Daß die Literatur von Miguel Angel Asturias eine komplexe und vielseitige Kulturerscheinung im lateinamerikanischen und internationalen Kontext darstellt, ist eine von der heutigen literaturwissenschaftlichen Forschung allgemein anerkannte Auffassung. Es ist eine Tatsache, daß Asturias zu den ersten hispanoamerikanischen Autoren gehörte, die mit ihren Texten zur Entstehung eines anderen Literaturverständnisses und zur Formung eines neuen Lesers beigetragen haben. Besonders Asturias‘ spezifische Beziehung zum Mythosproblem verleiht seinem literarischen Schaffen einen bemerkenswerten Platz in der lateinamerikanischen Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts. Gerade das Frühschaffen aus den Jahren 1923 bis 1932 zeigt besonders deutlich, in welcher Weise sich historische, legendäre und mythische Zeit und Betrachtungsweise im literarischen Werk von Asturias artikulieren.
Eine interdisziplinäre Untersuchung des Mythosproblems im Frühschaffen führt zu der Feststellung, daß der Romancier Asturias in seinem Werk nicht mehr jene allgemeine Konzeption vertritt, welche den Mythos allein in seiner klassischen Dimension versteht und ihn vorwiegend in seiner ästhetischen Natur bewertet und verwendet. Die literaturwissenschaftliche Erforschung des biographischen und literarischen Werdegangs von Asturias sowie die von uns analysierten Beiträge der zeitgenössischen anthropologischen Theorien berechtigen die Annahme, daß der Verfasser von „Legenden aus Guatemala“ eine modernere und komplexere Mythoskonzeption voraussetzte.
Insofern beinhaltet Austurias‘ Mythosauffassung eine kritische Distanzierung von der traditionalen rationalistischen Auslegung, welche dem Mythos zwar eine poetische Eigenschaft, aber keine soziale Realität und Funktion zuschrieb. So ergab sich für unsere Analyse die theoretisch-methodologische Notwendigkeit, die im Frühschaffen von Asturias vorhandene und verwendete Mythologie im Rahmen ihres eigenen, lateinamerikanischen Kulturkontextes zu studieren und sie im Zusammenhang mit den zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Mythostheorien zu bewerten.
Die Analyse ergibt eine vielseitige und komplexe Definition und Klassifizierung der Mythologie mit sehr differenzierten Arten, Strukturen, Bestimmungen und Funktionen im literarischen Werk aus der Jugendzeit. Unsere Klassifikation resultierte sowohl aus der vielschichtigen Natur des Gegenstandes als aus der Festlegung des methodologischen Verfahrens. Die von Asturias verwendete Mythologie läßt sich in vier Grundklassen einteilen: eine archaisch-mesoamerikanische, eine spanisch-christliche, eine persönlich-avantgardistische und eine zeitgenössisch-politische Mythologie. Die vier Grundkategorien sind in den von uns studierten Texten mit Dominanz vertreten; jede Art entspricht einem spezifischen Kulturkontext. Jede Kategorie verleiht dem jeweiligen Werk von Asturias eine qualitative Note. So hängen die Funktionen unmittelbar mit dem Wesen und der Struktur der gegebenen Grundkategorien zusammen. Jede mythische Gestaltung besitzt eine eigene Zeit- und Raumbestimmung sowie eine konkrete und typische Problematik. So bezieht sich beispielsweise die archaisch-schriftliche Mythologie vorwiegend auf den Prozeß der Entstehung, Formung und Entfaltung einer mesoamerikanischen Kulturtradition. Diese Mythologie kreist um das Grundthema des Ursprungs. Im Mittelpunkt dieser symbolischen Form steht die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur. Zu dieser Mythologie des Ursprungs gehören eine ganze Reihe von Mythen und Mythemen. So konnten wir bei Asturias das Vorhandensein einer Mythologie des Agrarkultes, einer Mythologie des Wortes und der Stimme, einer Mythologie der heiligen Orte und einer Mythologie der Elemente konstatieren. Treffend wurde diese Mythologie des Ursprungs durch Claude Levi-Strauss charakterisiert, als er behauptete, daß im Grunde jeder Mythos dieser Art eine „Suche nach der verlorenen Zeit“ beinhaltet.
