In diesem Buch wird ein Phantom gejagt, im wahrsten Sinne des Wortes. Einer Nebenbemerkung bei Verhören vor dem Nürnberger Prozess zufolge gab es im faschistischen Deutschland eine graue Eminenz, die die Wissenschaftsentwicklung steuerte. Niemand kennt den wirklichen Namen dieses Wissenschaftlers, der nur als Klingsor bekannt ist, man kann aber davon ausgehen, dass er nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich einflussreich gewesen sein muss. Da die USA noch während des Einmarsches ihrer Truppen in Deutschland alles taten, bedeutender deutscher Wissenschaftler habhaft zu werden – Werner Heisenberg u.a. wurden sehr schnell verhaftet – waren sie auch sehr interessiert, diesen Klingsor zu finden.
Verantwortlich für diese Jagd auf den mysteriösen Klingsor ist Francis Bacon, einst Physiker am renommierten Institute for Advanced Study in Princeton, der nun Mitarbeiter des Geheimdienstes ist. Bacon ist schüchtern, weltfremd und ein kleines naturwissenschaftliches Genie. Auf einen Rat hin zieht er den deutschen Mathematiker Gustav Links zu seiner Suche hinzu. Dieser ist ein Insider: Er arbeitete einst im Team von Werner Heisenberg, gehörte zum Kreis der Verschwörung vom 20. Juli 1944 und entging nur durch einen Zufall dem Tod.
Der Leser erlebt die Suche nach Klingsor aus der Sicht von Links, der im Herbst 1989, als um ihn herum die Leipziger Montagsdemonstrationen das Ende der DDR einläuten, sein Leben und insbesondere diese Episode zu Papier bringt. Das ganze Buch ist aufgebaut wie eine wissenschaftliche Arbeit mit Satz 1 und Corollar 1, Satz 2 usw. usf. Die beiden Wissenschaftler folgen bei ihrer Suche streng logischen Prinzipien. Vor den Augen des Lesers entwickelt sich nun ein wahrer Wissenschafts-Thriller, in dem man nebenbei allerhand erfährt über klassische Physik, Quantentheorie, mathematische Theoreme und die (mitunter recht kleinlichen und zickigen) Auseinandersetzungen von Genies, wenn sie nicht einer Meinung sind. Albert Einstein, Niels Bohr, Max Planck und Erwin Schrödinger sind nur einige der illustren Wissenschaftler, denen man in diesem Buch begegnet. Nur Klingsor begegnet man nicht, der bleibt bis zum Schluss ein Phantom. Schrödinger könnte Klingsor sein, Heisenberg vielleicht oder sogar Links …
Erfunden hat die ganze Geschichte ein Mexikaner, und damit ist dieses Buch über Wissenschaft in Deutschland (und den USA) auch für den Quetzal interessant. Es scheint ein Vorteil zu sein, dass ein Mexikaner diese Geschichte erfunden hat; irgendwie sind Ausländer wohl besser (freier, unbelasteter?), wenn es um die Entwicklung von Fiktionen im Zusammenhang mit der jüngeren deutschen Geschichte geht, man vergleiche nur Robert Harris‘ Vaterland. Unbefangen und geschickt baut Volpi historische Ereignisse in seine Fiktion ein. Meines Erachtens gelingt es ihm hervorragend, die „trockenen“ Ausführungen über die Geschichte von Mathematik und Physik zu einem spannenden Wissenschaftskrimi zu verarbeiten – mit Liebe, Lüge, Verrat, allen Zutaten also, die ein Thriller braucht. Spannend schreiben kann er dieser Volpi. Wenn er aber die Wissenschaft und die „wissenschaftliche“ Jagd verlässt und anfängt zu „menscheln“, dann – nun ja. „Ich sah ihre unerschrockene stille Gestalt oben auf der Treppe, einer alten Statue gleich, die im Begriff ist, in Stücke zu zerspringen. Ihr sanfter Blick war verschwunden, in ihren Augen war nur noch eine dunkle Leere, die zu füllen ich mich nicht in der Lage fühlte.“ Die dunkle Leere rührt wohl daher, dass im Berlin von 1944 nachts vor allem strenge „Verdunkelung“ angesagt war. Aber immerhin schreit er ihr noch entgegen, dass er sie liebe. Ja, er schreit – wenn schon Gefühle, dann richtig. Die Gartenlaube lässt grüßen. So spannend er seine Handlung aufbaut, Menschen sind wohl nicht die starke Seite des Schriftstellers Jorge Volpi.
Hinzu kommt, dass er vermutlich nie in Deutschland war. Die Schilderungen deutscher Städte (u.a. auch Göttingen) sind steril und nichtssagend. Leipzig scheint es ihm angetan zu haben: In seinem Buch „Der Würgeengel“ spielt ebenfalls ein Leipziger die Hauptrolle. Leider kennt er die Stadt aber zweifelsohne eher aus Nachschlagewerken etc. (Man vergleiche nur Links‘ Beschreibung seines Studienortes auf Seite 139). Vielleicht hat er Leipzig auch einmal im Fernsehen gesehen, als es für eine kurze Zeit ein Star in den Medien der Welt war. Ausgestattet mit diesem Wissen reicht es nur zum Klischee, was dem Buch nicht eben gut tut. Letzten Endes hält Volpi die geschickt aufgebaute Spannung nicht durch, am Schluss fällt der Spannungsbogen stark ab. Gut, es ist nicht einfach, die Jagd auf ein Phantasieprodukt aufzulösen; wie er das tut (jaja, die DDR und die Psychiatrie) ist nur noch ärgerlich. Die letzten zwanzig Seiten des Buches (so ungefähr) sind einfach nur schwach – schade.
Und noch eine Bemerkung zum Schluss: Ein Klingsor-Paradox gibt es selbstverständlich nicht, da hat der Erfinder des deutschen Buchtitels wohl einiges falsch verstanden. Bacon und Links, die Klingsor nicht wie Kriminalisten, sondern wie Wissenschaftler suchen, erkennen irgendwann, dass sie in eine Sackgasse geraten sind, an einen Punkt, an dem das Epimenides-Paradoxon Gültigkeit hat. Der Kreter Epimenides, der eine oder die andere wird sich vielleicht dunkel erinnern, hatte einmal den Satz geprägt „Alle Kreter lügen.“ Wenn also der Physiker (und stramme Nazi) Johannes Stark den Physiker Bacon vor weiteren Nachforschungen warnt und zur Vorsicht mahnt, weil alle Physiker Lügner seien – wer lügt dann eigentlich?
Jorge Volpi
Das Klingsor-Paradox
btb München 2003