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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Jüdische Einwanderung nach Lateinamerika

Daniela Vogl | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Nie wieder

Es ist Nacht im Sepharad, der Henker sucht die Menorah.
Schlaf, mein Kindlein, schlaf, Mutter wird dich verstecken.

Es ist Nacht in Minas Gerais, der Henker sucht die Thora.
Schlaf, mein Kindlein, schlaf, Mutter wird dich verstecken.

Es ist Nacht in Krakau, sie suchen die Mesusa.
Schlaf, mein Kindlein, schlaf, Mutter wird dich verstecken.

Es ist Kristallnacht, wer feiert Rosch Haschanah?
Schlaf, mein Kindlein, schlaf, Mutter wird dich verstecken.
Leonor Scliar-Cabral

A m 18. Juli 1994 explodierte vor dem jüdisehen Gemeindezentrum AMIA, direkt im Stadtkern von Buenos Aires, eine 30kg schwere Autobombe. Der Anschlag, dessen Urheber wahrscheinlich pro-iranische Terroristen der hizbollah und Rechtsextremisten aus dem paramilitärischen Milieu Argentiniens waren, forderte 85 Menschenleben und zerstörte eine der wichtigsten jüdischen Bibliotheken der Diaspora. Diese Bibliothek beherbergte äußerst wertvolle jiddische und hebräische Handschriften und Bücher, von denen einige, 50 Jahre vorher, vor der Zerstörung in der shoa gerettet worden waren, und so als letzte Zeugnisse der vernichteten jüdischen Kultur Osteuropas angesehen werden können. Der Terroranschlag vernichtete außerdem das Zentralarchiv der jüdischen Immigration nach Argentinien und Lateinamerika und somit eine der wichtigsten Grundlage der jüdisch-lateinamerikanischen Geschichtsschreibung.

Dieses Terror-Attentat war eines der tragischsten Kapitel der jüdischen Geschichte Lateinamerikas und doch verdeutlichte es auch, daß jüdisches Leben auf diesem Kontinent immer im Spannungsverhältnis zwischen Zuflucht und Existenzangst, Heimischwerdung und Ausgeschlossensein, kulturellem Selbstbewußtsein und antisemitischer Hetze stand.

