentisches und sehr menschliches Bild des Ché entwirft. Dabei legt er den Akzent stärker auf die Aktion als auf die Analyse. Dies ergibt sich folgerichtig aus seinem Anliegen, die tote Ikone durch den lebendigen Menschen zu ersetzen. Indem er den Leser einlädt, chronologisch den Entscheidungen und Taten des „Helden“ so zu folgen, als läge der Ausgang der Geschichte noch in der Ungewissheit, erreicht er zweierlei: Zum einen vermittelt er eine Authentizität und Nähe, die trotz des Umfangs und der Detailfülle des Buches die dem Thema innewohnende Spannung bis zum Ende aufrechterhält. Zum anderen reduziert es die jeder nachträglichen Betrachtung innewohnende Perspektivverzerrung einer „finalen“ Sicht auf historisch Vergangenes. , Die bewusste Zurückhaltung des Autors in der Bewertung der politischen Zusammenhänge der 50er und 60er Jahre kann als Vorteil, aber auch als Nachteil empfunden werden. Dennoch gelingt es dem Autor, Irrtümer und Widersprüche Ernesto Ché Guevaras deutlich zu machen. Die umfassende Auswertung der teilweise erst jetzt zugänglich gemachten Tagebücher und Aufzeichnungen wird durch Aussagen von Zeitzeugen und Kampfgefährten nicht nur komplettiert, sondern gewinnt dadurch auch eine kritische Dimension. Sehr plastisch wird bspw. die nachvollziehbare, jedoch verzerrte und in ihren Folgen tragische Unterschätzung der Massenbewegung in den Städten als – vom Guerrillero Ché Guevara eben nicht so wahrgenommene – gleichwertige Komponente der kubanischen Revolution dargestellt. Auch das bislang im Dunkel nicht dokumentierter Geschichte liegende „afrikanische Jahr“ ist in dieser Ausführlichkeit und Einbindung ins Gesamtgeschehen bislang noch nicht erhellt worden.
Dem Autor gelingt es ferner, den Übergang vom vorpolitischen Drang nach Abenteuern zu revolutionärer Bewusstheit als einen an politische Schlüsselereignisse jener Epoche gebundenen und durch diese herausgeforderten Prozess darzustellen. In diesem Sinne mag Ché ein „Zufall der Geschichte“ sein (so Taibo II im Interview*). Einmal durch die Niederlage der Revolution in Guatemala 1954 zur Entscheidung herausgefordert, bleibt sein weiteres Leben jedoch dem Schicksal der Revolution in Lateinamerika verhaftet. Die kurze Zeit seines bewussten politischen Wirkens zwischen 1954 und 1967 fällt in die Zeit, die durch das Scheitern der als kapitalistisch und bürgerlich-demokratisch verstandenen Revolution in Guatemala (1944-54) und den Erfolg bewaffneten und sozialistisch orientierte Revolution in Kuba markiert wird. Während dieser Zeit verkörpert Ernesto Ché Guevara die spannungsgeladenen Widersprüche jener Zeit: zwischen insular beschnittener Revolution in Kuba und kontinentalem Anspruch der Revolution in Lateinamerika, zwischen Guerrillero und Minister, zwischen dem originären Sozialismuskonzept der ersten Revolutionsjahre und den starren Vorgaben des „realen Sozialismus“ im Zeichen des Sowjetsterns, zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Menschen, zwischen himmelsstürmendem Idealismus und ernüchternder Realität. Diese Widersprüche als menschliche vermittelt zu haben, ist das große Verdienst dieses zur Lektüre empfohlenen Buches. Man muss zwar nicht die Meinung des Autors teilen, das die Wahl Boliviens als Ausgangspunkt der kontinentalen Revolution von Ché Guevara so nicht konzipiert gewesen sei. Dennoch erscheint das Ende des vom Minister wieder zum Guerrillero gewordenen Revolutionärs, das Hin und Her zwischen Lebenswillen und Todesgewissheit in den letzten Stunden vor der Ermordung weder als sinnlos noch als Flucht, sondern als eine Herausforderung und eine Frage, die immer wieder gestellt werden wird: Wie unmöglich ist das Unmögliche?
*siehe Nr. 20, Dokumente
Paco Ignacio Taibo II
Ché – die Biographie des Ernesto Guevara.
Edition Nautilus,
Hamburg 1997.