Jüdische Literatur Lateinamerikas – Letras Judias Latinoamericanas“ ist der Titel der Nummer 42 des Rowohlt Literatur-Magazins. Das Stichwort jüdische Literatur läßt einen wohl sofort an Isaac Bashevis Singer und seine Schilderungen des Lebens im osteuropäischen Shtetl denken, vielleicht auch an Saul Bellow oder moderne israelische Fiktion, sicher aber nicht vorrangig an Literatur in Lateinamerika, an lateinamerikanische Literatur.
Die letras judias latinoamericanas sind dem Großteil der europäischen Leser relativ unbekannt, dasselbe gilt wahrscheinlich für jüdisches Leben in Lateinamerika überhaupt.
Deshalb ist dem eigentlichen literarischen Teil der Monographie und den Textbeispielen auch eine relativ lange Einleitung vorangestellt, die erklärt, wie Lateinamerika zum „jüdischen Ort in der Zeit“ wurde. Diese Einleitung bietet einen sehr guten Abriß der jüdischen Immigration nach Lateinamerika und eine spannende Schilderung des jüdischen Lebens in der Neuen Welt. Sie weckt das Interesse, sich näher mit dem Thema zu beschäftigen und weiterzulesen. Leider findet man dazu keinerlei Literaturhinweise, wie auch auf jegliche Quellenangaben vollkommen verzichtet wird.
Nachdem die jüdische Dimension der lateinamerikanischen Geschichte erläutert wurde, beschreibt der Autor die Entstehung der spanischsprachigen jüdischen Literatur in Lateinamerika. Er charakterisiert sie als neue jüdische Literatur in spanischer Sprache. Ihre Vorläuferin war die Literatur der sephardischen Juden auf der iberischen Halbinsel im Mittelalter. Allerdings kann man hier nicht von einer linearen Vorläuferin sprechen. Denn während die sephardische Literatur aus dem friedlichen Zusammenleben der drei Weltreligionen entstand und mit Ladino eine eigene Variante des Spanischen, die stark von hebräischen Elementen geprägt war, besaß, entwickelte sich die jüdische Literatur Lateinamerikas gerade aus dem Erlebnis von Verfolgung in der Alten und Einwanderung in die Neue Welt. Zudem war für die ersten jüdischen Autoren Lateinamerikas, die zum ganz großen Teil aus Osteuropa stammten, Spanisch oft nicht Muttersprache und auch heute noch wird jüdische Literatur in Lateinamerika oft zweisprachig verfaßt, sei es nun spanisch-jiddisch oder spanisch-deutsch.
Nicht nur deshalb finde ich es irreführend, die jüdische Literatur Lateinamerikas als spanische Literatur zu bezeichnen. Durch diese Definition wird nämlich auch die Literatur in portugiesischer Sprache, die in den Textbeispielen der Monographie sehr wohl präsent ist, aus der Entwicklungsgeschichte der letras judias latinoamericanas ausgeklammert. Der Autor löst dieses Definitionsproblem indem er später die jüdische Literatur in portugiesischer Sprache einfach zur Variante der spanischsprachigen Literatur erklärt und so ihre Eigenständigkeit negiert.
Demgegenüber wurde bei den Textbeispielen die Vielfalt der jüdischen Literatur in Lateinamerika ausgewogen wiedergegeben. Genauso wie sich Beispiele aus allen Zielländern jüdischer Immigration finden, sind auch die verschiedensten Epochen vom anfänglichen Optimismus der ersten Einwanderer, über die Bedrücktheit der zu oft abgewiesenen Flüchtlinge und das Trauina der Verfolgung und der shoa bis zur Identitätssuche und -findung der zweiten und dritten jüdischen Generation in Lateinamerikapräsent. Hinsichtlich der Gattungen liegt das übergroße Schwergewicht sehr stark auf
Lyrik. Prosa kommt nur in Form von relativ kurzen Auszügen aus dem Roman „Die jüdischen Gauchos“ von Alberto Gerchunoff vor.
Gerchunoff, der in der Ukraine geboren wurde und als Kind zu den ersten jüdischen Einwanderern in Argentinien gehörte, beschreibt eindringlich wie Argentinien für die verfolgten Juden des Zarenreichs zur Utopie wird, zum Gelobten Land.