Von Sefarad in die neue Welt

Die jüdische Geschichte in Lateinamerika begann mit dem europäischsten Datum der lateinamerikanischen Geschichte – dem Jahre 1492. In jenem Jahr fand nicht nur die Entdeckung der „Neuen Welt“ für die spanische Krone statt, die die Unterdrückung und Vernichtung alter Kulturen jenes Kontinents, der nach seinen Entdeckern Lateinamerika benannt wurde, bedeuten sollte, auch in Spanien selbst drückte sich das neue Selbstbewußtsein der katholischen Könige im Haß gegenüber anderen Kulturen aus. Zeitgleich mit der conquista Lateinamerikas wurde die reconquista Spaniens abgeschlossen, die den Jahrhunderte dauernden Versuch des Zusammen- oder wenigsten friedlichen Nebeneinanderlebens der drei monotheistischen Weltreligionen mit blindem religiösen Eifer und Fanatismus zerstörte. Die spanischen Juden, die sich selbst stolz Sepharadim nannten (was auf Hebräisch nichts anderes bedeutet als Spanier und als Eigen- und Fremdbezeichnung noch heute Verwendung findet), und die in Spanien einen ausgesprochen bedeutenden Abschnitt ihrer Geschichte gelebt hatten, wurden vor die „Wahl“ zwischen Zwangstaufe und Ausweisung gestellt. Ein bedeutender Teil der jüdischen Gemeinde Spaniens floh ins Nachbarland Portugal, doch auch dort währte die weitgehende Toleranz nur noch vier Jahre. 1496 heiratete König Manuel I. von Portugal eine Tochter der Katholischen Könige Spaniens, auf deren Wunsch hin er die Ausweisung aller Juden aus Portugal dekretierte, später revidierte er diesen Befehl und ordnete statt dessen die Zwangstaufe bei gleichzeitigem Ausreiseverbot an. Da für die in Portugal lebenden Juden also, anders als 1492 in Spanien, keine Möglichkeit zur Flucht bestand, sahen einige Gemeindemitglieder ihren letzten Ausweg im Märtyrertod. Von denen, die sich taufen ließen, praktizierte ein Großteil den Katholizismus nur nach außen und hielt innerhalb der Familie an der jüdischen Religion und ihren Traditionen fest. Diese sogenannten Krypto-Juden waren somit einer ständigen Verfolgung durch die Inquisition der katholischen Kirche ausgesetzt, die Abweichungen von der, nach ihrer Ansicht, einzig wahren Religion in vielen Fällen mit Tod auf dem Scheiterhaufen bestrafte. Als andere Strafform war Zwangsarbeit auf einem der Segelschiffe der Eroberer vorgesehen, die unter unmenschlichen Bedingungen stattfand. So wird berichtete, daß der conquistador Pedro Alvares Cabral, als er 1500 die Küste Brasiliens erreichte, jüdische Zwangsarbeiter und afrikanische Sklaven über Bord werfen ließ, um zu testen, wie die Ureinwohner auf die Neuankömmlinge reagieren würden. Im Gegensatz zu dieser willkürlichen Brutalität der conquistadores erwartete die Krypto-Juden auf dem lateinamerikanischen Kontinent ein, mit der Verfolgung durch die Inquisition in Portugal verglichen, relativ freies Leben. Die portugiesische Besiedlung Brasiliens war noch kaum vorangeschritten, und so hatten sich auch jene religiösen und administrativen Strukturen, unter denen die Krypto-Juden in Portugal zu leiden hatten, noch nicht herausgebildet. Während sie in Portugal aufgrund der Bedrohung durch die Inquisition kaum wagen konnten, ihr Judentum auch nur heimlich zu praktizieren, war ihnen in Brasilien eine relativ offene Religionsausübung möglich. Die Krypto-Juden Portugals konnten so in Brasilien wieder zu portugiesischen Juden werden. Deshalb entwickelte sich die Deportation in die neue Welt, die von der Inquisition als Strafe für die „Ungläubigen““ konzipiert worden war, zum erklärten Ziel vieler Krypto-Juden, während andere versuchten, als neu getaufte Christen einen Platz auf den Schiffen nach Amerika zu erhalten, was dadurch erleichtert wurde, daß die „alten“ Christen Portugals an einer Mitwirkung bei der Besiedlung des amerikanischen Kontinents kaum Interesse zeigten.

Nach etwa dreißig Jahren erkannten allerdings auch die portugiesische Regierung und vor allem die Vertreter der Inquisition, daß die Besiedlung Brasiliens keineswegs nach ihren Wünschen verlief. Der König erließ ein Dekret, das nur noch „alten“ Christen die Ausreise in die Kolonie ermöglichte und die Religionsfreiheit der dort lebenden Juden beenden sollte. Allerdings waren die neu ankommenden Siedler, um ihr eigenes Überleben zu sichern, auf die Erfahrung der schon länger in Brasilien lebenden Juden angewiesen und an einer Durchsetzung der Vorherrschaft des Christentums somit kaum interessiert. Zudem hatte der König den Auftrag zur Inquisition den Jesuiten erteilt, die sich im Gegensatz zum Dominikaner-Orden, der die Inquisition auf der iberischen Halbinsel durchführte, durch einen relativ geringen Fanatismus auszeichneten. Auch sie standen einem relativ friedlichen Zusammenleben von Christen und Juden in Brasilien nur selten im Wege.

Zu einer radikalen Verschlechterung der Situation der in Brasilien lebenden Juden sollte es allerdings 1580 kommen. Mit dem Mutterland Portugal war auch Brasilien an die spanische Krone gefallen, die sofort Dekrete erließ, um ihre Vorstellungen von Katholizismus und limpieza de sangre auch in Brasilien durchzusetzen. Die brasilianischen Juden wandten sich hilfesuchend an die Niederlande, Spaniens Rivalen auf dem amerikanischen Kontinent, ein Land, das vielen ihrer Glaubensbrüder nach der Ausweisung aus Spanien zur Zuflucht geworden war und ihnen mit großer religiöser Toleranz entgegenkam. Die Glaubensfreiheit, die die brasilianischen Juden unter niederländischem Schutz erlebten, sollte allerdings nur von 1618 bis 1654, dem Datum des Sieges Spaniens über die Niederlande dauern.

