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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Vorbilder und Nachzügler – Ungleichzeitigkeiten der Nationenbildung in beiden Amerika und Europa

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 20 Minuten

Im Vergleich beider Amerika mit Europa scheinen die Rollen klar verteilt. Während der nördliche Teil der „Neuen Welt“ und die „Alte Welt“ als Vorreiter erfolgreicher Entwicklung gelten, hat es bei Lateinamerika bisher nur zum Nachzügler gereicht. Obwohl die spanischen und portugiesischen Kolonien jenseits des Atlantik nur wenige Jahrzehnte nach den USA ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, gelang es ihnen im Unterschied zum bigbrother im Norden nicht, sich auf föderativer Grundlage zusammenzuschließen, um mit vereinter Kraft ihren Platz an der kolonialen Peripherie zu verlassen und zu den entwickelten Staaten des Nordwestens aufzurücken.

Heute sieht sich der zurückgebliebene Teil der „Neuen Welt“ selbst von den viel später gestarteten „Tigern“ Ostasiens überrundet. Trotz seiner kulturellen und sprachlichen Homogenität hat es Lateinamerika nicht vermocht, einen so dauerhaften und erfolgreichen Zusammenschluß wie die Europäische Union zu initiieren. Ungeachtet seiner Nachzüglerposition braucht Lateinamerika jedoch in zweifacher Hinsicht den Vergleich mit den ansonsten erfolgreicheren Vorbildern nicht zu scheuen: die spanischstämmigen Kreolen der „Neuen Welt“ gehörten schon Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts zu den Vorreitern der Nationenbildung, die zudem größere Integrationserfolge vorzuweisen hat, als die bis heute von ethnischen Konflikten und Rassismus geplagten Nationalstaaten Nordamerikas und Europas.

Das doppelte Rätsel Lateinamerikas

Sowohl die frühzeitige Geburt des Nationalstaates an der Peripherie als auch die erfolgreiche Entschärfung des ethnischen Konfliktpotentials erscheinen aus vergleichender Perspektive zunächst rätselhaft. „Warum waren es gerade Kreolengemeinschaften, die so früh eine Vorstellung von sich selbst als Nation entwickelten – einige Zeit vordem größten Teil Europas? Warum brachten diese Kolonialprovinzen mit einer großen, unterdrückten und des Spanischen nicht mächtigen Bevölkerung Kreolen hervor, welche diese Menschen bewußt als Mitbürger derselben Nation definierten und Spanien, mit dem sie auf so viele Weisen verbunden waren, als feindliches Ausland? Warum brach das spanisch-amerikanische Imperium, das fast drei Jahrzehnte ruhig überstanden hatte, so plötzlich in achtzehn einzelne Staaten auseinander?“ [1]

Fast zeitgleich mit jenen Völkern Westeuropas, die sich im Ergebnis erfolgreicher bürgerlicher Revolutionen zur „einigen und freien Nation“ (Frankreich 1789 als klassischer Fall) erklärten, zerschnitt die kleine Minderheit der kreolischen Aristokratie 1825 endgültig V die kolonialen Bande zum spanischen Imperium, um eine nueva nación zu proklamieren. Jene, die sich noch auf den Cortes 1810 im spanischen Mutterland als espanoles americanos gleichberechtigt neben den espanoles europeos wähnten, vollzogen nach dem Scheitern dieser Option als americanos die Trennung von den espanoles.[2] Lange vor Afrika oder Asien und immerhin noch einige Jahrzehnte vor Mittel- und Osteuropa begannen sich in Lateinamerika – fern vom „europäischen Mutterboden“ [3] – eigenständige Nationalstaaten herauszubilden. Der spätere Nachzügler Lateinamerika als Vorbild – zumindest für Mittel- und Osteuropa?