„Jakob erinnerte sich an diese Versammlungen. Es war die Zeit der vielen Sondergesetze im Heiligen Russischen Reich. Die Lanzen der Kosaken beschädigten alte Synagogen; und die geschichtsträchtigen, feierlichen und altehrwürdigen Heiligtümer, die aus Deutschland mitgebracht worden waren und auf denen der salomonische Sechszackstern erglänzte, wurden auf den Gemeindewagen durch die Straßen geführt. Das vergaß Jakob nicht. Er rief die Worte der Rabbiner ins Gedächtnis, das Klagen der Frauen, als die Kosaken die Heiligen Bücher in der großen Synagoge, die dem Schtetl von ihren Vorvätern gestiftet worden war, verbrannte. Die ganze Bevölkerung trug Trauer. Dies geschah am Vorabend des Wochenfestes Schawuoth. Die Palmzweige waren in Schwarz gehüllt, um das Frühlingsfest zu begehen. Schwarz gekleidet waren die Frauen und Kinder. Und die Greise fasteten vierzig Tage und vierzig Nächte lang. Zu jener Zeit unternahm der Dajin, Rab-bi Jehuda Anakroi, eine Reise nach Paris, um mit den Männern Baron Hirschs die Organisation der hebräischen Siedlungen in Argentinien zu vereinbaren. Bei seiner Rückkehr versammelten sich die Juden, und der greise Gelehrte konnte ihnen die gute Neuigkeit verkünden: „Der Herr Baron Hirsch, den Gott segnen möchte, hat das Versprechen gegeben, uns zu retten, und Rabbi Zadock-Kahn, mein Kollege, wird ihn in seinen Zielsetzungen leiten.“
Und der Dajin – mit seiner in den synagogalen Disputen geübten Redekunst – beschrieb eine wunderbare Zukunft für das verfolgte Volk. Seine ergriffene Stimme vibrierte wie im Tempel, wenn er vom Gelobten Land sprach. Mit seiner knotigen und vom Blättern in den Schriften ausgetrockneten Hand strich er sich durch seinen schlohweißen Bart. Aus seinen kleinen, lebendigen Augen blitzte ein prophetisches Licht. „Ihr werdet schon sehen! Ihr werdet schon sehen! In einem Land, in dem alle arbeiten und die Christen uns nicht hassen, weil dort der Himmel anders ist und in ihren Seelen die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit wohnt.“
Die Worte Rabbi Jehuda Anakrois besänftigen den Geist der traurigen Menschen. Durch die hohen Fenster drang die Helligkeit der Nacht ein, die den schlanken und ärmlichen Zuhörern ein gespenstisches Aussehen gab. Die Israeliten stammelten in entzückter Versenkung: „Amen.“
Während die Menschenmenge wartete, kamen bei jedem einzelnen verschwommene Erinnerungen auf. Jeder sah den Morgen, an dem er das düstere Zarenreich verlassen hatte, und ließ die Ankunft im Gelobten Land wiedererleben, das in den Tempelpredigten vorhergesagte Jerusalem. Und auf losen Blättern wurden die Vorzüglichkeiten des Bodens -in russischen Versen – kundgegeben:
Nach Palästina und Argentinien werden wir zum Aussäen gehen, Freunde und Brüder, wir werden frei sein und leben…
Doch Gerchunoff schildert auch, wie dieser Optimismus an der Realität des Einwandererlebens schließlich zerbrechen mußte.
Ein Thema, daß auch in den Gedichten des Magazins immer präsent ist, bei den jüngeren, bereits in Lateinamerika geborenen Lyrikern kommt noch die Identitätssuche hinzu.
Myriam Moscona Einbürgerungsurkunde
Wir Töchter von Ausländern
wurden mit peinlich genauen Kompaßnadeln geboren.
In ehrenvollen Zeiten
besuchten wir Museen in Paris.
Wir gingen in den Louvre auf der Suche nach der Mona Lisa.
Auch wir wuchsen in der Widrigkeit heran
und lachten mit vorhersehbarem Lächeln.
Wenn der Krieg uns vom alten Kontinent verstieß,
dann zwingt uns ein Hauch, unsere Anschauung zu verdoppeln.
Wir bleiben auf Lebenszeit.
Wir unterhalten uns zwischen Aufenthalten und Abfahrten.
Wir möchten unter freiem Himmel gebären, damit das Blut in feste
Erde fließt, bis sich die Wurzeln in der Geschichte verlieren.
Besonders erwähnenswert ist Edna Aizenbergs Aufsatz „Jorge Luis Borges und die jüdische Identität in Lateinamerika“ aus dem Porträt-Teil des Magazins. Aizenberg stellt hier die interessante Theorie auf, und begründet sie schlüssig, daß gerade der nicht-jüdische Borges die jüdisch-literarische Identität in Lateinamerika nachhaltig geprägt hat. Der Aufsatz zeigt, wie sehr Eigen- und Fremdbild miteinander verwoben sind.
Wenn wir den von Israel erfüllten Borges lesen, lesen wir uns selbst; wir lesen uns als Juden und als Lateinamerikaner, als lateinamerikanische Juden, als Juden in Beziehung zu unserer freundlichen Umwelt und als Juden in Beziehung zum Staat Israel…
Wenn wir Borges so lesen, versuchen wir unser eigenes Antlitz zu finden, unsere Sinnbedeutungen, die Sinnbedeutungen, die es uns mitten im komplizierten Durcheinander der Identitäten und Beziehungen zu finden drängt, die unser Schicksal – und größtenteils auch Borges‘ Schicksal – sind. Beim Lesen schreiben wir: wir schreiben über uns, indem wir Borges wiedererschaffen, diesen Borges, der das Aleph verwebte…
Borges spricht zu uns, weil wir durch ihn das Hebräische in einem lateinamerikanischen Kontext legitimieren können. Der Autor der „Fiktionen“, der die moderne lateinamerikanische Literatur ermöglichte, indem er eine neue Sprache schuf, verleih dem jüdischen Kulturerbe Legitimation und Anerkennung. In seinen Händen wurde die Kabbala, das Aleph, Gershom Scholem und der Golem, Isaac Luria und Moises de Leon, Baruch Spinoza, Rafael Cansinos-Assens und Franz Kafka, der wandernde Jude, der israelische Jude und eine nebulöse, aber stolz angenommene jüdische Ahnenreihe zu einem Teil des fortschrittlichen literarischen Diskurses in Lateinamerika.
Das Literaturmagazin gibt durch seine Mischung aus Geschichte, Textbeispielen, Theorie und Porträts eine interessante Einführung in die jüdische Literatur Lateinamerikas. Der Leser gewinnt einen ersten Eindruck, der natürlich nicht vollständig sein kann und wahrscheinlich auch nicht will.
Besonders die Gedichte sind sehr gut ausgewählt und zusammengestellt. Allerdings erfährt man nicht, aus welchen Bänden sie stammen und auch die Werkangaben im biographischen Teil beschränken sich auf wenige Beispiele. Das ist besonders schade, da es gerade die Stärke des Magazins ist, die Lust am Weiterlesen zu wecken.
Jüdische Literatur Lateinamerikas.
Literatur Magazin 42. Rowohlt Verlag 1998