Nach dem Sieg Spaniens konnte diese Gemeinde allerdings nicht mehr weiterbestehen. Den Juden Brasiliens blieben nur zwei Auswege. Sie mußten entweder wieder ein Leben als Krypto-Juden mit äußerlicher christlicher Identität führen oder aus dem spanischen Machtgebiet fliehen.

Somit hatte die erste jüdische Gemeinde auf dem amerikanischen Kontinent durch die spanische Inquisition ein gewaltsames Ende gefunden. Jüdische Traditionen lebten höchstens im Verborgenen durch die Krypto-Juden fort. Es sollte bis zur Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Republiken dauern, bis die Religion auch wieder offen praktiziert werden konnte. Bis dahin hatten die meisten Nachfahren der aus Portugal nach Lateinamerika gekommenen Juden allerdings nicht nur äußerlich das dominante Christentum angenommen.

Die neue jüdische Gemeinde mußte deshalb erst von den Immigranten aufgebaut werden, die diesmal nicht von der iberischen Halbinsel sondern aus Osteuropa kamen, also dem ashkenasischen und nicht dem sephardischen Zweig des Judentums angehörten. Das Zentrum des lateinamerikanischen Judentums sollte nicht mehr in Brasilien, sondern im Süden des Kontinents, in Argentinien, liegen.

Vom osteuropäischen Shtetl in die Pampa Argentiniens

Die rechtlichen Voraussetzungen für eine jüdische Einwanderung nach Argentinien wurden, oft unintendiert, mit der Unabhängigkeit geschaffen. Die Verfassunggebende Versammlung vom 24. März 1813, die den endgültigen Bruch mit dem spanischen Mutterland herbeiführen sollte, schaffte unter anderem auch die Inquisition ab. Dies ist allerdings weniger als ein Schritt in Richtung Religionsfreiheit als vielmehr als Abgrenzung von Spanien zu sehen. Die religiöse Intoleranz, die von den katholischen Königen nach Lateinamerika gebracht worden war, wurde von der damaligen argentinischen Bevölkerung in weiten Teilen fortgeführt. So legte ein Artikel der neuen Verfassung fest, daß die Regierung Argentiniens die katholische Kirche erhalte.

Allerdings wurden in den Rechtskanon der jungen Republik auch Rechte für religiöse Minderheiten, und das waren immerhin alle nicht-katholischen Religionen, aufgenommen. Dies geschah vor allem unter wirtschaftlichen Aspekten, da man eine Einwanderung aus den protestantischen Ländern Nordeuropas fördern wollte, um so deren technischen Fortschritt zu „importieren“.

So besagte ein neues Gesetz, daß Bergbaukonzessionen auch an Nicht-Katholiken erteilt werden konnten. Später weitete sich diese beginnende Liberalisierung auch auf den politischen und administrativen Bereich aus. Nicht-Katholiken wurde die Möglichkeit gegeben, in ein Beamtenverhältnis einzutreten und für politische Ämter zu kandidieren. Das Präsidenten- und Vizepräsidentenamt blieb allerdings Katholiken vorbehalten, und ist es bis heute.

So entwickelte sich in der jungen Republik Argentinien nicht etwa Religionsfreiheit, sondern nur religiöse Toleranz, und auch diese wurde nur den Menschen zu Teil, die als wünschenswerte Immigranten angesehen wurden.

Die Einwanderungsgesetze gingen davon aus, daß die Menschen eben nicht gleich waren und definierten die erwünschten Immigranten als von Natur aus ehrlich und hart arbeitend. Hier war sehr viel Interpretationsspielraum gegeben, der im Laufe der Zeit antisemitischen Einwanderungsbeamten den Mißbrauch dieses ohnehin schon restriktiven und diskriminierenden Gesetzes erleichtern sollte.

