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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Mythos und Magie in „Pedro Páramo“ von Juan Rulfo

René Ceballos* | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Der Roman Pedro Páramo (PP} ist voller Geräusche, Gemurmel, Stimmengewirr, Undefinierter Schritte; er ist von Magie und Angst umhüllt. Die Romanwelt mit  ihrer Atmosphäre  entspricht nicht nur dem Mexiko des 20. Jahrhunderts, sondern auch jenem, dessen Ursprung viele Jahre zurückliegt. Ein Mexiko, das als Ergebnis seiner historischen, politischen und sozialen Begebenheiten verstanden wird. Diese Romanwelt widerspiegelt ein Land, welches aus dem Tiegel der Conquista und der Revolution entstanden ist und dennoch weiter ein Stück indianischen Unterbewußtseins behält (1). In diesem indianischen Unterbewußtsein bleibt die Angst vor dem Übernatürlichen lebendig. Dieses Unterbewußtsein benutzt die katholische Religion nicht, um ein Leben nach dem Tode zu erlangen, sondern um seine irdischen, unmittelbaren Probleme zu lösen. So gesehen handelt es sich um ein sozial aber stilles, kollektives Unterbewußtsein. Symbole und Archetypen, die in diesem „kollektiven“ Unterbewußtsein fest verankert sind, müssen in verständliche kommunikative Formeln übersetzt werden, damit sie in den Bereich des künstlerischen Ausdrucks gelangen. Carriön versteht hier unter „kollektivem“ Unterbewußtsein die alltägliche Präsenz des Indianischen im heutigen Mexiko. Er fügt noch hinzu, daß die mexikanischen Künstler zwischen den ambivalenten Bereichen der Logik und der Magie kein Hindernis sehen, da aus der Verschmelzung dieser Bereiche die besten Kunstwerke zustande kommen (2). Ein gutes Beispiel dafür finden wir in Pedro Páramo, dem ersten und letzten Roman von Jüan Rulfo. In diesem Roman können wir diese Charakteristika finden, wir können kaum unterscheiden zwischen toten und lebendigen Romanfiguren. Es wird der Eindruck erweckt, daß wir nicht mehr in der Lage sind, den Unterschied zwischen Zeit und Raum zu differenzieren.

Der mythische Charakter des Romans wird zum Teil durch die Rückkehr zum Ursprung determiniert (3): Die Toten kehren zu ihren Dörfern zurück oder verweilen in Comala. Einige machen auf ihre Anwesenheit durch Geräusche oder Stimmengewirr aufmerksam, andere gelangen erneut zu ihren Körpern und Stimmen, was zur Verwirrung des Außenseiters Jüan Preciado und auch des Lesers führt. Sowohl im Roman als auch in Comala findet man eine zweite fiktive Realität. Das   interessanteste   Charakteristikum   dieser zweiten Realität ist das magische Verhalten der Gegenstände: Der Regen feuchtet die Leichen unter dem Boden an und sie werden lebendig, laut und träumerisch. Diese Gegenstände sind Zeugnisse der „unterdrückten Triebe“ im menschlichen Unterbewußtsein; sie haben ihre soziale Bedeutung verloren; sie sind Träger des Mana, der Kraft der Natur (4). Im PP finden wir auch das wunderbare Wirkliche im Sinne von A. Carpentier. Die Gegenstände werden lebendig, sammeln ihre Kraft und agieren wie Individuen. Sie stellen eine Atmosphäre von Kontrasten her: Freude vs. Traurigkeit, Liebe vs. Haß, Leben vs. Tod.

Durch die literarische Struktur dieses Romans werden die mexikanische Realität und die ewige Präsenz des Todes in ihrem Alltag anders erfaßt. Als Beispiel für den „normalen“ Umgang mit dem Tod in Mexiko können die Feste vom 1. und 2. November dienen. An diesen Tagen wird der Gestorbenen gedacht, dies aber in einer Art und Weise, die für manche fast makaber erscheinen kann. Diese Festtage sind eher eine Ausrede tür das Lachen und das Vergnügen. Wenn wir diesen Umgang mit dem Tod als Habitualität (5) bezeichnen können, dann können wir behaupten, daß der Roman Pedro Päramo dadurch mythisch strukturiert ist. Das Dorf Comala existiert von allein – in der Romanrealität. Die Referenzen auf die externe Welt (z. B. Anspielungen auf die mexikanische Revolution), die im Roman vorkommen, stellen für Comala keine Abhängigkeit dar, im Gegenteil, sie bieten uns eine synthetische und nicht analytische Vision einer sowohl internen als auch externen Gemeinschaft an. Diese interne-externe Gemeinschaft kann nur von dem impliziten Leser gedeutet werden.

