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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Schütz-Buenaventura, Ilse: Globalismus contra Existentia

Nora Pester | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Sein oder Nichtsein

Ich denke, also bin ich. Doch wie denke und spreche ich von dem, was ich bin? Was unter cheidet die europäische Daseinssemantik von der hispanoamerikanischen? Ilse Schütz-Buenaventura stellt in ihrem Buch die Seinserfahrung der Naturhaftigkeit der voluntaristisch-objektivistischen Ontologie europäischer Philosophie gegenüber. In einer äußerst komplexen geistesgeschichtlichen und sprachphilosophischen Analyse überprüft sie abstrakte begriffliche Zusammenhänge auf ihre Relevanz für Weltverständnis und politische Praxis.

Dem deutschen Verb sein entsprechen im Spanischen zwei Verben: ser und estar. Sie ermöglichen die sprachliche Bewahrung sowohl des Individuellen als auch der Gemeinschaft der Lebendigen. Als Repräsentant eines veränderlichen Seins bewahrt das Verb estar die Existenz des Da-seienden vor der Abstraktion, verhindert die Aufhebung seiner Einmaligkeit und die Auflösung in einer allgemeingültigen Gesetzlichkeit. Sprachen, die zum Ausdruck der Veränderlichkeit nur auf das Verb sein zurückgreifen können, geraten stets in eine Zweideutigkeit, der das ursprünglich Reale zugunsten einer Verselbständigung der Abstraktion zum Opfer fällt. Die spanische Daseinssemantik bewahrt diese verlorengegangene Dimension.

Das Spanische in Lateinamerika befreite den durch die Conquista besetzten Sinn von estar durch die Koexistenz und Gleichzeitigkeit der verschiedenen Seinsweisen und gewann die ursprünglich antimetaphysische Bedeutung für die Alltagssprache zurück. Diese ursprüngliche Symbolik von estar wurde jedoch von Neoplatonismus und Christentum entstellt. Die Autorin versucht, die philosophischen Prinzipien der spanischen estar-ser-Semantik anhand der Alltagssprache zu rekonstruieren. Sie analysiert die lateinamerikanische Rezeption des Naturansatzes von Rousseau und untersucht idealistische Texte hinsichtlich ihrer Konstitution des moderen Selbst.

Wird das Deutsche meist durch die Kongruenz mit dem grammatischen Sachverhalt bestimmt, tendiert die spanische Sprache zur Darstellung einer gemeinsamen Realität. Der estar-Sprecher bewegt sich in einer räumlich-zeitlich integrierten Dimension der Koexistenz mit dem Realen, die den Begriff der „Umwelt“ ad absur-dum führt. Die Situierung des Sprechenden in Zeit und Raum ist jedoch kein statisches Konzept einer bloßen Bodenständigkeit. Während Hegel die innere Spaltung des Selbst auf jede natürliche Existenz überträgt und damit ihre Vereinnahmung und Zurückführung auf die Eindeutigkeit des Absoluten ermöglicht, entwickelt die spanische Sprache eine verbal-fließende Lebendigkeit, die jeder Existenz eine estar-Partizipation an einem Multiversum des Seins erlaubt.

Die estar-Kultur, als solche bezeichnet Schütz-Buenaventura das „ursprüngliche“ Lateinamerika, basiert auf einer fließenden Realität. Sie repräsentiert eine frei koexistierende kommunikative Gemeinschaft, eine „zwanglos fröhliche Kontingenz“ und einen „Magischen Realismus“, der unter neoliberalen Anpassungsdruck gerät. Mit dieser Aussage provoziert die Autorin jedoch eine Exotisierung peripherer Diskurse und läuft Gefahr, als essentialistisch mißverstanden zu werden.