Es gab sogar schon in der Anfangsphase der argentinischen Republik auch Gegenbeispiele. So hatte Carlos Calvo, der das argentinische Immigrationsbüro in Paris leitete, in den 1860er Jahren von den Pogromen gegen die Juden Rußlands gehört. Daraufhin startete er eine Initiative zur jüdischen Einwanderung nach Argentinien, die von der Regierung unterstützt, von der Bevölkerungsmeinung aber mehrheitlich abgelehnt wurden. Auch auf jüdischer Seite hatte seine Initiative keinen Erfolg, erstens weil er die praktischen Aspekte einer solchen Immigration kaum durchdacht hatte, zweitens galt Argentinien als Vertreter der spanischen Kultur, die für die meisten Juden für Inquisition und Vertreibung stand. Für eine Wiederannäherung war es den meisten noch zu früh. So lebten 1862 gerade mal die zehn Juden, die für einen minyan, die im Talmud festgelegte Gruppe zum Gebet in der Synagoge, benötigt werden, in Buenos Aires. 1872 dreißig und 1882 55. Erst 1889 sollte die erste größere Gruppe jüdischer Einwanderer nach Argentinien kommen, auch als Reaktion auf eine neue Einwanderungskampagne der argentinischen Regierung, die die Kosten der Überfahrt nach Argentinien subventionierte und dadurch immerhin die praktischen Probleme der Einwanderer milderte. Am 14. August 1889 kamen 800 russische Juden auf dem Schiff Weser im Hafen von Buenos Aires an. Sie waren äußerst fromme orthodoxe Juden, die als Gemeinde mit ihren Rabbinern gekommen waren und während der gesamten Reise unter großen Schwierigkeiten die religiösen Gebote eingehalten hatten.

Im Hafen von Buenos Aires wurden sie äußerst feindselig empfangen. Der Einwanderungskommissar sah allein in ihrer orthodoxen Art sich zu kleiden einen Grund sie sofort nach Rußland zurückzuschicken. Eine Entscheidung, die von höheren Instanzen ausgesetzt wurde, da das Land, das diese Gruppe besiedeln sollte, schon im Voraus von jüdischen Wohlfahrtsorganisationen aus Frankreich bezahlt worden war. Die Neueinwanderer wurden in das zentrale Immigrantenheim in Buenos Aires gebracht, wo man ihnen Essen vorsetzte, daß dem kashrut, den jüdischen Speisegeboten, widersprach. Außerdem erfuhren sie, daß der Besitzer des für sie gekauften Landes nicht mehr bereit war, den Vertrag einzuhalten und sich weigerte, ihnen das Land zu übergeben. Nach Intervention der kleinen jüdischen Gemeinde Argentiniens und der französischen Wohlfahrtsverbände erhielten sie schließlich kleinere Parzellen in Santa Fe. Dort wurden sie mit dem Antisemitismus der Bevölkerung konfrontiert, der sicher zum großen Teil aus Unwissenheit entstand. So wurde die Einhaltung des Shabbats und der jüdischen Feiertage als Faulheit abgetan, während die Befolgung des kashrut abfällig als Fleischverschwendung bezeichnet wurde.

Im Frühling 1890 gaben schließlich die ersten Einwanderer auf, drei Großfamilien kehrten nach Rußland zurück. Den Zeitungen von Buenos Aires gab dies Anlaß, gegen jüdische Einwanderung zu polemisieren. Gleichzeitig entschieden sich auch die großen jüdischen Wohlfahrtsverbände Europas, ihren Mitgliedern von der Besiedelung Argentiniens entschieden abzuraten, da diese zum Scheitern verdammt sei. Allerdings führten die Ereignisse in Rußland, wo zu Pessah 1891 Tausende von Juden brutal aus Moskau vertrieben wurden, schnell zu einer Revidierung dieser Haltung. Baron Maurice Hirsch, ein bedeutender jüdischer Philanthrop, hatte aufgrund dieser Pogrome alle Hoffnung auf eine Integration der Juden in die Gesellschaften Osteuropas verloren. Deshalb entschloß er sich, die Auswanderung der osteuropäischen Juden zu fördern. Er war allerdings kein Zionist, so bezogen sich seine ersten Pläne auf Westeuropa und die USA, wo sie allerdings nicht nur von offizieller Stelle, sondern auch von den dortigen jüdischen Gemeinden abgelehnt wurden, die verstärkten Antisemitismus als Resultat einer Masseneinwanderung fürchteten. Hingegen fand Hirsch bei der früh-zionistischen Bewegung, Hibbat Zion, große Unterstützung, die auch nicht daran scheiterte, daß als neues Einwanderungsziel Argentinien geplant war. Das geistliche Oberhaupt der Hibbat Zion, Rabbi Shmuel Mohilewer, war der Meinung, daß so wie der Buchstabe A zum Z führt, Argentinien nach Zion führen würde.

