Egal, was die Behörden denken, ich habe Dona Estefania Castellön geschätzt, und sie hat mich auch geschätzt. Ich war ihr Diener, ihr treues Hündchen, könnte man sagen, aber nicht nur ihr Diener, sondern auch ihr bester Freund. Ich habe mich zu ihr wie zu einer Schwester verhalten.
Sie starb vor einem Monat, nein, sie starb nicht, ich würde sagen, sie flüchtete sich in die Tiefen des Meeres.
Wenn sie gestorben wäre, hätte das Meer ihre Leiche eines Tages an Land gespült, und das Meer spülte sie nie an Land, und daher sage ich, daß sie sich in die Tiefen des Meeres geflüchtet hat. Sie fehlt mir, sie fehlt mir sehr.
Ich weiß nicht, wieso man mich festgenommen hat und mich verhört, als ob ich ein Mörder wäre. Ich bin kein Mörder, und Dona Estefania wurde nicht ermordet. Was soll ich denn tun, wenn man mir nicht glaubt? Mein Gewissen ist ruhig, und es ist mein Zeuge, ebenso wie Gott.
Warum hätte ich sie umbringen sollen? Ich sagte schon, sie war mir wie eine Schwester. Nie behandelte sie mich schlecht. Ich war ihr Angestellter, aber seit mehr als zwanzig Jahren zahlte sie mir keinen Pfennig, denn sie hatte nichts, wovon sie mich hätte bezahlen können. Ich blieb nur bei ihr, um ihr Gesellschaft zu leisten. Ja, ich blieb, um ihr Gesellschaft zu leisten, denn wie man eine kleine Schwester nicht im Stich läßt, wollte ich auch sie nicht allein lassen. Alle anderen gingen irgendwann weg, und ich konnte sie nicht verlassen, nicht nur, weil sie dann in diesem riesigen Haus allein gewesen wäre, sondern auch, weil sie mir gefehlt hätte, so wie sie mir jetzt fehlt. Ich hatte mich so an ihre Anwesenheit gewöhnt. Schon von klein auf kenne ich sie—meine Familie stand bei ihren Eltern im Dienst—. Ich wurde in ihrem Haus geboren, in der Stadt Granada. Ihrem Vater verdanke ich, daß ich in dieser Stadt aufs Gymnasium gehen durfte. Das Haus ihrer Familie in Granada war prächtig, riesengroß, eines dieser im Kolonialstil erbauten Häuser, und es war für einen ihrer Vorfahren errichtet worden, nachdem Mister William Walker die Stadt hatte niederbrennen lassen.
Sie lebte in dem alten Haus in der Nähe des Strandes von Pochomil, die letzten zwanzig Jahre bis zum Freitag, dem 13. des letzten Monats. Das Haus ist gut in Schuß, und mit Sicherheit gibt es .viele, die es gern besitzen würden, aber dank Gottes Güte und dem großzügigen Willen von Dona Estefania gehört es jetzt mir. Es war das Letzte, was ihr vom väterlichen Erbe geblieben ist, und wenige Tage, bevor sie sich in die Tiefen des Meeres flüchtete, schenkte sie es mir. Ich habe nicht darum gebeten, wie ich auch nie Andeutungen in diese Richtung gemacht habe, es ging allein von ihr aus. Und als sie es mir schenkte, übergab sie mir die Besitzurkunde, in der stand, daß ich der Besitzer des Hauses sei. Ich wollte ihr nicht glauben. Ich sagte ihr, daß sie mir nicht ein solches Geschenk machen müsse, um mir ihre Wertschätzung zu beweisen. Ich wollte die Urkunde nicht annehmen, aber sie bestand darauf, daß ich sie nehmen, daß ich sie akzeptieren müsse. Vom Haus aus kann man das Meer und die Küste sehen; man hat einen großartigen Blick von dort. Es mag Leute geben, denen ein schöner Blick auf das Meer und die Küste egal ist, aber Dofia Estefania war er wichtig; sie fand das Meer wunderbar, und es war für sie etwas geworden, das sie zum Leben brauchte. Seit sie ein Kind war, hatte das Meer sie unwiderstehlich angezogen. In den letzten Jahren hatte sie sich selten hineinbegeben, aber wenn sie es tat, dann verbrachte sie Stunden um Stunden im Spiel mit den ankommenden Wellen, ehe sie müde wurde. Sie machte nachmittags gewöhnlich einen Spaziergang entlang der immer gleichen Küste. Sie mochte es, die Sonne in der Ferne verschwinden und aus der Tiefe des Horizonts die Nacht erscheinen zu sehen, sie genoß dieses ganz natürliche und ganz einfache Schauspiel. Sie ging am Ufer entlang, ohne Eile, mit ruhigen Schritten. Es war ihr tägliches Ritual.