Ein zweites Rätsel stellt die erstaunlich geringe Anfälligkeit für ethnische Konflikte dar[4] Damit bildet Lateinamerika- sowohl im Vergleich zu Europa als auch zu den übrigen Teilen der Dritten Welt – eine positive Ausnahme, die sich sogar gegenüber dem sonst so viel erfolgreicheren Nordamerika behaupten kann. Während in den USA das Konzept des melting pot offensichtlich gescheitert ist, hat sich „(n)ach jahrhundertelanger Ethnokratie … in Lateinamerika das Konzept des melting pot (im Gegensatz zur multi-ethnischen Gesellschaft) durchgesetzt“ [5]; und schon gar nicht droht – wie in Kanada – im heutigen Lateinamerika die Gefahr einer Sezession. Auch der Rassismus, der gegenüber den quantitativ starken Afro-Amerikanern in Brasilien und der Karibik oder den indianischen Ureinwohnern durchaus präsent ist, hat sich in keinem Land Lateinamerikas in offenen und gewaltsamen Rassenkonflikten entladen, wie dies in den USA der Fall ist. Woher rührt also die beachtliche Integrationskraft der Nationalstaaten Lateinamerikas, die es trotz ihres Entwicklungsrückstandes und des kolonialen Erbes der Ethnokratie, das bis heute in der Korrelation von sozialem Status und ethnischer Herkunft fortlebt, vermocht haben, dieses Konfliktpotential zu entschärfen? Wieso genießt „Lateinamerika einen Grad an ethnischer Harmonie, der einzigartig in der heutigen Welt“ [6] ist, obwohl ethnische Konflikte ansonsten eine weltweite Erscheinung sind?

Vom Vorreiter zum Nachzügler

Ein vergleichender Blick nach Europa und Nordamerika kann nicht nur helfen, das Rätsel um die Vorreiterrolle Lateinamerikas bei der Nationenbildung zu erhellen, er weist auch die Richtung bei der Beantwortung der mindestens ebenso wichtigen Frage, wieso die Nationen im Süden der „Neuen Welt“ ihren Vorteil nicht genutzt haben.

Das „Nation-Sein ist… der am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit“.[7] Der Staat, der immerhin auf eine Jahrtausende alte Geschichte zurückblickt, ist heute nur noch in Verbindung mit der Nation allgemein vorstellbar und anerkannt. Als klassisches Modell der Verschmelzung von Staat und Nation gelten seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts die Nationalstaaten Westeuropas. Hier sind Territorialstaat und Nation gemeinsam gereift und haben sich wechselseitig gestärkt. Im Feuer der siegreichen Revolution von 1789 wurden Nation und Staat endgültig zu einer neuen Einheit geschmiedet. Einmal entstanden, bekam der Nationalstaat Modellcharakter und expandierte weltweit. Zeitpunkt, Träger und vorgefundene Bedingungen seiner Verbreitung über den gesamten Globus bestimmten die unterschiedlichen Wege und Formen seiner Herausbildung und Existenz. Die entscheidenden Unterschiede ergeben sich aus dem jeweiligen Verhältnis von Staat und Nation.

Im übrigen Europa erfolgt die Bildung des Nationalstaats in zwei aufeinanderfolgenden Wellen mit einer jeweils spezifischen Konstellation zwischen Staat und Nation. Nationale Einheitsbewegungen (Italien, Deutschland) fordern im Namen staatlich getrennter Nationen einen Nationalstaat, der die politische Zerissenheit der bereits als existent begriffenen Nation überwinden und ihr einen existenzsichernden Schutz geben soll. Die Bildung des Nationalstaates vollzieht sich unter der Hegemonie „nationaler“ Monarchien (Sardinien-Piemont, Preußen). Nationale Sezessionsbewegungen (Osteuropa) agieren in den als „Völkergefängnis“ empfundenen Imperien der Romanows, der Habsburger und der Osmanen gegen den bestehenden Staat. Auch sie begreifen sich als Verkörperung bereits bestehender Nationen, für die sie einen eigenen Staat beanspruchen. In beiden Fällen geht der Konstituierung des Nationalstaats eine breite und tiefgehende Woge des „Volksnationalismus“ von unten voraus, der sich vor allem über eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte in Abgrenzung zu anderen Nationen definiert. Während in Westeuropa Nation vor allem als (revolutionärer) Willensakt der Staatsbürger verstanden wird (Staatsnation), begreift man sie in Ost- und Mitteleuropa zuvörderst als eine sprachliche, kulturelle und historische Gemeinschaft (Kulturnation).