Die Anstrengungen Hirschs brachten 10000 Juden nach Argentinien, allerdings entschlossen sich viele von ihnen, wie schon die Einwanderer der Weser-Gruppe, bald zur Rückkehr nach Europa. Dies lag wiederum in der Ablehnung durch die Bevölkerung begründet, außerdem waren Hirschs Pläne organisatorisch sehr unausgegoren und stellten die Einwanderer so vor eine Reihe von praktischen Problemen. Die meisten von ihnen fanden bei ihrer Ankunft, entgegen den eigentlichen Plänen Hirschs, noch kein bebaubares Land vor und waren gezwungen, monatelang von Almosen zu leben.

Zudem kamen die Einwanderer in einem Argentinien an, das sich in einer Phase des wirtschaftlichen Abschwungs befand, also keine Möglichkeit hatte, größere Immigrantengruppen zu absorbieren und in der Landwirtschaft zu beschäftigen.

Mehr Erfolg hatten marokkanische Juden, die auf Eigeninitiative und in kleinen Gruppen nach Argentinien kamen, um sich in den Städten niederzulassen. Als Sepharadim beherrschten die meisten von ihnen Spanisch, was die Integration in die argentinische Gesellschaft erleichterte. Allerdings stieß ihr kulturelles und religiöses Selbstbewußtsein, das sich vor allem in der Organisation einer sephardischen Gemeinde und der Gründung von Schulen ausdrückte, auf den Widerstand der argentinischen Behörden. Diese strebten eine Unterordnung der kulturellen Identität der Einwanderer unter die argentinidad an und versuchten, den lateinischen Charakter der argentinischen Kultur verstärkt hervorzuheben.

Die osteuropäisch-jüdische Immigration nach Argentinien setzte mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes nach der Jahrhundertwende wieder verstärkt ein. Argentinien hatte plötzlich großen Bedarf an städtischen Arbeitern, während die Juden Osteuropas Zuflucht vor neuer Vertreibung und Pogromen suchten. Die neuen Immigranten waren nicht mehr Orthodoxe wie die Weser-Gruppen, sondern weltliche Juden, sie organisierten sich folglich nicht mehr in religiösen Gemeinden, sondern in politischen, kulturellen und sozialen Zusammenschlüssen. So wurde neben mehreren Tageszeitungen und Theatergruppen 1900 in Buenos Aires die Organisation Ezrah zur gegenseitigen Hilfe gegründet, fünf Jahre später die Shomer Israel (Wächter Israels), die Suppenküchen und ein Arbeitsvermittlungsbüro betrieb. Ebenfalls von Neueinwandern gegründet wurde die Union Obrera Israelita, die der Arbeiterbewegung zuzurechnen ist.

Neben dem traditionellen religiösen und rassistischen Antisemitismus hatten die Juden Argentiniens nun mit einem neuen Vorurteil zu kämpfen: der Gleichsetzung von Juden und sozialen Unruhestiftern. Verstärkt wurde dieser Trend durch die russische Revolution. Die Juden, die vor den Pogromen aus Rußland geflohen waren, wurden von weiten Kreisen in Argentinien nur noch alsrusos gesehen und waren somit des Kommunismus und der Revolution verdächtig und immer öfter Opfer von Polizei- und Mobgewalt.

Ab den 20er Jahren wurden die Einwanderungsbestimmungen ständig verschärft. Nach Argentinien immigrieren durfte nur noch, wer dem Land nützlich war, vor allem aber ein polizeiliches Führungszeugnis aus seinem Heimatland vorweisen konnte, daß bestätigte, das er sich nicht politisch betätigt hatte. Die Tore Argentiniens schlössen sich also genau zu jenem Zeitpunkt, als das Land als Zufluchtsort für die mit der Vernichtung durch die Nazis bedrohten Juden Europas vitale Bedeutung erlangte.