Eine ganz andere Funktion übt die spanischchristliche Mythologie in der literarischen Produktion des jungen Asturias aus. Hier geht es, genauer betrachtet, nicht direkt um Mythen, sondern um Legenden. Der primitive Mythos will eine Welt vor der Welt, eine Zeit vor der Zeit „erklären“. Die christliche Legende setzt hingegen eine menschliche und historische Zeit voraus. Unsere Interpretation des Werkes „Legenden aus Guatemala“ hatte eine genauere Unterscheidung der oft verwechselten Begriffe Mythos und Legende zur Folge. „Der Mythos geschieht immer in der Ewigkeit“, hatte Marcel Mauss festgestellt. Diese Zeitbestimmung unterscheidet gerade den Mythos von der Legende. Die Legende findet in einer näher zu bestimmenden Epoche statt. Man weiß verhältnismäßig genau, wann ein Heiliger geboren wurde. Unsere Deutung der „Legenden aus Guatemala“ will zeigen, daß die spanischchristliche Legende für Asturias einen Übergang von der nationalen zur avantgardistischen Literaturproblematik der Modernität ermöglichte. Darin liegt gerade ihre poetologische Funktion in der genannten Dichtung. Die christliche Moral wird hier einer Kritik unterzogen, ohne jedoch auf die ästhetischen und poetischen Eigenschaften der katholischen Doktrin und Kunst zu verzichten. Eine zusätzliche Bedingung für diese Umformung der Legende durch Asturias war jene Dialektik von Verbot und Transgression gewesen, wie sie von der Poetik der französischen Avantgarde verstanden wurde. Diese neue Thematik der christlichen Legende (d.h. das Verhältnis von Erotik und Imagination) verbindet den Schriftsteller Asturias mit jener Grundtendenz der modernen Sensibilität, welche von Andre Breton als L’Esprit nouveau bezeichnet wurde. Es geht hier um die Frage nach den Möglichkeiten einer Aufhebung der künstlichen Antinomie zwischen Literatur und Leben. Diese „persönliche Mythologie“, wie ich sie bezeichnet habe, erfaßt gleichzeitig ein weiteres Grundthema, das Asturias‘ Frühschaffen ebenfalls mit der Tradition der europäischen Dichtung seit der französischen Romantik verbindet. Ich meine das Motiv der Kindheit des Dichters als mythisch-legendäre Zeit, wie es Asturias im ersten Teil seines Romans „Don Niño oder Die Geographie der Träume“ aus dem Jahre 1926 behandelte. Die Aktivität des Schreibens ist hier eine Folge der Aktivität des Sich-Erinnerns. Deutlich zeigt sich in dieser poetologischen Konzeption eine direkte Beziehung zu den Positionen von Gerard de Nerval und Marcel Proust. Beide Dichter betrachteten die Kindheitserlebnisse als unverfälschte Materialien zum Aufbau eines persönlichen Mythos, der als Grundlage ihrer eigenen Poetik dienen sollte. Die Aktivität des Sich-Erinnerns liegt nach Michael Leiris sowohl der Dichtung als auch der Produktion von Mythen und Legenden zugrunde. Diese These wird von Leiris am Beispiel der Literatur von Raymond Roussel demonstriert. Im Falle von Asturias besteht die Bedeutung der persönlichen Mythologie in der Suche nach einer eigenen geistigen und poetischen Überlieferung. Die Mythologie gehört also zu den Elementen jener poetischen Unternehmung, welche Octavio Paz als „Literatur der Selbstbegründung“ definierte.
Wir können feststellen, daß diese Mythologie der Erinnerung (um den Ausdruck von Mircea Eliade zu gebrauchen) einen allgemeinen Grundzug des Frühschaffens von Asturias darstellt.
Marcel Proust meinte, die Sicht, die der Dichter in seiner Kindheit erlangt, sei auf die sinnlich-konkrete Wahrnehmung der Welt beschränkt. Damit das große literarische Werk entstehe, sei eine reife Gesamtsicht der sozialen Erfahrungen und Erscheinungen die Grundvoraussetzung. Es war also für den Verfasser des Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ notwendig, sich ein Gesamtbild der sozialen Klassen und Gruppen der französischen Gesellschaft zu verschaffen.