Viele ihrer Ansätze, die durchaus eine hohe theoretische Qualität aufweisen, wären wahrscheinlich in einer komprimierten Aufsatzsammlung besser zur Geltung gekommen. Das Kapitel „Don Quijote: Subjekt als Wahnvorstellung“ ist ein eigenständiger Essay über das Selbstverständnis als Verstehen des Seins. „Das moderne Prä-Post-Denken und die Negation des Subjekts“ würde mehr als nur eine gute Zusammenfassung bieten – das Buch ließe sich auf dieses Kapitel verdichten. Die Autorin kritisiert darin die „Postismen“ als eine seit Jahrhunderten mittels der christlichen Zeitrechnung angewandte Praxis, Andersartiges vom eigenen Standpunkt her ausschließend – involvierend zu bewerten und mit der Negation des Subjekts auch dessen Unverantwortlichkeit für Vergangenes und Gegenwärtiges zu rechtfertigen. Ihr gelingt mit „Verweilen-können als Ort der öffentlichen Verständigung“ das vielleicht aussagekräftigste Kapitel dieses Buches über das vollkommen in sich verdrängte Selbst der Moderne, welches nicht mehr zu einem spontanem Sich-gehen-lassen oder genußvoller Kommunikation fähig ist. Das Ego reduziert sich auf etwas rein zweckmäßig Leistendes, das nur mit der Selbstkontrolle seiner zwei in sich getrennten Naturen beschäftigt ist – gefangen in der eigenen Ambivalenz.

Globaler Selbstbezug als Konsequenz eines von Hegel angestrebten Ganzen führt nach Schütz-Buenaventura zur realen Verarmung der menschlichen Existenz. Die Differenz besitzt eine inhärente Dynamik, die nicht mehr kontrollierbar ist. Alle Lebensformen stehen vor ihrer Selbstauflösung. Die Verschrumpfung des Ichs zur konsumgierigen Leere als Massenphänomen steht für die Popularisierung der vom Idealismus etablierten und dynamisierten reinen Gewißheit seiner selbst. Globalisierung ist nicht institutioneller Zwang, dem sich das Kollektiv fügt. Es sind vielmehr die von der Realität entsemantisierten Individuen, die als passive Träger von Abstraktionen diesen Prozeß vorantreiben: „Der moderne Expansionist sichert seine Beute, indem er anderes zunächst von sich trennt oder zum Fremden macht, und es dann zusätzlich als das andere seiner selbst ‚anerkennt‘. Indem anderes in die eigene Sphäre integriert wird, beraubt man es seiner eigenen Qualität.“

Es ist bedauerlich, daß sich die Autorin in einem Netz philosophischer Diskurse verläuft, die vom Begriff des ‚Selbst‘ als ursprüngliche Realität bei Rousseau über Hobbes bis zur Dialektik fuhren. Kontextuell losgelöst verselbständigen sich vor allem die historischen Exkurse, Wiederholungen nicht ausgeschlossen. Beinahe kryptische Formulierungen lassen den Entwurf einer Metasprache erahnen, die regelmäßig die Grenze zur Unverständlichkeit transzendiert. Schon der Titel des Buches verlangt vom ambitionierten Leser überdurchschnittliche Konzentrationsfähigkeit. Sollte das noch nicht abschrecken, wirkt spätestens eine Leseprobe demotivierend:

„Durch die Definition des reinen Seins als nichtig Potenziertes, das die leere Negation affirmieren muß, wird die kreisförmige Struktur des Bewußtsein-Selbstbewußtseins oder des Selbst überhaupt zur universellen logischen Form einer Immanenz gebracht, die durch die Zersetzung des Daseins als Globus der Macht anschwillt.“ Die Arbeit von Schütz-Buenaventura entbehrt nicht philosophischer Originalität und Aktualität. Letztendlich ist sie jedoch in großen Teilen als unlesbar zu bezeichnen, was im Zeichen von Poststrukturalismus und Dekonstruktion jedoch schon wieder ein Verdienst darstellt.

Ilse Schütz-Buenaventura: Globalismus contra Existentia: Das Recht des ursprünglich Realen vor dem Machtanspruch der Bewußtseinsphilosophie: die hispanoamerikanische Daseinssemantik. Wien: Passagen Verlag, 2000.

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