Vor verschlossenen Toren

Während die Juden Europas Fluchtwege vor der größten Katastrophe ihrer Geschichte suchten, gingen in Argentinien wirtschaftliche Probleme und Intoleranz Hand in Hand. Ein katholischhispanischer Nationalismus lehnte jüdische Einwanderung kategorisch ab, und auch rechtlich war diese fast unmöglich geworden, da die vor den Nazis aus Europa flüchtenden Juden wohl kaum gültige Pässe und polizeiliche Führungszeugnisse vorweisen konnten. Familienzusammenführungen wurden ständig eingeschränkt, so daß schließlich nur noch ein verwitwetes Elternteil und nicht einmal mehr minderjährige Kinder nachgeholt werden konnten.

Die argentinischen Behörden wiesen immer wieder aus Europa kommende Flüchtlingsschiffe ab, und auch dem Ansuchen des Völkerbundes, jüdische Flüchtlinge, die sich in den Nachbarländern Deutschlands in großer Gefahr befanden, aufzunehmen, entsprach man nicht. Großbritannien wandte sich mit einer ähnlichen Bitte an Argentinien. Diesmal ging es um zwanzig jüdische Kinder, die noch rechtzeitig von jüdischen Organisationen nach Großbritannien geholt werden konnten und deren Verwandte in Argentinien lebten. Der argentinische Botschafter in London wies erst jede Forderung nach Aufnahme dieser Kinder in seinem Land zurück, um dann zu erklären, daß Argentinien sich unter Umständen zu einer Aufnahme bereit erklären würde, vorher müßten die Kinder aber sterilisiert werden, da sie sonst als Angehörige der jüdischen Rasse eine zu große Bedrohung für Argentinien darstellen würden.

Argentinien, das als einziges Land Lateinamerikas zu Nazi-Deutschland volle diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen unterhielt, nutzte diese nicht, um für Juden argentinischer Nationalität, die in von den Nazis besetzten Ländern mit Deportation und Tod im Konzentrationslager bedroht waren, zu intervenieren. Die jüdische Gemeinde Argentiniens befand sich während des Holocausts in einer äußerst zwiespältigen Lage. Einerseits hatte sie selbst unter einem wachsenden Antisemitismus zu leiden und fürchtete, diesen durch Forderungen nach Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen noch zu verstärken. Andererseits war ihr sehr wohl bewußt, daß die einzige Rettung der Juden Europas angesichts der Vernichtung durch die Nazis in der Flucht aus Europa lag. Sie engagierten sich schließlich verstärkt in zionistischen Organisationen und sammelten Spenden für jene jüdischen Flüchtlinge, die von Argentinien abgewiesen wurden, um ihnen einen Neuanfang in Palästina zu ermöglichen.

Gleichzeitig engagierten sich die bereits länger in Argentinien lebenden deutschstämmigen Juden verstärkt innerhalb der jüdischen Gemeinde. Lange Zeit hatten sie sich eher der deutschen Landsmannschaft zugehörig gefühlt, die sie nun mit Arierparagraphen ausschloß und mit der sie selbst aufgrund des Schicksals der deutschen Juden jeden Kontakt abbrechen wollten. Sie gründeten also Hilfsvereine innerhalb der organisatorischen Strukturen der jüdischen Gemeinde, obwohl die wenigsten von ihnen religiös aktiv waren. Die wenigen religiösen unter den deutsch-stämmigen Juden fühlten sich weder dem sephardischen Ritus der marokkanischen Einwanderer noch der Orthodoxie der russischen Immigranten zugehörig. So entstanden auch in Argentinien Reformkongregationen.

