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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Deutsche Interessen im südlichen Amerika im frühen 19. Jahrhundert

Bernd Schröter | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Die Unabhängigkeitsrevolutionen der spanischen Kolonien in Amerika hatten bekanntlich nicht nur für die unmittelbar betroffenen Regionen und Spanien tiefgreifende Auswirkungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, sondern darüber hinaus auch für die noch jungen USA und den alten Kontinent Europa. Das betraf zum einen den ganzen Bereich des entstehenden Welthandels, in den die iberischen Kolonien ja schon seit längerem trotz reformerischer Gegenmaßnahmen der spanischen Bourbonen einbezogen wurden. Zum anderen rückten die revolutionären Veränderungen in den iberischen Kolonien in Amerika die Neue Welt mehr und mehr auch in das Fadenkreuz der internationalen Diplomatie und Politik. Auch andere gesellschaftliche Bereiche, darunter die Wissenschaft und Publizistik, bekundeten ihr wachsendes Interesse. Viele dieser Aspekte sind bereits durch die internationale Forschung in Angriff genommen und zum Teil in umfangreichen Untersuchungen dargestellt worden. Das schließt z.T. auch deutsche Beziehungen zu Hispano-Amerika ein. Allerdings dominieren dabei vor allem die Untersuchungen zu traditionellen Fernhandelszentren an der Nordseeküste, wie Hamburg und Bremen, in deren Schatten die deutschen Hinterländer lange Zeit verblieben und kaum explizites Interesse fanden. Doch gerade neuere Forschungen aus der Sicht dieser Regionen belegen, daß sie traditionell nicht nur mehr oder weniger direkte Beziehungen zum kolonialen Hispano-Amerika hatten, sondern daß sich diese Beziehungen auch zu einem Weg entwickeln konnten, die tiefgreifende wirtschaftliche Krise in Preußen und Sachsen nach der Napoleonischen Epoche überwinden zu helfen.

Vor diesem Hintergrund wird im folgenden zunächst in summarischer Form auf einige Aspekte der wirtschaftlichen und politischen Interaktion deutscher Gebiete mit dem südlichen Amerika am Ende der Kolonialzeit eingegangen, um dann etwas breiter die sich etablierenden wissenschaftlichen Interessen und Aktivitäten via Amerika an einem lokalen deutschen Beispiel, Leipzig, in den Mittelpunkt zu rücken.