Angeregt durch die kulturphilosophische Lehre von Giambattista Vico begriff Miguel Angel Asturias die Mythen als imaginäre Darstellungen von historisch realen Fakten. Asturias verwendete in diesem Zusammenhang den Begriff Historia narrativa, welcher die Rolle der produktiven Einbildungskraft bei der geschichtlichen Rekonstruktion der Institutionen der heroischen Zeiten betont. Die in der Diplomarbeit von Asturias, „Das soziale Problem des Indio“, herrschende soziologische Orientierung ist nach unserer Meinung von grundlegender methodologischer Bedeutung, um den Mythosbegriff in seiner spezifisch lateinamerikanischen Version zu erklären und in seinem Inhalt zu bestimmen. Der soziologisch-ethnologische Mythosbegriff entspricht genauer dem besonderen Kulturkontext, in dem Asturias‘ Literatur von Anfang an verwurzelt war. Methodisch betrachtet, behandelt Asturias den Mythos stets organisch und im Zusammenhang mit vielen anderen sozialen Fakten und Erscheinungen.
Zusammenfassend können wir hinsichtlich der Funktion des Mythos folgendes feststellen: Die Einbeziehung des soziologischen Standpunktes in die Untersuchung der Literatur aus der Jugendzeit verändert das traditionelle Bild der von Asturias verwendeten Mythologie erheblich. Es wird gleichzeitig daraus erkennbar, wie sozialwissenschaftliche Forschung, hier besonders Soziologie und Ethnologie, den Weg zur Entstehung eines vielschichtigen literarischen Werkes vorbereiten kann und neue Horizonte bei dessen Interpretation eröffnet. Die kulturkritische Funktion des Mythos kommt deutlich im zentralen Gedanken der Magisterarbeit von Asturias zum Ausdruck: Während der mesoamerikanische Mensch auf ökonomischem und politischem Gebiet eine abhängige und entfremdete Existenz führt, erweist sich die in seiner Gemeinschaft dominierende Religiosität als jene Sphäre, innerhalb derer er sich noch als tätiges Subjekt fühlen und entfalten kann. Die strukturelle realitätsbegründende Funktion des Mythos manifestiert sich in der Auffassung der natürlichen und sozialen Wirklichkeit als einer organisch gegliederten Totalität. Diese Konzeption ermöglichte uns, die mythische Raum- und Zeitdimension als eine verborgene Ebene des Romans „Der Herr Präsident“ herauszuarbeiten. Als symbolische Form stellt die Mythologie eine imaginäre Wiedergabe des sozialen Organismus dar. Auch im Mythos kommen ökonomische, rechtliche, moralische, technische und ästhetische Vorstellungen und Institutionen zum Ausdruck. Darin besteht der signifikante Charakter des Mythos.
Jedoch kann sich die Forschung nicht darauf beschränken, die Mythen als soziale Fakten strukturell zu untersuchen, sie zu beschreiben, zu deuten und zu klassifizieren. Das deskriptive Verfahren muß notwendigerweise durch die historische Forschungsmethode ergänzt werden. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß auch die Mythen der Wirkung der Zeit unterworfen sind. Sie entstehen, vermehren sich, wechseln ihre religiöse Bedeutung, verwandeln sich in Legende und Märchen und vergehen, wie alle übrigen Wertbegriffe und Institutionen der Geschichte. Uns daran erinnert zu haben bleibt ein Verdienst der Ethnologie und Kulturphilosophie dieses Jahrhunderts.
Vor allem die transzendentale Philosophie hatte den Mythos als eine Gestaltung des Geistes in seiner geschichtlichen Bewegung aufgefaßt und ihn als Ausdruck dieser Entwicklung und Vollendung begriffen. Der Mythos wird erneut zum Träger des philosophischen Gedankens. Man denke nur an Hegels Bild der Eule der Minerva, die erst in der Abenddämmerung ihren Flug beginnt. In seiner phänomenologischen Darstellung des mythischen Bewußtseins hat Ernst Cassirer darauf hingewiesen, daß die Sprache des Mythos eine Sprache des Werdens darstellt. Der Mythos ist in erster Linie ein Ausdruck symbolischer Art. Im Mythos lernt der menschliche Geist die Kunst, sich auszudrücken. Darin liegt die Bedeutung des Mythos auch für die poetische Praxis von Miguel Angel Asturias.