Lateinamerika schlägt bei der Bildung des Nationalstaats einen eigenen Weg ein, der zwar an das Nationenverständnis der französischen Revolution anknüpft, dem aber ansonsten sowohl die westeuropäischen als auch die mittel- und osteuropäischen Voraussetzungen und Möglichkeiten fehlen.

Die Unabhängigkeitsbewegung Lateinamerikas formiert sich unter der doppelten Wirkung von französischer (1789) und spanischer Revolution (1808-14, 1820-23), die aus dem Volkswiderstand gegen die napoleonische Okkupation der iberischen Halbinsel erwächst. Der Übergang der Souveränität vom Gottesgnadentum der Könige an das sich zur Nation erklärende Volk in Frankreich, das Machtvakuum im spanischen Mutterland sowie die daraus resultierende Spaltung und Desorientierung der Kolonialbehörden schaffen ein „historisches Fester“, das den amerikanischen Kreolen den Weg zum eigenen Nationalstaat öffnet. Diese sahen darin die einzig(artig)e Möglichkeit, ihr durch den Zufall des Geburtsortes (Amerika) bestimmtes Schicksal, als Kreolen zur Unterordnung unter die spanischen Kolonialbehörden verdammt zu sein, zu ändern. Der soziale Aufstieg in die Spitzen der Kolonialbürokratie war ihnen ebenso verwehrt, wie die „horizontalen“ Bewegungsmöglichkeiten. Sie bestanden bestenfalls darin, in die Hauptstadt der „eigenen“ Verwaltungseinheit versetzt zu werden. Obwohl politisch und ökonomisch diskriminiert, verfügten die Kreolen als Oberschicht zugleich über die notwendigen Mittel, um sich selbst behaupten zu können.[8] Den Ausschlag für die Lostrennung von Spanien gaben schließlich die Weigerung der Cortes von Cádiz (1811/2), Amerika mit eigenen Vertretungskörperschaften auszustatten und im Rahmen der zu bildenden „monarquía plural“ mit Spanien gleichzustellen.“ Nicht zuletzt wirkte die Furcht vor einer Independencia von unten (Mexiko, Peru) als Katalysator der kreolischen Nationenbildung.

Das Rätsel der frühen kreolischen Nationenbildung ist ohne die revolutionären Erschütterungen der „Alten Welt“ und die Folgen der spanischen Kolonialpolitik nicht zu erklären. Eine „doppelte“ Revolution (Kossok), d.h. eine metropolitane in Europa, die Vorbilderschafft und Breschen schlägt, und eine koloniale in Lateinamerika, die die Gunst der Stunde nutzt und unter kreolischer Hegemonie die Unabhängigkeit erkämpft, führten am „Rande der Welt“ zur Bildung eigenständiger Nationalstaaten – zu einem Zeitpunkt, als die meisten europäischen Völker höchstens davon träumen konnten.

Die Emanzipation vom Kolonialstatus und die Errichtung eines eigenen Staates waren die ersten Schritte der Nationenbildung jenseits des Atlantik. Während in Europa der Nationalstaat als Krönung der Nationenbildung empfunden wird, steht er in Lateinamerika an deren Beginn. Die Nation konstituiert sich zunächst nur als Vaterland der kreolischen Elite, als patria del criollo (Martínez Peláez). Die vorgreifende Autoproklamation der Kreolen zur Nation (somos americanos) und die darauf gegründete staatliche Unabhängigkeit erforderten jedoch eine nachholende Integration der nichtkreolischen Bevölkerungsmehrheit in die sich entwickelnde nationale Gemeinschaft. Der Staat muß sich also „seine“ Nation noch schaffen und kann sich erst dann auch als Nationalstaat verwirklichen. In dieser Hinsicht repräsentiert Lateinamerika den Prototyp der nachholenden Nationenbildung der Dritten Welt. Zugleich ist die frühe Konstituierung des Nationalstaates in Lateinamerika ein Vorgriff im doppelten Sinne. Einerseits erfolgt sie weit vor der Errichtung der mittel- und osteuropäischen Nationalstaaten, andererseits fehlen ihr entscheidende Grundlagen und Voraussetzungen, die dort den Erfolg gesichert hatten. Damit greift Lateinamerika sowohl den meisten europäischen „Mitbewerbern“ als auch den dort gültigen Voraussetzungen der Nationenbildung vor. Träger des Nationalstaatsgedankens waren nicht – wie in Europa- Bürgertum und Mittelschichten, sondern die kreolische Großgrundbesitzeraristokratie, ein Volksnationalismus von unten fehlte oder erste Ansätze wurden frühzeitig unter Mithilfe der kreolischen Elite von innen (Mexiko) oder außen (Paraguay) eliminiert, das Primat der „äußeren Front“ (Kossok), das das antikoloniale Bündnis zusammengehalten hatte, verlor seine Bindekraft, so daß soziale und territoriale Fragmentierung um sich griffen. Die administrativen Grenzen innerhalb Spanisch-Amerikas und die fehlende wirtschaftliche Verflechtung untereinander, die durch das spanische Kolonialhandelsmonopol verhindert worden war, wirkten dabei als Zentrifugalkräfte. Hinzu kam, daß jene Elemente, die in Europa als nationaler „Kitt“ wirksam waren (Sprache, Kultur, Religion, gemeinsame Herkunft), als nationale Integrationsfaktoren in Lateinamerikaausfallen mußten, da sie ganz Spanisch-Amerika gemeinsam waren.