Die ersten Anzeichen für eine durch die politischen Umbrüche im südlichen Amerika ausgelöste gesteigerte Aufmerksamkeit in deutschen Hinterländern für diesen Teil der Welt scheinen sich im politisch-diplomatischen Bereich entwickelt zu haben. Die noch spärlich vorhandenen offiziellen deutschen Vertreter vor Ort, d.h. vor allem in Brasilien, begriffen sehr schnell, daß mit dem Wegfall der spanischen Handelskontrolle im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen ab 1810 sich völlig neue Perspektiven auch etwa für Preußen ergeben könnten. Carl Wilhelm Theremin, der preußische Konsul in Rio de Janeiro, drängte immer wieder, nicht den Anschluß zu verpassen bei dem Wettlauf um die neuen Pfründe, der zu diesem Zeitpunkt besonders auch am Cono Sur schon eingesetzt hatte. Die Hinweise auf mögliche Märkte für deutsche konkurrenzfähige Produkte häufen sich gerade in den Jahren 1818-1820. Ob er dabei die durchaus schon vorhandenen traditionellen Erfahrungen beim Handel mit dieser Großregion im Auge hatte, ist nicht direkt zu belegen, doch sehr wahrscheinlich. Zu deutlich hatten Hamburger und mit Abstrichen auch Bremer Schiffe ihre Spuren in den Zollbüchern etwa von Montevideo hinterlassen. Ja man kann sagen, daß zeitweilig unter Ausnutzung der Großmachtkonflikte vor allem nach der Jahrhundertwende sich die norddeutschen Kaufleute als einer der bedeutendsten Handelspartner etablieren konnten. So rangierte die 1805 auf 8 Schiffen exportierte Menge von 186.415 Häuten, das Haupthandelsgut des La Plata-Raumes, vor den Portugiesen, Spanien und den USA sogar auf dem ersten Platz, ohne allerdings zu übersehen, daß hierbei die Hamburger zu einem Großteil nur Zwischenhändler waren. So fuhr 1806 von den drei Hamburger Schiffen lediglich eins tatsächlich in seinen deutschen Heimathafen. Durch die Kontinentalsperre verschwinden die Hamburger dann fast völlig aus den Kladden der Montevideaner Behörden. Nur 1809 gibt es noch einmal einen nen¬nenswerten Export von Häuten nach Deutschland.8 Die Ereignisse in Amerika ließen auch weitreichende Folgen für die politischen Verhältnisse und das gerade 1814/15 gezimmerte Kräftegleichgewicht in Europa erwarten. Das wurde von weitsichtigen Politikern dieser Zeit, auch von deutschen, klar erkannt. Einer der besten Belege dafür ist das berühmte Ancillon-Memorandum vom August 1814, in dem der preußische Diplomat vor allem auch auf die unabsehbaren Folgen eines sich republikanisierenden amerikanischen Kontinents für die europäischen Monarchien aufmerksam macht. Im Zusammenhang mit dem spätestens seit der Rückkehr Ferdinands VII. auf den spanischen Thron europaweit einsetzenden Nachdenken über das weitere Schicksal der spanischen Kolonien und über die Gestaltung der eigenen Beziehungen zu den aus der Konkursmasse hervorgehenden Staaten war auch der preußische Staat gezwun¬gen, seine Positionen zu bestimmen. Nicht zuletzt durch den zunehmenden diplomatischen Druck Spaniens, dessen legitime Interessen und Ansprüche in Amerika zu unterstützen, begann Preußen das nachzuholen, was die anderen europäischen Großmächte schon seit fast einem Jahrzehnt getan hatten, nämlich offizielle diplomatische Vertreter in der Region zu etablieren. Zu erwähnen ist, daß sich seit Mai 1817 mit dem außerordentlichen Botschafter, Baron von Flamming, und dem Botschaftssekretär Olfers für mehr als zwei Jahre eine preußi¬sche Vertretung in Rio de Janeiro etablierte. Es sollte für längere Zeit der einzige derartige diplomatische „Vorstoß“ Preußens in die Neue Welt bleiben. Danach weisen die Preußischen Haus-, Hof- und Staatshandbücher lediglich die Eintragung „vacant“ auf. In dieser relativ kurzen Zeit entstand eine rege Berichtstätigkeit, die von z.T. sehr umfangreichen recht gut recherchierten historischen Studien über die gesamte La Plata-Region, aktuellen Lageeinschätzungen bis hin zu konzeptuellen Vorstellungen über die eigene Politik am ConoSur reichte. Auf diese Weise gelangten umfangreiche Informationen in das Herrschaftswissen des preußischen Staates, die damals sonst nur über englische oder kommerzielle Kanäle zu bekommen waren. Das betraf z.B. – allerdings z.T. aus zweiter oder dritter Hand – Nachrichten über die Verhältnisse in Paraguay, über die Vorgänge in Buenos Aires, natürlich in Brasilien selbst, und in der Banda Oriental del Rio de la Plata. Wie diese aber noch an der Oberfläche blieben, belegen beispielsweise die Passagen über die Rolle einzelner militärischer Führer im La Plata-Gebiet. Zu einer Zeit, als im Nordamerikanischen Kongreß offen und einvernehmlich davon gesprochen wurde, daß Jose Artigas, der Führer der Unabhängigkeitsbewegung in der Banda Oriental, der einzige wirkliche Republikaner jener Region sei, beschränken sich die Bemerkungen des deutschen Barons lediglich auf dessen anerkannte militärische Rolle. Abschließend zu diesem Problemkreis sei erwähnt, daß nicht nur in den Armeen an den bedeutendsten Schauplätze der Unabhängigkeitskämpfe Deutsche beteiligt waren, sondern sie, wenngleich sehr vereinzelt, ihre Spuren speziell auch am Rio de la Plata hinterließen. Dabei handelt es sich im vorliegenden Fall um den aus Preußen stammenden Carl August Brayer. Er hatte sich zunächst an den Kämpfen in der Banda Oriental beteiligt. Kaum siebzehnjährig schloß er sich dann der Armee San Martins an, der mit seinem berühmten Paso de los Andes (Andenüberquerung) im Januar 1817 die militärische Befreiung Chiles und Perus maßgeblich voranzutreiben begann. Anfang der 20er Jahre kehrte er dann nach Montevideo zurück.

