Die Zeitmesser des Meeres,
die Artischocken,
die Sparbüchsen mit ihren flackernden Feuern,
die Beutel des Meeres
zum Bersten voll,
die Leuchten des Wassers,
die Schuhe, die Stiefel
des Ozeans,
die Zephalopoden, die Holothurien,
die trotzigen Krebse,
gewisse Fische, die schwimmen
und sehnsüchtig seufzen,
die Seeigel, die hervorkommen
aus den Kastanien der Tiefen,
die blauen Schirme des Ozeans,
die zerrissenen Botschaften,
die Walzer auf den Wogen,
all dies schenkt mir das Beben des Meeres.
Die Wellen kehrten zurück zur Bibel:
Seite um Seite schlössen sich die Wasser:
der ganze Zorn sank zur Mitte des Meeres,
aber zwischen meinen Blicken blieben mir
mannigfaltige und nutzlose Schätze,
die mir seine zerstörte Liebe ließ
und jene dunkle Rose.
Betastet diese Gestalt:
hier meine Hände bearbeiteten
winzige Sarkophage aus Salz
bestimmt für Stoffe und Geschöpfe,
wild in ihrer purpurroten Schönheit,
in kalknarbigen Stigmatas,
vergänglich
auf daß sich ernähren
wir und andere Wesen
von Blumen und Licht Verschlingendem.
Das was ließ auf der Schwelle das Beben,
die zerbrechliche Stärke, das Unterwasserauge,
die blinden Tiere der Woge,
zwingen mich in den Spalt:
komm und komm und geh, oh Qual
meiner heimlichen Gezeiten verborgen vom Meer.
Muscheln, ausgeworfen auf den Sand,
glitschige Arme,
Mägen des Wassers,
Rüstungen geöffnet zum Eintritt
von Wiederholung und Bewegung,
Stacheln, Saugnäpfe, Zungen,
kleine kalte Körper,
mißhandelt
von der unerbittlichen Ewigkeit des Wassers,
von der Wut des Windes.
Sein und Nicht-Sein – hier sind sie verschmolzen
zu glänzenden und hungrigen Gebilden:
Es brennt das Leben und geht
spazieren ein Blitz der Tod.
Ich bin nur Zeuge
der Elektrizität und der Schönheit
füllend die verzehrende Stille.
Deutsche Nachdichtung von Tias
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„MAREMOTO“ behandelt ein Drama und ein Fest. Der Titel – Beben des Meeres – spielt auf die Natur in Chile an: Vor jedem Seebeben weicht das Wasser viele Kilometer von der Küste. Auf dem trockenen Meeresboden bleiben all die vielen Meereslebewesen zurück: Algen, Weichtiere, Fische, Seesterne. Diese Schätze des Meeres, bloßgelegt durch den gigantischen Wasserrückgang, preist Neruda in seinen Gedichten. (…)
Merkwürdigerweise sind diese Gedichte trotzdem innerhalb von Nerudas Gesamtwerk unbekannt. Sie erschienen 1970 (in Santiago de Chile) in einer Auflage von nur 110 Exemplaren, wobei eines das Originalmanuskript war. Nur, diese Gedichte wurden niemals wieder herausgegeben und stellten so eine bibliographische Rarität dar, von der nur einige wenige Ausgezeichnete wußten. Daher ist diese Ausgabe des DA Verlages Das Andere in Wirklichkeit die erste Veröffentlichung, mit der dieses einzigartige Werk Nerudas wirklich ans Licht der Öffentlichkeit gelangt.
Raúl Zurita
Abdruck des Gedichts sowie des Auszugs aus dem Nachwort von Raul Zuniga mit freundlicher Genehmigung des DA Verlag Das Andere, Nürnberg
Pablo Neruda. Maremoto. Beben des Meeres. DA Verlag Das Andere, Nürnberg 1991