Eine Geschichte erklärt man nicht, man erzählt sie
Im Laufe seines langen Lebens hat er gut dreißig Romane geschrieben, die in vierzig Sprachen übersetzt worden sind. Ich habe vielleicht ein Drittel dieser Bücher gelesen, und das ist wahrlich schon eine Weile her. Wenn ich heute versuche, sie mir in Erinnerung zu rufen, entstehen immer gleiche Bilder vor meinem inneren Auge: Sonne, Palmen, Elend, gepaart mit überschäumender Lebensfreude. Dazu Zeichnungen und Handschrift von Werner Klemke auf den Schutzumschlägen. Tja, ich bin nun einmal DDR-sozialisiert, und die Ausgaben im Verlag Volk und Welt waren fast alle von Klemke gestaltet worden, was die beiden in meinem Gedächtnis irgendwie zusammengehören lässt. Der Schriftsteller selbst hat offensichtlich diese Editionen immer geschätzt -gute Übersetzungen, schöne Ausgaben mit vorzüglicher graphischer Gestaltung, wie er in seinen Aufzeichnungen betont. Volk und Welt, so Amado, habe nur eines seiner Bücher nicht veröffentlicht: Im Jahr 1972 hatte der zuständige Lektor die Veröffentlichung des Buches „Tereza Batista“ abgelehnt, der nicht standesgemäßen Titelgestalt wegen. Schließlich könnten Huren keine positiven Helden sein. Es war zeitweise wirklich nicht so einfach mit der sozialistischen Moral; schon Garcia Márquez hatte sich bei Neruda darüber beklagt, dass in der sowjetischen Ausgabe von „Hundert Jahre Einsamkeit“ die „unanständigen“ Stellen weggelassen worden waren. Amado erging es also auch nicht besser. Inzwischen kann Amado seine Liste erweitern: auch der vorliegende Band ist nicht bei Volk und Welt verlegt worden. Man kann ja spekulieren, welches die aktuellen Gründe waren, das Buch eines erfolgreichen Autors in seinem deutschen „Hausverlag“ nicht zu bringen. Aber was soll’s: Die hier zu rezensierende Ausgabe von Amados autobiographischen Skizzen, die bei Dietz Berlin erschien, ist ebenfalls schön anzusehen und gut zu lesen. Der Meister kann m.E. auch mit dieser Auflage zufrieden sein.
Die Formulierung autobiographische Skizzen, das sei hier betont, ist nicht nur so dahingeschrieben, ordentliche Memoiren bietet „Auf großer Fahrt“ wahrlich nicht. Der Brasilianer scheint sich getreu an einen (von ihm selbst zitierten) Satz Ilja Ehrenburgs zu halten, der da einmal gesagt hat: Jörge, wir sind Schriftsteller, die niemals ihre Memoiren schreiben können, wir wissen zuviel. Ein Grund mag vielleicht auch in der Tatsache zu suchen sein, dass Amado sich selbst nie für einen bedeutenden Menschen hielt und hält, allerdings zugibt, das Leben sei verschwenderisch zu ihm gewesen. So verschwenderisch das Leben war, so wenig hat es Amado für die Leser geordnet. Und so beginnen seine Erinnerungen im Moskau des Jahres 1952, springen sofort 34 Jahre weiter nach New York und enden nach über 300 Seiten 1925 in Ilheus. Dazwischen finden sich Reminiszenzen an Reisen durch die halbe (oder gar ganze?) Welt, an Jahrzehnte künstlerischer und politischer Arbeit, an Künstlerkollegen – Schriftsteller, Filmemacher, Maler, Sänger -, Politiker, an Frauen. Letztere hießen übrigens fast alle Maria, jedenfalls in den Erinnerungen des Autors. Ein Kavalier genießt und schweigt; oder so ähnlich jedenfalls.
Man findet in diesem Buch vieles von dem, was man in Lebenserinnerungen, und seien sie noch so skizzenhaft, erwartet. Ein bisschen Klatsch eben, auf höherem Niveau als in der Boulevardpresse natürlich, und somit irgendwie geläutert. So erfahrt man, dass Amado sehr gute Freunde und interessante Menschen in seine Romane aufzunehmen pflegte – auf diese Weise bekam Sérgio Buarque de Holanda seine Rolle in „Kapitän auf großer Fahrt“ zugewiesen (also noch einmal nachlesen!) -, und dass diejenigen, die ihn verrieten, auf seinem symbolischen Friedhof begraben liegen; selbst, wenn sie sich einbilden noch am Leben zu sein, für den Schriftsteller sind sie es nicht mehr. Von dieser Gewohnheit hat er allerdings nicht allzu oft Gebrauch machen müssen. Bekannte und (mitunter nur für in Kultur und Politik Brasiliens Unwissende) unbekannte Zeitgenossen lässt der Autor Revue passieren und entwirft so ein sehr persönliches Panorama von fast 80 Jahren Lebensgeschichte, die eben auch die Geschichte dieses Jahrhunderts ist. Man begegnet unter vielen anderen Anna Seghers, Pablo Neruda, Vercors, Pelé (den der Fußballfan Amado verehrt) und Michail Scholochow (den er als Menschen absolut nicht mochte, aber als hervorragenden Schriftsteller würdigt). Man erfährt von Erfolgen, Missverständnissen, Irrtümern, Niederlagen.
Aber was soll der Inhalt hier nacherzählt werden, selber lesen ist allemal besser. Und keine Angst, mit diesem Buch kommen sowohl die zu ihrem Recht, die ein wenig Prominentenklatsch lesen wollen, als auch jene, die sich für die Irrungen und Verwirrungen in Politik und Kultur dieses Jahrhunderts interessieren. Eins werden sie jedoch nicht finden: Die heute höchst moderne und deshalb auch allseits beliebte und betriebene Verdammung des Kommunismus. Der Kommunist (nicht in stalinistischer Diktion) Amado hatte noch nie viel für Dogmatiker (gleich welchen Lagers) übrig, aber die Hoffnung auf eine gerechte, soll heißen nichtkapitalistische Welt hat er erklärtermaßen bis heute nicht begraben.
Vielleicht besteht ja darin eine gewisse (neue) Unanständigkeit, die heutigen Lektoren das Buch nicht ganz p.c. erscheinen lässt. Ja, wenn er über Huren geschrieben hätte…
Jorge Amado
Auf großer Fahrt,
Dietz Berlin 1997.