Argentinien war nicht das einzige Land Lateinamerikas, das den jüdischen Flüchtlingen die Aufnahme verwehrte, in dem Wissen, daß ihnen bei der Rückkehr nach Europa furchtbares Leiden und Vernichtung drohte. Paraguay vergab nur Transitvisa an Flüchtlinge, die in ein anderes Land Weiterreisen konnten. Venezuela, Kolumbien und Brasilien verlangten im Gegenzug für eine Einreisegenehmigung die katholische Taufe. Mexiko nahm Flüchtlinge nur bis zum April 1942 auf. Als Länder, die jüdische Flüchtlinge aus Europa willkommen hießen, sind nur Ecuador, die Dominikanische Republik und Bolivien bekannt.

Das Leben der Juden in Lateinamerika nach 1945 stand ganz unter dem Eindruck der shoa, allerdings war es auch von eigenen Erlebnissen mit lateinamerikanischem Antisemitismus und Regierungen, die jüdischen Flüchtlingen die Aufnahme verwehrten, geprägt. Mit dem Staat Israel entstand ein neuer Hoffnungsträger. Ein Leben in der Diaspora, immer mit der Gefahr des Antisemitismus, war nun nicht mehr Schicksal, sondern bewußte Entscheidung. Die Gemeinden der Diaspora mußten sich also in ihrer Identität vollkommen neu definieren.

Zwischen der Neuen Welt und dem Gelobten Land

Jene Juden, die sich nach der Gründung des Staates Israel für ein Leben in Lateinamerika entschieden haben, taten dies bewußt. Sie sahen sich als Lateinamerikaner, Israel hatte für sie, wenn sie religiös waren, vor allem eine metaphysische Dimension, und war nicht konkrete Heimat.

Allerdings wurde ihnen die Integration in Lateinamerika, vor allem unter den Militärdiktaturen, oft zu schwer gemacht. Juden wurden weiterhin mit Subversiven gleichgesetzt und waren bevorzugte Opfer der Militärs. Dies sieht man zum Beispiel an der hohen Zahl der Juden unter den desaparecidos der argentinischen Militärdiktatur.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen Deutsche, Italiener, Ukrainer und Kroaten, die mit den Nazis kollaboriert hatten, nach Lateinamerika, vor allem nach Argentinien. Ihnen wurden bei der Einwanderung kaum Hürden in den Weg gelegt. Den Juden Lateinamerikas muß dies als unvorstellbare Verhöhnung der von den meisten lateinamerikanischen Ländern abgewiesenen jüdischen Flüchtlingen erschienen sein. Auch der religiöse Antisemitismus ließ nicht nach, gleichzeitig propagierten die Militärdiktaturen auch eine Ideologie der Glorifizierung und Reinheit der „lateinischen Rasse“.

So sahen sich immer mehr lateinamerikanische Juden zur Auswanderung gezwungen. Die Ziele der meisten Auswanderer waren Israel und die USA, einige entschlossen sich aber auch, sich in Spanien niederzulassen, jenem Land, aus dem einst die ersten lateinamerikanischen Juden gekommen waren, und trugen so dazu bei, daß dort fast 500 Jahre nach der Vertreibung von 1492 wieder eine jüdische Gemeinde entstehen konnte.

Die wechselvolle jüdische Geschichte in Lateinamerika begann mit, oft unfreiwilliger, Einwanderung, aber gelebter Glaubensfreiheit. Sie beinhaltete Jahre des rechtlichen Willkommenheißens jüdischer Immigranten, aber auch Antisemitismus und verschlossene Tore im Angesicht der shoa. Heute ist Lateinamerika einigen Juden zur bewußt gewählten Heimat geworden, weitaus häufiger ist allerdings die jüdische Emigration aus Lateinamerika.

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Wer sagt mir, ob du im verlorenen Labyrinth der uralten Ströme meines Blutes bist, Israel?
Jorge Luis Borges

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Literatur:

Avni, Haim: Argentina and the Jevvs. A History of Jewish Immigration. Tuscaloosa. 1991.

Burghardt, Tobias u. Schmidt. Delf (Hrsg.): Jüdische Literatur Lateinamerikas. Letras Judias Latinoamericanas. Reinbek bei Hamburg. 1998.

Levin, Elena: Historias de una emigración. Alemanes Judíos en la Argentina. Buenos Aires. 1991.

Saban. Mario Javier: Judios Conversos. Buenos Aires. 1990.

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