Auf der Suche nach den verlorenen Realviszeralisten
Roberto Bolaño gilt als das Enfant terrible der chilenischen Literatur. Jedenfalls versuchen hiesige Kritiker, ihn dazu zu machen. Man rezensiert ihn überschwänglich, sehr überschwänglich. Mal vergleicht man ihn mit Cortázar, mal mit Vargas Llosa. Hin und wieder müssen auch Borges und (natürlich) García Márquez herhalten; und sei es auch nur, weil Bolaños Weg „zwischen“ beiden „hindurch führt“. Warum vergleicht man eigentlich jüngere deutschsprachige Autoren nicht immer gleich mit Hesse, Mann (egal welchem) oder sogar Goethe …
Lassen wir das also. Eins ist allerdings nicht zu leugnen: Bolaño ist weitgehend respektlos gegenüber allen Größen oder Möchtegern-Größen der Literatur (bevorzugt der lateinamerikanischen) und da er ein Schandmaul hat, sagt er das auch. Kritik � la Bolaño gefällig? „Auf einer Skala von eins bis zehn: 0,5 für Isabel Allende und minus 150 für Coelho.“
Bolaño wurde 1953 in Santiago de Chile geboren, aufgewachsen ist er in Chile und Mexiko. 1973 geht er nach Chile zurück, gerät in die Wirren des Militärputsches, ist wenige Tage in Haft und kehrt nach Mexiko zurück. Seit 1976 lebt er in Spanien. Soweit die Vita.
„Die wilden Detektive“ ist das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe. In deutscher Übersetzung sind bisher drei weitere Bücher erschienen („Die Naziliteratur in Amerika“, 1999, „Stern in der Ferne“, 2000, und „Amuleto“, 2002). Auch wenn der Titel so klingt, „Die wilden Detektive“ ist kein Krimi. Es ist ein literarisches Werk – im wahrsten Sinne des Wortes. Worum geht es also? Juan García Madero, ein sehr jugendlicher Student und Poet, der alles über griechische Versfüße, jedoch nichts über die Liebe weiß, begegnet im Jahre 1975 in Mexiko-Stadt den Dichtern der „Infrarealistischen Bewegung“. Nein, das war ja der Verein, den der junge Bolaño in Mexiko gegründet hat. García Madero begegnet natürlich den Realviszeralisten. Die Realviszeralisten wollen nicht weniger als die gesamte Literatur, besonders die in Lateinamerika, revolutionieren. Was es an bekannten Autoren gibt, findet vor ihren Augen kaum Gnade – also Octavio Paz z.B. sollte man am besten vergessen. Sie lesen ständig und alles Mögliche (auch unter der Dusche), lieben es ausländische Bücher zu kaufen (oder zu klauen) und zu übersetzen, auch wenn sie die Sprache nicht beherrschen. Sie sind anspruchsvoll, unduldsam, respektlos und dogmatisch; mit anderen Worten – ganz normale junge Leute.
Die Begegnung mit den jungen Dichtern um Raúl Lima und (den Chilenen) Arturo Belano eröffnet García Madero ein völlig neues Leben. Er lernt das Bohemeleben (die arme Variante) ebenso wie die Sexualität kennen und vernachlässigt seine Studien schließlich völlig. In seinem Tagebuch beschreibt er seine Erlebnisse sehr freimütig und ausführlich; dem Leser eröffnet sich eine Art Wanderung durch Ciudad de México. Irgendwann erweitert der Chronist seinen Radius und bricht in Richtung Norden auf, zusammen mit Lima, Belano und Lupe, einer jungen Prostituierten, mit der er zusammenlebt. Das Quartett ist auf der Flucht vor Lupes Zuhälter, der sein Schäfchen nicht verlieren will. Die Reise durch Mexikos Norden nutzen die Realviszeralisten für die Suche nach Cesarea Tinajero, die in den Zwanzigern zu den Ur-Realviszeralisten gehörte und ihr großes Vorbild ist. Sie werden Cesarea finden und wieder verlieren, z.T. irrwitzige Abenteuer erleben – immer auf der Flucht vor Alberto, dem Zuhälter.
García Maderos Odyssee durch die mexikanische Hauptstadt und den Norden seines Landes, der man fast auf dem Stadtplan bzw. einer Landkarte folgen kann, wird unterbrochen von einer anderen Suche. Irgendwer, es ist bis zum Schluss nicht klar, um wen es sich eigentlich handelt, ist auf der Suche nach Raúl Lima und Arturo Belano. Die Unterbrechung geschieht abrupt: Von einer Seite zur anderen wechseln Stil und Form des Buches. Dokumentiert wird diese Suche mit den Aussagen zahlreicher Personen (wer Lust hat, kann sie zählen), die die Anführer der Realviszeralisten oder andere Mitstreiter der Gruppe kennen gelernt haben. Selbst der bereits erwähnte Octavio Paz taucht auf, allerdings mehr als Widerpart der jungen Dichter. Alles in allem begegnen wir Menschen und Abenteuern in Mexiko, Spanien, Frankreich, Israel, Angola, Ruanda, in einem Zeitraum von 1976 bis 1996. Eine Chronik geplatzter Illusionen, gescheiterter Hoffnungen, Utopien und Lebenspläne.
Das ist mehr oder weniger alles, was in „Die wilden Detektive“ passiert. Bolaño selbst nannte sein Buch einen „Abenteuerroman voller Sex, Drogen und Rock’n Roll“. Stimmt, nur die Literatur, besonders die Dichtkunst, hat er vergessen („Was ist eine Epanalepsis?“). Das Ganze ist letztlich eine Ansammlung skurriler Typen, haarsträubender, absurder Geschichten – lustig, spannend, irritierend, intellektuell.
„Die wilden Detektive“ ist zum Kultbuch hochgejubelt worden (von wem auch immer), was in Zeiten, wo so ziemlich alles Kult ist, was sich einigermaßen verkaufen lässt, eigentlich nicht für das Buch spricht. Sagen wir es so: Ein Bestseller wie die Bücher von Isabel Allende (um wieder zu Bolaños Einschätzung zu kommen) ist dieses Buch zweifellos nicht. Und wer die Bücher von Isabel Allende mag, wird „Die wilden Detektive“ vermutlich nicht mögen. Wer aber gerne Bücher ließt, die Spannung und intellektuelles Vergnügen bieten, der ist bei diesem 677-Seiten-Wälzer richtig. „Die wilden Detektive“ ist nämlich wirklich ein tolles Buch.
Roberto Bolaño
Die wilden Detektive
Carl Hanser Verlag 1998
ISBN 3-44620125-4