Da das Kulturelle nicht als Fundament der Nation genutzt werden konnte, blieb den kreolischen Nation-Gründern nur der Rückgriff auf das Politische. Aber das, was in Frankreich den revolutionären Gründungsakt der Nation ausmachte, der freiwillige Zusammenschluß des souveränen Volkes zur Nation freier Bürger, geriet in Lateinamerika zur Willensgemeinschaft der pueblos. Die territorialen Grenzen der neuen Nationalstaaten entsprachen dabei oft den adminstrativen Grenzen innerhalb der Vizekönigreiche und Generalkapitanate bzw. zwischen diesen.

Die grundlegende Paradoxie der Nationenbildung in Lateinamerika besteht darin, daß der politische Vorgriff noch sozio-ökonomisch untersetzt werden mußte, um als tatsächlicher Entwicklungsvorsprung wirksam werden zu können. Scheiterte dies, so schlug der Vorteil des Vorgriffs in den Nachteil der Voreiligkeit um. Bei dieser Gratwanderung zwischen Chance und Scheitern mußte Lateinamerika auf Substitute zurückgreifen: kreolische Großgrundbesitzer statt Bourgeoisie als nationale Klasse, Armee statt Volksbewegung als Protagonist der Independencia, allein das Politische statt in Verbindung mit dem Kulturellen, Staat als Wegbereiter statt als Krönung der Nationenbildung. Das Ergebnis ist bekannt: der Vorgriff geriet zum Rückschlag. Anarchie, Caudillismo, Rekolonialisierung, Bürgerkriege und Staatsstreiche, repressiver und zugleich schwacher Staat, Autoritarismus, konservatives Verharren, weder Citoyen noch Bourgeois, sondern Patron, erfolglose Entwicklungsstrategien, äußere Einmischung und fortdauernde Abhängigkeit – das sind die Meilensteine und Markenzeichen des Nationalstaats in Lateinamerika.

Anders hingegen die Entwicklung Nordamerikas. Wenn dort die Nation die entgegengesetzte Richtung einschlug und die USA schließlich zur führenden Weltmacht aufsteigen konnten, dann liegt dies nicht zuletzt an zwei gravierenden Unterschieden, die die Nationen Nord- und Südamerikas bereits in ihrer Geburtsstunde voneinander trennte. Zum einen genossen die Siedler Neu-Englands bereits während der Kolonialzeit eine weitgehende politisch-institutionelle Autonomie, so daß sich dort die Nation tatsächlich als freier und souveräner Willensakt ihrer Bürger konstituieren konnte. Demokratie und Nation gingen so eine feste Beziehung ein. Zum anderen wurde dies sozio-ökonomisch durch die offene Siedlungsgrenze und die Herausbildung freier Farmer untermauert. Im Gegensatz zu den USA drückten in Lateinamerika weder Citoyen noch Farmer oder Bourgeois der entstehnden Nation ihren Stempel auf. Dies ist einer der entscheidenden Gründe, weshalb die politische und ökonomische Entwicklung der Nationen südlich des Rio Grande einen anderen, weit weniger erfolgreichen Weg nahm.