Aber nicht nur im wirtschaftlichen und politischen Bereich brachten die Unabhängigkeitskämpfe wesentliche Veränderungen mit sich, sondern auch für den geistig-wissenschaftlichen Bereich eröffneten sich, im wahrsten Sinne des Wortes, neue Horizonte. Das betraf in einem besonderen Maße auch Leipzig. Zum lokalen historischen Umfeld kann sich hier darauf beschränkt werden zu erwähnen, daß Leipzig das bedeutendste verlegerische Zeitschriften- und Buchzentrum Deutschlands war und über die Messe vielfältige kommerzielle Kontakte in viele Regionen, auch außerhalb Europas, unterhielt. Darüber hinaus besaß Leipzig mit seiner Universität eine der bedeutendsten Bildungseinrichtungen Sachsens. Für die besonderen Beziehungen Sachsens zu Spanien schlägt generell zu Buche, daß seit dem 18. Jahrhundert enge familiäre Bande zwischen den beiden Königshäusern geknüpft worden waren. So wurden mehrere sächsische Prinzessinnen die Frauen spanischer Könige. Aus dieser Dreieinigkeit von Messe-, Buch- und Universitätsstadt erwuchs ein Nährboden auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem iberischen Kolonien und deren Nachfolgestaaten. Die bisherigen Forschungen haben gezeigt, daß es vor allem die entstehenden Naturwissenschaften waren, aus deren Reihen sich die hier interessanten Personen rekrutierten. In erster Linie trifft das wohl zunächst auf Christian Friedrich Schwägerichen zu, der an der alma mater lipsiensis den einzigen naturwissenschaftlichen Lehrstuhl innehatte. Obwohl sich seine Interessen und Kontakte auch auf andere Regionen konzentrierten, wie etwa die südafrikanische Kapprovinz, kann man ihn mit Blick auf Lateinamerika, etwas zugespitzt, durchaus das Prädikat „Beginner“ zusprechen. Dafür stehen Indizien und Fakten, die auf die eine oder andere Art und Weise mit seiner Person verbunden waren. Folgt man der Chronologie, so wäre zunächst auf die ersten bisher nachweisbaren Verbindungen zum südlichen Amerika zu verweisen. Wie uns aus einem Brief aus dem Jahre 1821 bekannt ist, betraf das „… eine Sammlung von 179 Stück ausgebalgten brasilianischen Thieren, aus…Vögeln und einigen Amphibien bestehend…“, die er hocherfreut präparierte und für die Einbeziehung in die Lehre vorbereitete.

Doch viel gewichtiger erwiesen sich die Früchte seiner wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeit. Dieser war es zu verdanken, daß sich ab etwa 1816/17 um ihn eine Gruppe junger hochtalentierter und enthusiastischer Studenten und junger Wissenschaftler zu formieren begann, die später das moralische und materielle Hinterland für die wissenschaftliche Forschungsreise Eduard Friedrich Poeppigs, eines ihrer Mitglieder, nach Lateinamerika abgab.

Ein weiterer Komplex der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Amerika, besonders auch mit dem Süden dieses Kontinents, ist aufs engste mit dem Wirken der „Naturforschenden Gesellschaft zu Leipzig“ verbunden. Deren erster und langjähriger Präsident war Christian Friedrich Schwägerichen, und auch die Meisten der oben erwähnten Gruppe von Studenten und jungen Wissenschaftlern gehörten ihr von Beginn an. Eine Auswertung der Sitzungsprotokolle der ersten Jahre dieser Gesellschaft vermittelt, daß neben den verschiedenartigsten Themen die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Neuen Welt schon seit den ersten Zusammenkünften zu einer Konstante der Arbeit wurde. Gerade in den frühen Jahren nahmen die lateinamerikanischen Bezüge sogar einen relativ großen Raum ein. Dabei stand vor allem Brasilien im Vordergrund. So ist es auch nicht verwunderlich, daß die portugiesische Kolonie sehr wahrscheinlich zum ersten aktiven „Außenposten“ der Gesellschaft wurde, ehe sich allmählich ein informelles und personelles Netz mit auswärtigen Wissenschaftlern, vor allem Europas, etablierte. So bekundete schon acht Monate (man beachte die lange Beförderungsdauer) nach Gründung der Gesellschaft ein Herr Varnhagen aus Rio de Janeiro sein Interesse am Eintritt in die Gesellschaft, was dann auch realisiert wurde.