Dieser „mythische“ Roman stellt eine Welt des Jenseits dar, deren Kräfte und Auswirkungen bis in die Welt des Diesseits reichen: Jüan Preciado erfährt seinen Ursprung erst nach seinem Tode, nachdem er mit den Toten unter der Erde in Kontakt gekommen ist. Dadurch bekommt er einen autochthonen Charakter, wie Levi-Strauss ihn versteht (6). Der mythische Aspekt von PP ist wie der Mythos strukturiert. Dieser weist einen dualen Charakter auf: einen historischen und einen ahistorischen Teil. Juan Preciado fährt nach Comala auf der Suche nach seinem Vater, nach seinem Ursprung. Letzteren, d. h. seinen Ursprung, findet er nach dem Tod durch den Dialog im Grab mit Dorotea. In diesem Punkt gewinnt der Roman ein weiteres Merkmal: der Mythos als Sprache. Dank der Sprache kann der Mythos weitergegeben werden, dank ihr wird der Mythos bekannt und somit wird der Mythos zur Idee, d. h. er befindet sich dann jenseits der Sprache. Pedro Páramo (Vater von Juan Preciado) scheint nur im Dialog zwischen Juan Preciado und Dorotea zu existieren. Sowohl der Monolog, mit dem der Roman beginnt, als auch alle anderen Dialoge zwischen den übrigen Figuren sind Bestandteile eines einzigen Dialogs, nämlich des bereits erwähnten Dialogs zwischen Juan Preciado und Dorotea. Durch die Entfaltung dieses Dialogs ist es möglich, daß der Leser die Dialoge bzw. Monologe der anderen Figuren auch zwischendurch mitlesen kann. Es wird der Eindruck erweckt, daß es sich bei diesen um lebendige Figuren handelt. Sogar der einst mächtige und allein herrschende Pedro Páramo, dem Land, Leute und Sprache gehörten, tritt durch den Dialog von Jüan Preciado und Dorotea auf als ob er noch am Leben wäre. Um ihn herum gab es früher nur Stimmengewirr, die Sprache war nicht vorhanden: alles waren nur „Sprachlarven“ (7).

Die mythologische Welt in PP basiert auf zwei weltanschaulichen Systemen: auf jenem der vorkolumbianischen Zeit (Magie und Angst) und auf dem der abendländischen Kultur. Aus der Verschmelzung dieser zwei Weltsysteme muß man die Erklärung für die in PP manchmal fiktiv erscheinende Welt suchen. Zum Beispiel kommt Miguel (Sohn von Pedro Páramo) an und fragt Damiana, ob sie eine gewisse Dorotea, bekannt als Cuarraca, kenne. Damiana antwortet, doch, sie kenne sie: „Das ist so eine, weißt du, die trägt ein Bündel Lappen in ihrem Umschlagtuch und wiegt es und sagt, es ist ihr Kind“ (8). Dorotea ist eine stumme Frau, die wegen irgendwelcher Sünden, vor langer Zeit begangen – d. h. zu ihrer Zeit – bestraft wird. Wir haben keine Hinweise dafür, welche Zeiten Doroteas Zeiten gewesen sein sollten. Dennoch können wir anhand ihrer Beschreibung vermuten, daß es sehr, sehr lange her ist. Dorotea wird als die archetypische Figur des „mexicano-campesino-indígena“ dargestellt.

Dorotea wird symbolisch bestraft, an ihr werden die Strafen für irgendeinen damaligen „Verbrecher“ ausgeübt. Daher kann man feststellen, daß es sich um eine alte, vielleicht eine präkolumbianische Zeit handelt.