Nachzügler als Vorbild?

Wie ist vor diesem Hintergrund nun das zweite Rätsel, die selbst im Vergleich mit Europa erfolgreiche Entschärfung ethnischer Konflikte, zu bewerten und zu erklären? Welche Faktoren setzen die lateinamerikanischen Nationen trotz ihrer Defizite instand, Probleme erfolgreich zu bewältigen, an denen sich selbst solche westeuropäischen Vorzeigenationen wie Großbritannien (Nordirland-Konflikt), Spanien (Baskenfrage) und Frankreich (Integration „nordafrikanischer“ Franzosen) die Zähne ausbeißen? Oder ist vielleicht das lateinamerikanische Bild der Nation als melting pot schöngefärbt und entspricht – siehe indígena-Frage – nicht der Realität?

Um eine Antwort darauf zu finden, sollten zunächst die grundlegenden Unterschiede der ethnisch-nationalen Integration zwischen Lateinamerika einerseits sowie Europa und Nordamerika andererseits deutlich gemacht werden, um dann innerhalb Lateinamerikas zwischen verschiedenen Pfaden der Nationenbildung zu differenzieren. Die nationalstaatlichen Integrationsprozesse Lateinamerikas unterscheiden sich hinsichtlich ihres Verlaufs, ihrer Voraussetzungen, Möglichkeiten, Erfordernisse und Ergebnisse deutlich von denen Nordamerikas und Europas. Da es sich um eine komplexe Frage handelt, die hier aber nur kursorisch gestreift werden kann, seien im weiteren lediglich jene Aspekte genannt, die für die Lösung des zweiten Rätsels Fingerzeige liefern. Im traditionellen Verständnis des Nation-building (siehe Lexikon) bildet die ethnische Homogenisierung der Bevölkerung einen zentralen Aspekt der nationalstaatlichen Integration. Lateinamerika und Europa sehen sich in dieser Frage mit gänzlich unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, die sich vor allem an der unterschiedlichen Konfiguration des Ethnischen festmachen lassen, das sich in Lateinamerika als „Rassen-“ und in Europa als „Sprachenproblem“ äußerte.

In der „Alten Welt“ stand bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Überwindung der oft vielfältigen ethnisch-kulturellen und sprachlichen Unterschiede innerhalb des Nationalstaats im Vordergrund. Besonders Osteuropa, aber auch Spanien, sahen sich dabei mit einem bunten Gemisch von Nationalitäten konfrontiert, von denen viele im Namen des Rechts auf nationale Selbstbestimmung einen eigenen Nationalstaat beanspruchten oder zumindest beanspruchen konnten. Ethnische Konflikte und ethnisch begründete Sezessionen bestimmen nach der Friedhofsruhe des „Kalten Krieges“ die politische Landkarte vor allem der östlichen Hälfte Europas.

In Lateinamerika hingegen hatte die nationalstaatliche Integration die Herausforderungen der ethnisch-kulturellen Vermischung (mestizaje), der Kolonisierung des Hinterlandes und der Überwindung der territorialen Fragmentierung zu bewältigen. Von zentraler Bedeutung war die Regelung der Beziehungen zwischen den Nachkommen der indianischen Urbevölkerung, der europäischen Eroberer und der afrikanischen Sklaven sowie den während der Kolonialzeit rechtlosen Mestizen, die aus der (illegitimen) Vermischung der drei erstgenannten Gruppen untereinander hervorgegangen waren. Bei der Bewältigung dieses „Rassenproblems“ setzte die kreolische Elite primär auf das Konzept des mestizischen Nation-building, ohne allerdings ihren Status als „weiße Kreolen“ infrage stellen zu lassen.