Doch der unverkennbar gewichtigste Ausweis für das große Interesse der Leipziger naturhistorischen Forschung im allgemeinen und der „Naturforschenden Gesellschaft“ im besonderen am lateinamerikanischen Raum stellte die Reise Eduard Friedrich Poeppigs dar. Sie führte ihn in fast zehn Jahren über die Stationen Kuba und die USA nach Chile, Peru und Brasilien. Sie begann 1822, in einer Zeit, als noch wichtige Schlachten zur Zerstörung der spanischen Vorherrschaft in Südamerika zu schlagen waren. Für die „Naturforschende Gesellschaft“ stellte diese Reise in zweierlei Hinsicht etwas Außergewöhnliches dar. Zum einen war es die erste Reise dieser Art und Dimension, die von der Gesellschaft materiell und moralisch unterstützt wurde, wohl vor allem getragen von einer starken Lobby um deren Präsidenten Schwägerichen. Als quasi materiellen Beleg läßt sich anführen, daß sich die Gesellschaft über Jahre mit mehr als einem Viertel ihrer Einkünfte an der Finanzierung der Reise beteiligte. Und das, obwohl die anvisierte Region mit heutigen Worten eine Krisenregion erster Ordnung darstellte. Zum zweiten bildete die Berichterstattung Poeppigs über sein Unternehmen bald eine feste Rubrik im wissenschaftlichen Leben der Gesellschaft. Leider sind die Briefe Poeppigs noch immer verschollen, doch aus den Protokolleintragungen geht die große Fülle der übermittelten Informationen hervor, die teilweise den naturhistorischen Rahmen sprengten und politische und soziale Probleme berührten. Zum Höhepunkt in dieser Hinsicht gestalteten sich nach dessen Rückkehr aus Amerika Poeppigs Auftritte in der Gesellschaft, die ein viertel Jahr die wissenschaftliche Diskussion bestimmten. Bezeichnenderweise standen dabei vor allem die südamerikanischen Ureinwohner im Mittelpunkt seiner Betrachtungen.

Als quasi materielle Resultate des wissenschaftlichen Interesses Leipziger Naturforscher und ihrer Förderer in Gestalt von Bankiers, Kaufleuten, Verlegern etc. an Lateinamerika kann man zum einen auf die damals sehr beachtete zweibändige Arbeit Poeppigs „Reise in Chile…“ aus den Jahren 1835/36 verweisen. Zum anderen waren der wissenschaftliche Erfolg Poeppigs und die Arbeit der „Naturforschenden Gesellschaft zu Leipzig“ ein Meilenstein bei der allmählichen Profilierung und auch institutioneilen Verankerung der Naturwissenschaften in der sächsischen Bildungslandschaft. So wurde 1834 zunächst für Poeppig eine außerordentliche Professur für Botanik eingerichtet, die dann 1844 in eine ordentliche umgewandelt wurde.

Summa summantm: Trotz bleibender Desiderata hat die historische Forschung in jüngster Zeit die recht umfangreichen und breit gefächerten Beziehungen deutscher Regionen des sogenannten Hinterlandes zu Lateinamerika belegt, die nach 1810 eine Ausweitung und Intensivierung erlebten.

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* Historiker. Iberische und lateinamerikanische Abteilung des Historischen Seminars. Universität Köln.

Ferdinand VII. saß von 1808 bis 1814 als Gefangener Napoleons im französischen Bayonne. Napoleon hatte 1808, im Zuge der französischen Invasion auf der iberischen Halbinsel, seinen Bruder als Josef I. auf den spanischen Thron gesetzt. Mit dem ersten Sturz Napoleon 1814 kehrte Ferdinand VII. zurück. Er versuchte in reaktionärer Weise eine Restauration des absolutistischen Status quo ante in Spanien und Amerika zu bewerkstelligen.

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Literatur:

– Kossok. M.. Im Schatten der Heiligen Allianz. Deutsehland und Latein¬amerika 1815-1830. Berlin 1964.
– Manning. W.R. (Hrsg.). Diplomatie Correspon-danee of the United States concerning the Independence o t‘ the Latin-American Nations, 3 Bde.. New York 1925.
– Penkwitt. W.. Preußen und Brasilien. Zum Aufbau des preußischen Konsularwesens im unabhängigen Kaiserreich (1822-1850). Wiesbaden/Stuttgart 1983.
– Poeppig. E.. Reise in Chile. Peru und auf dem Amazonenstrom 1827-1832. 2 Bde.. Leip/ig 1835/36.
– Schroten B./Schüller. K. (Hrsg.), Tordesillas y sus consecuencias. La politica de las grandes polencias europeas respecto a AmericaLatina.1494-1898. Frankfurt a.M. 1995.
– Zeuske. M.. Preußen, die ..deutschen Hinterländer“ und Amerika. Regionales. ..Nationales“ und Universales in der Geschichte der „Rheinisch-Westindischen Compagnie“ (1820-1830). In: Scripta Mercaturae. Heft 1/2. 1992. S. 50ff.
– Zeuske. M.; Schröter. B.: Ludwig. J. (Hrsg.). Sachsen und Lateinamerika. Begegnungen in vier Jahrhunderten. Frankfurt a.M. 1995.
– Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. 2.4.1.. Abteilung I und II. diverse Dokumente.
– Universitätsarchiv Leipzig. Protokolle der Naturforschenden Gesellschaft /.u Leipzig. Bd. 1(1818-1832).

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