Wieso sie mir das Haus geschenkt hat? Das ist eine Frage, die ich mir nicht gestellt habe. Ich weiß nicht, warum die Leute immer sofort das Schlechteste denken.
Nein! Zwischen uns -war nichts von dem, was Leute tun, die sich lieben. Wir hatten nur eine aufrichtige Freundschaft. Ich war ihr Angestellter und ihr bester Freund, wie ich schon gesagt habe.
Wie? Ich sagte schon, daß ich mir nicht die Frage gestellt habe, warum sie mir das Haus schenkte. Sie dürfen nicht glauben, daß ich sie dazu gedrängt hätte. Wenn sie es mir schenkte, dann weil sie in Geberlaune war. Außerdem, so erstaunlich ist es auch nicht, schließlich war ich der einzige, der treu bei ihr blieb, treu wie ein Hündchen, wie ich schon sagte. Ihre Neffen und Nichten hatten vergessen, daß es sie noch gab, nachdem sie sich für sie aufgeopfert hatte. Das einzige Wesen, das ihr blieb, war ich, ich allein. Ach, wenn sie erst ihre Geschichte kennen würden!
Es ist eine einfache, aber traurige Geschichte. Als junge Frau war sie hübsch und hatte eine schöne Figur. In den Kreisen, in denen sie in jener guten alten Zeit verkehrte, wurde sie begeistert gefeiert wegen ihrer Schönheit, ihrem guten Geschmack und ihrer Kultiviertheit. Einige ihrer Freundschaften trugen ihr sogar Neid ein: sie stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und auf ihr vereinigten sich sämtliche Wunschträume der gutaussehenden aristokratischen Jugend, deren männliche Vertreter sich gegenseitig ihre Liebe streitig machten. Obwohl es kaum glaubhaft erscheint, so wies sie doch alle Liebesanträge zurück: drei der jungen Galane nahmen sich ihretwegen das Leben. Sie wollte keine Verpflichtungen eingehen, die sie binden würden. Sie strebte nach etwas Größerem, Verheißungsvollerem, etwas außerhalb der sozialen Schicht, zu der ihre Familie gehörte, etwas, von dem sie selbst nicht genau wußte, was es war. Ich glaube, sie war vierunddreißig, als sie feststellte, daß sie eine alte Jungfer war, denn sie bemerkte, daß die wenigen Männer, die sich noch für sie interessierten, entweder schon in festen Händen waren oder aber keinerlei Ambitionen auf eine formelle Beziehung hatten. Ihre Jugendfreundinnen waren verheiratet und mit ihren eigenen Familien beschäftigt. Ich nehme an, daß es ihr egal war, denn in jenen Jahren sah man sie immer fröhlich, sogar, nachdem das Unglück über ihre Familie hereinbrach; ich glaube, es war ihr gleichgültig, daß sie nicht geheiratet hatte.