Die mestizaje, in der Kolonialzeit eher ein naturwüchsiger Prozeß biologischer Vermischung, wurde nach Erlangung der Unabhängigkeit zu einer Angelegenheit des Staates. Um das Fehlen einer „natürlichen“ Basis (gemeinsame Abstammung, Territorium als gemeinsamer Lebensraum) zur Schaffung einer „nationalen“ Kultur zu kompensieren, funktionierte der Staat die mestizaje in ein „nationales Projekt“ um. Als ein von oben geschaffener „nation-building myth“ (Klor de Alva) wurde das Projekt der mestizaje in zwei sich ergänzenden Richtungen vorangetrieben. Während der Staat die Entrechtung und rassistische Diskriminierung der indianischen Ureinwohner bis hin zum Genozid intensivierte, offerierte er zugleich die mestizaje als vermeintlichen Ausweg. Viele indígenas gaben dem Assimilierungsdruck nach und versuchten dem Rassismus dadurch zu entfliehen, daß sie ihre indianische Identität ablegten oder verleugneten. Mit dieser Kombination von politischer (nationales Projekt) und kultureller mestizaje (Identitätswechsel) wurde versucht, das „Indianerproblem aufzulösen“ und eine homogene Nation zu schaffen. Die mestizaje wurde jedoch nicht nur als Instrument gegen die indianische Bevölkerung und als Mythos der Nationenbildung eingesetzt, sondern – wie besonders das Beispiel Sandinos in Nikaragua zeigt- in gegenhegemonialer Absicht von den Subalternen aufgegriffen und als Ausdruck der Opposition gegen die imperialistischen Bestrebungen der USA verwandt.

Verständnis, Mittel und Ergebnisse der mestizaje variieren von Land zu Land und in Abhängigkeit von Etappe und Dynamik der Nationenbildung. Das Ausmaß ihres Erfolges wird sowohl von den Integrationserfordernissen als auch von den Mitteln und der Intensität der Integrationsanstrengungen bestimmt. Dort, wo sich die Ausrottung und Verdrängung der indianischen Urbevölkerung mit zeitweiligen ökonomischen Erfolgen und hoher europäischer Einwanderung verbunden hat, dominiert sogar der Mythos der „weißen Nation“ die nationale Identität und überdeckt die noch vorhandenen ethnisch-kulturellen Unterschiede (Cono Sur). Im übrigen Lateinamerika vermittelte die Kombination von offiziellem Diskurs und realisiertem Assimilierungsgrad lange Zeit den Eindruck, daß die mestizische Nationenbildung erfolgreich voranschreite und die „Mestizisierung“ der Reste der indianischen Bevölkerung nur noch eine Frage der Zeit sei. Dies wird nun neuerdings durch das Wirken indianischer Bewegungen in Frage gestellt. Die indigenen Völker der Region sind am Ausgang des 20. Jahrhunderts auf dem besten Weg, sich zu sozialen Akteuren und politischen Subjekten zu konstituieren. „Die Präsenz dieses neuen Akteurs schafft ein grundsätzliches Problem für das Schicksal der Nation, ein Problem, das vorher nicht anerkannt wurde und mit der Politik der Integration nicht gelöst worden ist, nämlich die Konstituierung einer Nation als Einheit, die imstande ist, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu umfassen, ihre Beziehungen zu regeln, sie zu repräsentieren und ein dauerhaftes Wachstums- und Zukunftsprojekt in Gang zu setzen. Negativ ausgedrückt bedeutet dies, daß die lateinamerikanische Nation, so wie sie sich bis heute entwickelt hat, keine politische und rechtliche Einrichtung ist, die in der Lage wäre, die Einheit der Gesamtgesellschaft zu schaffen, sondern daß ein Staat entstanden ist, der auf der Verleugnung eines großen Teils dieser Gesellschaft beruht.“ [10]