Andererseits findet der Leser in diesem Roman auch Parallelen zur griechischen Mythologie. Juan Preciado, von Abundio geführt, kommt in Comala an, weil er seinen Vater sucht. Beide überqueren einen Sandfluß. Abundio verläßt Jüan am Eingang von Comalas, weil, wie er sagt, die Hölle dort anfängt: „Sie werden was erleben, wenn wir erst in Comala sind. Da ist es wie auf glühenden Kohlen, wie im Höllenschlund.“ (9) Bei diesen Sätzen denkt der Leser natürlich an Dante und seine Göttliche Komödie, vor allem, weil man „hinunter“gehen muß, um nach Comala zu kommen, wie wenn man in die Hölle gelangen möchte. Außerdem kann Juan Preciado mit Telemachos, Sohn des Odysseus und der Penelope, verglichen werden. Beide gehen auf Vatersuche, mit dem Unterschied, daß Telemachos von Athene geführt wird. Abundio kann mit Athene nicht verglichen werden, jedoch mit Charon, dem Fährmann, der mit seinem Boot die Toten über den Styx und den Acheron in das Reich des Hades bringt. In Dantes Göttlicher Komödie muß Charon die Verdammten in die Hölle bringen (10). Auch könnte ein Vergleich zwischen Juan Preciado und Orpheus gezogen werden, da dieser ebenfalls in das Reich der Toten hinabstieg, um seine Frau Eurydike zu suchen. Orpheus wird in dieses Reich durch die Stimme seiner Mutter geführt. Durch die Erinnerung an seine Mutter, an ihre Worte und durch verschiedene Frauenfiguren (Eduviges, Damiana und Dorotea) wird Juan Preciado nach und in Comala eingeführt. Andererseits stellen Pedro Páramo und Susana San Juan (seine Frau) für Carlos Fuentes einen Ulysses aus Ton und eine verkehrte Elektra dar.

Eine andere Interpretation suggeriert, daß man Juan Preciado als das „Produkt“ einer „Urvergewaltigung“ sehen kann. Octavio Paz führt in seinem Buch El laberinto de la soledad (11) (Das Labyrinth der Einsamkeit) aus, daß die Mexikaner das Ergebnis jenes ersten gewaltsamen Kontaktes zwischen Azteken und Spaniern sind. Der Malinche-Mythos spielt in dieser Interpretation eine entscheidende Rolle. Malinche war Cortes‘ Dolmetscherin und seine „Geliebte“; sie hat, in den Augen der anderen, ihr Volk und ihre Herkunft verraten, indem sie zu Diensten der Spanier stand. Der mythische Hintergrund des Romans suggeriert ebenfalls eine Sehnsucht nach dem verlorenem Paradies: Das zerstörte und verlassene Comala ist der Ausdruck einer Welt, die einst existiert haben soll.

Der gesamte mythische Hintergrund, den der Leser von PP finden kann, ist eine der literarischen Strategien, deren Jüan Rulfo sich bedient, um die Ambiguität seiner Figuren darzustellen und sie in einen universellen Kontext einsetzen zu können.

Der mythische Charakter des Romans wird auch durch zwei weitere Komponenten determiniert: die Atemporalität und die Dualität zweier Welten. Comala ist sowohl als Vergangenheit als auch als Gegenwart lebendig. Andererseits ist es auch tot, da es eben aus Vergangenheit besteht und diese in eine fiktive Gegenwart eingesetzt wird. Das sind „gute“ Voraussetzungen für eine Darstellung des wirklichen Wunderbaren, dennoch verfällt Rulfo nicht in die Leichtfertigkeiten eines magischen Realismus. Man könnte sagen, daß er in seinem Roman eher Sprache, Verhalten, Weltanschauung und Denkweise der Mexikaner erforscht. Das wirkliche Wunderbare findet in der Koexistenz mehrerer Epochen statt, sowie in der atemporalen Handhabung der Parallelität zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In dieser Form werden der Alltag Lateinamerikas sowie seine ewige Sehnsucht nach der Vergangenheit dargestellt. Somit kann die kulturelle Realität Lateinamerikas aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist Mexiko. Als die Spanier nach Amerika kamen, setzten die Azteken Cortes die Maske des Quetzalcoatl auf. Quetzalcoatl war der aztekische Gott, der eines Tages zurückkehren würde. Die Spanier ihrerseits zwangen den Azteken den Glauben an Christus auf, den diese seitdem verehren mußten. Hierauf beruht das Reale und das Mystische der mexikanischen Kultur. Man weiß nicht hundertprozentig, ob die Bilder und Statuen der Heiligen in den mexikanischen Kirchen des XVI. und XVII. Jahrhunderts authentisch katholischen Bildern und Statuen von Heiligen entsprechen, oder ob diese inspiriert sind von Bildern eigener, chthonischer Götter der Indige-nas, deren Verehrung sie unterdrücken mußten. Die Dimension der Realität und des Mythischen in Lateinamerika ist, zum Teil, nach der indianischen Vergangenheit orientiert. Dabei wird an diese Vergangenheit gedacht, als wäre sie das verlorene Paradies. Gelegentlich denkt man an Europa als Quelle und Sitz einer idealen Welt. Die aus diesen beiden Positionen entstandene Ambiguität im Leben und in der Geschichte Lateinamerikas führt nicht zu einem vermeintlichen Chaos oder zu Identitätskrisen, sondern ist eher eine Bereicherung der eigenen Welt.