Welches Unglück? Das weiß doch jeder hier in dieser Gegend! Also gut: das Unglück kam im Jahr 1896 über ihre Familie. Ihr Vater beteiligte sich an einer Revolte der Konservativen. Die Revolte schlug fehl, und die führenden Köpfe dieser Revolte wurden erschossen. Ihr Vater gehörte zu denen, die man an die Wand stellte. Ich erinnere mich noch, wie man die Leiche ihres Vaters, mit vierzehn Einschüssen in der Brust, auf einem offenen Wagen zu ihnen brachte, der langsam von einem Gespann schwarzer dürrer Ochsen gezogen wurde. Es war ein heißer Morgen, dieser vierzehnte April 1896. Ihre beiden Brüder, Estebano und Patricio, wurden verhaftet und zu fünfzig Jahren Gefängnis verurteilt. Ihre Mutter verlor jeden Lebensmut und starb vor Gram. Dona Estefania behauptet, daß die sieben-unddreißig Jahre gemeinsamen Lebens mit ihrem Mann zu schwer auf ihr lagen. Sie akzeptierte den Tod ihrer Mutter, sie dachte, daß es ihr so wenigstens erspart geblieben sei, den Niedergang ihrer Familie zu erleben. Ihre beiden Schwägerinnen, die gleichzeitig Schwestern waren, warteten nicht lange und waren binnen kurzem mit neuen Liebesaffären und neuen Männern beschäftigt. Ihre Kinder störten dabei, und so entschieden sie sich, sie zu ihr zu schicken. Ihre fünf Neffen und Nichten wurden ihr auf einem kleinen Handwagen geschickt, der von zwei Dienern gezogen wurde. Ich war dabei, als sie ihre Nichten und Neffen in Empfang nahm. Sie übernahm es, sie aufzuziehen und zur Schule zu schicken. Sie waren ihr wie eigene Kinder, die sie nie hatte, und, um ehrlich zu sein, für mich waren sie auch wie meine eigenen Kinder, die ich auch nie hatte. Der finanzielle Ruin ließ nicht lange auf sich warten, denn ein großer Teil des Vermögens und der Ländereien ihrer Familie wurde von der liberalen Regierung konfisziert, und das wenige, was sie ihr ließen, wurde von den zahllosen Kosten verschlungen, die im Haus täglich anfielen. Fünfzehn Jahre später, nachdem die liberale Regierung gestürzt worden war, bot die Regierung der Konservativen Dona Estefania die Möglichkeit an, ihre Neffen und Nichten nach Spanien zum Studium zu schicken, und sie nahm das Angebot an. Ihre Neffen und Nichten gingen nach Spanien, und mit der Zeit vergaßen sie ihre Tante. Sie vergab ihnen, weil sie, wie sie sagte, genug Probleme mit ihren eigenen Familien hätten. Es sind undankbare Kinder, Söhne und Töchter von schlechten Müttern.
Ob die Regierung der Konservativen ihrer Familie die konfiszierten Güter zurückerstattete? Da kann man ja wohl nur lachen. Nein, die Regierung der Konservativen hat ihrer Familie die konfiszierten Güter nicht zurückerstattet. Sie konnten nicht, denn sie hatten sich selbst wieder mit den Liberalen eingelassen. Dona Estefania bemühte sich nicht darum, die Güter und das Kapital wiederzubekommen, das man ihrer Familie geraubt hatte. Geld war ihr nie wichtig gewesen. Sie forderte nie zurück, was ihr gehörte, und nie beschwerte sie sich über die zahllosen Ungerechtigkeiten, die man ihr und ihrer Familie angetan hatte. Sie beschwerte sich nicht einmal, als sie mißbraucht wurde, fünf Monate nach dem Tod des älteren Bruders, Patricio, im Gefängnis. Er starb an den Folgen einer Tuberkulose, drei Jahre nachdem man ihn verurteilt hatte.