Die Forderung der indianischen Bewegungen nach Anerkennung des multi-ethnischen und pluri-kulturellen Charakters der Nation, die sich teilweise schon verfassungsrechtlich niedergeschlagen hat (Bolivien, Paraguay, Kolumbien, Mexiko), zeitigt für den Bestand und das Selbstverständnis der „mestizischen Nation“ unterschiedliche Konsequenzen. Am gravierendsten sind sie in jenen Ländern, wo es große indianische Bevölkerungsteile gibt (Andenraum, Guatemala) und/ oder die Forderung nach Autonomie eine territoriale Dimension einschließt (Guatemala, Mexiko, Nikaragua). In Korrelation zur geographisch-ethnischen Gliederung des Subkontinents lassen sich also folgende Pfade der lateinamerikanischen Nationenbildung unterscheiden: In den Ländern des Südkonus hat sich das mestizische Nationenbildung als Europäisierung auf der Grundlage „weißer“ Masseneinwanderung und Ausrottung bzw. Abdrängung indianischer Stammesgesellschaften vollzogen und durchgesetzt. Auf dem Gegenpol befinden sich die andinen und mittelamerikanischen Länder mit hohem indianischen Bevölkerungsanteil (Bolivien, Peru, Ecuador, Guatemala), wo die Assimilierungsziele des mestizische Nationenbildung mehr oder weniger gescheitert sind und eine Neukonstituierung der Nation auf multi-ethnischer und pluri-kultureller Grundlage unter aktiver Teilnahme und Einbeziehung der indígenas ansteht. Im restlichen Lateinamerika hatte die mestizische Nationenbildung insofern Erfolg, als daß die Assimilierungspolitik zu einem deutlichen Übergewicht der mestizischen Bevölkerung geführt hat, neben der zwar relevante Reste der indianischen Urbevölkerung mit eigener Identität überlebt haben, was aber selbst bei weitergehenden Autonomiezugeständnissen wie in Nikaragua oder Kolumbien keine Neugründung der Nation erforderlich macht.

Wie in einem Mikrokosmos finden sich in Zentralamerika alle drei Typen der mestizischen Nationenbildung vereint: die „weiße“ (europäisierte) Nationenbildung in Costa Rica, die erfolgreiche mestizische Nationenbildung in El Salvador, Honduras und Nikaragua und die gescheiterte mestizische Nationenbildung in Guatemala. Das nördlich gelegene Mexiko repräsentiert insofern einen Sonderfall, als daß trotz erfolgreicher „Mexikanisierung“, die übrigens durch eine starken Betonung des indianischen Erbes und eine umfassenden Agrarreform befördert worden war, die indianische Aufstandsbewegung in Chiapas die Frage der Neukonstituierung der Nation aufgeworfen hat. Hier war (wie auch in Bolivien) mit einer „aktiven Integration“ [11] der indianischen Bevölkerung versucht worden, die ethnische Fragmentierung zu überwinden und die mestizische Nationenbildung trotz des mehr (Bolivien) oder weniger großen Gewichts der indígenas (Mexiko) durchzusetzen.

Beide Länder zeigen auf unterschiedliche Weise, daß auch mit dieser Variante der mestizischen Nationenbildung die „Indianerfrage“ nicht gelöst werden kann. Dennoch ist nirgendwo in Lateinamerika – nicht einmal in jenen Ländern, die mit einer starken und militanten indianischen Bewegung konfrontiert sind (Ecuador, Mexiko, Guatemala) – der Bestand des Nationalstaates durch ethnische Konflikte gefährdet. In dieser Hinsicht bildet Lateinamerika tatsächlich eine positive Ausnahme gegenüber weiten Teilen Asiens, Afrikas und Europas. Ungeachtet aller Defizite und Widersprüche der Nationenbildung blieb in Lateinamerika der Weg zu einer democracia racial (G. Freyre) offen. In Abhängigkeit von der ethnischen Zusammensetzung konnte das Konfliktpotential, das im „Rassenproblem“ angelegt war, entweder durch mestizaje entschärft werden oder/ und durch Schritte zu einer Neukonstituierung der Nation auf multi-eth-nischer und pluri-kultureller Grundlage in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Um die Lösung der nicht geringen nationalen und sozialen Probleme wird innerhalb der bestehenden Nationalstaaten – oft heftig und kontrovers, manchmal sogar mit militärischen Mitteln – gerungen, ohne daß jedoch die Kontrahenten deren Existenz in Frage stellen.

