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Arriaga, Guillermo: Der süße Duft des Todes

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Die Macht der Lüge

Loma Grande, ein kleines Dorf in Mexiko, wird zum Schauplatz eines kaltblütigen Mordes an einem jungen Mädchen. Viel Volk sammelt sich an der Stelle, wo die Leiche gefunden wurde, und alles spricht dafür, dass die Suche nach dem Täter dieser schrecklichen Tat beginnt. Aber das täuscht, denn anstatt die Wahrheit aufzudecken, wird von den Dorfbewohnern eine Lüge in die Welt gesetzt, die sich mit einer erstaunlichen Eigendynamik nach und nach zur „Wahrheit“ zementiert. Lüge folgt auf Lüge, und am Ende steht eine Vielzahl von persönlichen Tragödien. Die kollektive Lüge schließt das bewusste Wegschauen und das Verschweigen von wichtigen Tatbeständen ein. Alte Seilschaften und eigene Interessen sind weitaus wichtiger als die Wahrheitsfindung. Vetternwirtschaft und Korruption sind an der Tagesordnung und werden nicht kritisch hinterfragt und schon gar nicht bekämpft. Die Gründe für das Lügen sind vielgestalt: Bei den einen ist es Klatschsucht, die sie von der Wahrhaftigkeit abweichen lässt, und im Falle desjenigen, der wissentlich einen Unschuldigen des Mordes beschuldigt, geschieht es aus reinem Geltungsbedürfnis. Endlich schenkt man auch ihm mal Gehör! Endlich wird auch er mal ernstgenommen!

Getragen wird das Unrecht von dem Kollektiv der Dorfgemeinschaft, das nach eigenen uralten und unantastbaren Gesetzen zu funktionieren scheint, die sich über unzählige Generationen hin vererbt und erhalten haben und die aufgrund dieser Faktoren so stark sind, dass niemand ihre Vernunftwidrigkeit auch nur in Betracht zu ziehen wagen würde.

Sinnentleertheit zeigt sich auch sprachlich an der Fülle von Floskeln, mit deren Hilfe man sich untereinander verständigt und die sich in ihrer Absurdität der Sprachlosigkeit nähern. Niemand versteht es, Klartext zu reden: Bevor man zu dem eigentlichen Thema kommt, schlägt man verbal riesige Umwege ein und bespricht Belanglosigkeiten wie das Wetter und die Hirseernte. Oftmals bleibt es dann auch dabei und das Eigentliche ungesagt. Die Begrüßungsfloskeln, auf die der Gemeindevorsteher und sein alter Freund, der Chef der Landpolizei, in gewohnter Stupidität unbeirrt immer wieder zurückgreifen, stammen noch aus
ihren Kindertagen und wirken entsprechend. Undenkbar, selbst solche Dinge zu ändern!

Unter den Dorfbewohnern herrscht große Abwehr gegenüber allem Fremden und Neuen. Alles was neu ist, wirkt bedrohend und wird kategorisch und ungeprüft abgelehnt. Althergebrachtes hingegen, wie auch die Blutrache, hat seinen unantastbaren und selbstverständlichen Platz im Leben und Denken der Dorfbewohner. Streitigkeiten werden wie eh und je von den Betroffenen untereinander ausgefochten. Wenn dabei ganze Familien ausgerottet werden, findet das niemand alarmierend.

Die Gemeinschaft bietet ihren Mitgliedern Schutz und Zusammenhalt, untereinander und insbesondere gegen Fremde. Sie ist festgefügt, in ihr kann kein Außenstehender Aufnahme finden. Aus ihr ausgestoßen zu werden, ist jederzeit dann möglich, wenn gegen ein oder mehrere der ungeschriebenen Gesetze verstoßen wird. Die Angst davor ist allgegenwärtig und führt bei den Dorfbewohnern dazu, diese Gesetze im eigenen Interesse und zum eigenen Schütze blind zu befolgen. Dies wird besonders an dem Verhalten des Dorfvorstehers und der Ehebrecherin deutlich. Beide sind im Besitz der Wahrheit und könnten die Tragödie verhindern, tun es aber nicht aus Angst vor persönlichen Nachteilen und insbesondere dem Verlust der Zugehörigkeit zur Dorfgemeinde. Den Mut, diese Strukturen aufzubrechen und zu verändern hat, hat keiner im Dorf.

Ähnlich schwer wie die glühende Sonne auf den Bewohnern des mexikanischen Dorfes lastet, liegt auch die Schuld auf allen, die die Wahrheit kennen, aber aus Feigheit, Bequemlichkeit oder anderen Gründen nicht bereit sind, sie preiszugeben. Dass das Festhalten an alten Verhaltensmustern wie in dem beschriebenen Fall zu großem Unglück führt und dass alle Formen von Liebe zerstört werden, gibt ihnen nicht zu denken.

Arriaga hat mit diesem Roman das Psychogramm einer verschworenen und unheilbringend festgefahrenen Dorfgemeinschaft geschaffen, das in seiner moralischen Abgründigkeit einen tief erschauern lässt und jeden noch so raffiniert konstruierten Mord in den Schatten stellt.

Guillermo Arriaga: Der süße Duft des Todes, Aus dem mexikanischen Spanisch von Susanna Mende, Zürich (Unionsverlag) 2001.

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