Wie das passierte? Ich weiß nicht genau. Sie wollte es mir nicht erzählen. Ich erfuhr es durch den Klatsch der Nachbarn. Auf jeden Fall verlor sie bei einem Besuch in der Strafanstalt ihre Unschuld und das bißchen Ehre, das ihr noch geblieben war. Leute haben mir erzählt, daß sie sich gewehrt habe, aber daß es gegenüber der ausschweifenden Soldateska keinen Sinn gehabt habe. Ich weiß, daß die Militärchefs, gefühllos und mitleidlos wie sie waren, sich blind stellten und so taten, als ob es sie nichts anginge, und daß mehr als einer sogar selbst seinen Spaß mit ihr gehabt hat. Es war eine Form, sie zu erniedrigen ‚und die politischen Gegner der liberalen Partei zu erniedrigen.
Wie? Was? Ihr Bruder Estebano? Der Ärmste, er hat sich eine Woche danach umgebracht, als er
hörte, daß seine Schwester vergewaltigt worden war. Die Soldateska schrie es ihm ins Gesicht, und er hat es nicht ertragen können.
Beziehungen zwischen ihr und mir? Wie oft soll ich es denn noch sagen, daß zwischen ihr und mir nichts war! Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein Vater kam bei einem Arbeitsunfall um. Ich war das einzige Kind. Der Vater von Dona Estefania gab mir die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, und als ich dann Ingenieur war, begann ich bei ihm zu arbeiten. Nach der Tragödie beschloß ich zu bleiben, weil ich mich ihrer Familie verbunden fühlte. In dieser Zeit hat sich unsere Freundschaft vertieft. Alles andere habe ich schon erzählt.
Ich kann gar nicht ihr Mörder sein. Ich bin sicher, wenn sie gewußt hätte, in was für eine Situation sie mich bringen würde, hätte sie sich nicht in die Tiefen des Meeres geflüchtet.
Wo ich gerade war, als sie sich dazu entschloß? Ich saß in einem Schaukelstuhl in dem kleinen Korridor am Eingang des Hauses. Ich setzte mich immer dorthin, wenn sie an der Küste entlang lief. An jenem Nachmittag spazierte sie über den Strand, so wie sie es stets tat. Sie ging ziellos am Ufer entlang, langsam und ohne stehenzubleiben, und genoß den Anblick der Möwen, die am klaren und heiteren Himmel flogen. Plötzlich blieb sie stehen, schaute starr auf das Meer. Sie begann auf einmal ins Wasser hineinzulaufen, mit allen ihren Kleidern, als ob sie, ich weiß nicht, als ob sie hypnotisiert wäre —ich war ja nicht bei ihr, deshalb kann ich es nicht genau sagen—. Das salzige Wasser begann über ihr zusammenzuschlagen. Ich stand aus meinem Stuhl auf und schaute angestrengt dorthin, wo ich sie noch erkennen konnte, aber ich konnte mich nicht bewegen, ich fühlte mich wie gelähmt, ich weiß nicht, warum, außerdem ging alles sehr schnell. Ich erinnere mich noch, daß die Sonne am Horizont hin- und herzuschwappen schien, und daß der Wind sacht wehte und die Möwen immer noch am Himmel kreisten. Es war die Zeit des Tages, da die Sonne nicht mehr so heiß brannte. Schwerfällig flutete das Meer mit seinen salzigen Wellen über sie hinweg, und obwohl ich sie nicht mehr sehen konnte, glaube ich, daß sie einfach weiterging, so als ob sie mit großer Sicherheit am Ufer langginge. Sie ging so tief hinein, daß das Meer sich den ganzen Nachmittag nicht wieder beruhigte. Den Rest kennen Sie schon bis ins kleinste: Ich benachrichtigte die Polizei von Pochomil, und man nahm mich unverzüglich fest. Man beschuldigte mich, sie umgebracht zu haben, um ihr Geld und ihr Haus behalten zu können, was absolut nicht stimmt, denn Geld hatte sie nicht, und das Haus hatte sie mir geschenkt.
Und Sie, Herr Rechtsanwalt, was glauben Sie?