Unvollendete Nationenbildung

Die Nationenbildung beschränkt sich nicht allein auf die ethnisch-kulturelle Dimension. Gerade die lange und in dieser einen Hinsicht auch erfolgreiche Geschichte der lateinamerikanischen Nationen zeigt die Schattenseiten der nachholenden Entwicklung der Länder der Dritten Welt. In dem aus der europäischen Welteroberung hervorgegangenen Weltsystem befinden sie sich wie schon zu Kolonialzeiten an der Peripherie. Die Bifurkation des Entwicklungspfades in der westlichen Hemisphäre, die Nordamerika an die Spitze der westlichen Industrienationen und Lateinamerika in die Unterentwicklung geführt hat, verweist sowohl auf die Chancen, mehr noch aber auf die Hindernisse, die der Süden Amerikas für eine nachholende Entwicklung hatte. Bereits das Scheitern des Patria Grande, das nach dem Vorbild der USA alle Länder Spanisch-Amerikas umfassen sollte, hatte den Befreier Simón Bolivar zu der bitteren Einsicht geführt, daß es leichter sei, das Meer zu pflügen, als das spanische Amerika in Freiheit zu vereinen. Das Schicksal zweier lateinamerikanischer Länder macht jedoch deutlich, daß weder territoriale Größe und Beständigkeit (wie in Brasilien) noch europäische Siedlungskolonisation und auf boomender Exportwirtschaft beruhender Wohlstand (wie in Argentinien) eine erfolgreiche Entwicklung garantieren.

Obwohl die Nationenbildung in Brasilien nicht von territorialer Fragmentierung und politischer Anarchie wie in Spanisch-Amerika begleitet war und damit die Chance bot, wie in den USA einen expandierenden Binnenmarkt von kontinentaler Dimension zu schaffen, konnte es seinem lateinamerikanischen Schicksal nicht entfliehen. Auch Argentinien, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ähnlich erfolgreichen Entwicklungsweg wie die europäischen Siedlungskolonien in Australien oder Kanada zu gehen schien, blieb der Aufstieg in die Erste Welt verwehrt. In beiden Fällen zeigt sich, daß selbst positive Ausnahmen von der lateinamerikanischen Regel der Nationenbildung zusätzlicher Voraussetzungen und Bedingungen bedurften, um die Chance der frühen Independencia für eine erfolgreiche Entwicklung ä la USA zu nutzen. Woran auch immer eine erfolgreich nachholende Entwicklung Lateinamerikas in concreto gescheitert sein mag, Ausgang und Perspektiven der Nationenbildung sind davon unweigerlich betroffen. Die in der Unterentwicklung wurzelnden gesellschaftlichen Probleme bilden heute die größte Gefahr für den Bestand der lateinamerikanischen Nationen. Die wachsende soziale Polarisierung mit ihren immer weiter auseinanderdriftenden Polen Armut und Reichtum, Marginalisierung und Oligarchisierung führt in einen Teufelskreis von Desintegration und Gewalt, dem sich immer weniger entziehen können. Hinzu kommt, daß im Zeitalter der Globalisierung die historisch gewachsene Abhängigkeit durch die Vorherrschaft des Neoliberalismus potenziert wird.

Nachdem alle bisherigen Versuche einer eigenständigen Entwicklung gescheitert sind und die Abschottung vom Weltmarkt der Vergangenheit angehört, sind neue Mittel und Wege der nationalen Entwicklung erforderlich. Die Defizite der Vergangenheit und die Herausforderungen der Zukunft haben gleichermaßen zur Folge, daß die Nationenbildung in Lateinamerika – wie anderswo auch – eine unvollendete Geschichte bleibt.

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[1] Anderson, B.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a. M. 1993. S. 57/8.

[2] Guerra, F.-X.: Identidades e independencia: La excepción americana. in: Imaginar la Nación. Münster/Hamburg 1994. S. 121.

[3] Schieder, Th.: Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Göttingen 1991. S. 65.

[4] Vgl. Wöhlcke, M.: War Chiapas nur ein Vorspiel? Ethnische Konflikte in Lateinamerika als Gefährdung der regionalen Stabilität. Ebenhausen 1995. S. 7/8.

[5] Ebenda. S. 7.

[6] Williamson, R.C.: Latin American Societies in Transition. Westport (Conn.)/London 1997. S. 123.

[7] Anderson, a.a.O., S. 12/3.

[8] Vgl. ebenda. S. 63-65.

[9] Vgl.Guerra, a.a.O., S. 1271ff.

[10] Iturralde Guerrero, D.: Indigene Forderungen und gesetzliche Rahmenbedingungen: Herausforderungen und Widersprüche, in: Gleich, U.v. (Hrsg.): Indigene Völker in Lateinamerika. Konfliktfaktor oder Entwicklungspotential. Frankfurt a. M. 1995. S. 77.

[11] Williamson. a.a.O., S. 137.

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