Ausgehend von Levi-Strauss‘ Theorien über die historische und ahistorische Struktur des Mythos zieht die Kritikerin Marta Gallo (12) die Schlußfolgerung, daß PP in allen seinen Möglichkeiten die Parallelitäten zwischen dem Mythos und der lateinamerikanischen Literatur sowie jene zwischen der lateinamerikanischen Realität und dem Mythos ausschöpft. Und zwar deshalb, weil die zentrale Struktur des Romans auf der doppelten Ebene der Realität und auf dem doppelten Wert des Vergänglichen und des Ewigen basiert. Die Ewigkeit des Universums wird der Ewigkeit des Todes gegenübergestellt. Die ständige Anwesenheit des Vergangenen wird mit der nicht real existierenden Gegenwart konfrontiert. Die Vergangenheit beraubt die Gegenwart ihrer Gültigkeit und somit werden die Zeit und die Geschichte (von Comala) unterdrückt. Die Technik der zentralen Struktur des Romans wird in seiner erzählerischen Strategie weitergeführt. Die Motive und Techniken der Handlungsstruktur werden auf die Erzählstruktur übertragen. Indem der Erzählstoff in einer mythologischen Art und Weise behandelt wird, kommen mythische Anspielungen zustande. Aber indem die Vereinigung der Vergangenheit mit der Gegenwartstattfindet, findet andererseits auch eine Ent-mythifizierung des Ganzen statt.

Abschließend können wir sagen, daß PP dem magischen Realismus zugeordnet werden kann, weil er die Realität mit temporalen und atemporalen sowie individuellen und sozialen Komponenten ausstattet. Indem er die alltägliche Realität mythifiziert, versucht er die kollektive Verfremdung gegenüber der Vergangenheit abzuschaffen.
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* geb. am 4.4.1969 in Mexiko-Stadt Student an der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig -Hispanistik und Germanistik-

(1) Cfr. Jorge Carrión: Mito y magia del mexicano, México, 1952, S. 13.

(2) Ebd. S. 17-18.

(3) Vid. René Jara Cuadra: Modos de estructuración mítica de la realidad en la novela hispanoamericana, in: Literatura hispanoamericana. Chile (mayo 1970), S. 4.

(4) Eda. S. 5.

(5) In bezug auf den Begriff Habitualität vid. A. de Toro: Los laberintos del tiempo. Frankfurt am Main, 1992. S. 71.

(6) Cfr. C. Le“vi-Strauss: Die Struktur der Mythen, in: Strukturale Anthropologie. Frankfurt am Main, 1978.

(7) Cfr. Carlos Fuentes: Mugido, muerte y misterio: el mito de Rulfo, in: Revista Iberoamericana 116/117, tomo 47. Pittsburgh (1981)8.7.

(8) Juan Rulfo: Pedro Páramo. Verlag Volk und Welt Berlin 1983, S. 79. Bemerkenswert ist die Antonymie bei den Namen dieser beiden Figuren: Damiana (Demon) und Dorotea (die mit der Gottesgabe).

(9) ebenda, S. 10.

(10) Der Vergleich zu Telemachos und zu Charon müßte zu einer Interpretation fuhren, in der Jüan Preciado als Toter nach Comala kommt.

(11) Vid. Octavio Paz: El laberinto de la soledad. México, 1950.

(12) Vid. Marta Gallo: Realismo mágico en Pedro Páramo, en: D. A., Yates (Hrsg.): Otros mundos otrosfuegos… Memoria del XVI Congreso Internacional de Literatura. Michigan, 1975. S. 107.

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