Ich lag ausgestreckt auf einer Bank und freute mich an der Sonne nach dem langen Regen und dachte anläßlich meiner Einladung an diesen Runden Tisch über DIE FRAU UND DIE KREATIVITÄT nach, sei es im Theater oder in einem anderen Metier. Im Park überall das Lachen und Schreien kleiner Kinder. Ich hatte die Augen geschlossen und ließ meine Gedanken schweifen, als die wiederholte Eindringlichkeit einer Frauenstimme meine Aufmerksamkeit erregte: „Paß auf, daß du nicht fällst!“ Ich öffnete die Augen, und mein Blick fiel auf die Kletterübungen zweier kleiner Mädchen von vielleicht drei oder vier Jahren am Rand des Springbrunnens, der sich direkt vor mir erhob. Ihre kräftigen kleinen Beinchen traf der Anprall der weiblichen Stimme, die sicher der Mutter einer der beiden oder beider gehörte, und sie wurden bei jeder Aufforderung Ungewisser, wurden unsicher und schwach. Ich hob den Blick, um mir einen Überblick zu verschaffen: über den ganzen Springbrunnen, an dem noch viele andere Kinder spielten. Und ich sah zwei kleine Jungen, wahrscheinlich im selben Alter wie die Mädchen. Dann schaute ich mir ihre Beinchen an: sie waren genauso kräftig wie die der Mädchen, aber sie standen ganz sicher und zitterten nicht vor Angst wie die der letzteren. Ganz im Gegenteil, sie trotzten jeder Gefahr und machten absichtlich gefährliche Schritte und Drehungen. Ich hörte keine Frauenstimme und keine Männerstimme, die ihnen sagte, sie sollten aufpassen. Ich dachte: Sind die Mädchenbeine unfähiger, anatomisch schwächer? Nein, zweifellos nicht. Dennoch bin ich sicher, daß die übermäßigen Warnungen diese Kinderbeine geschwächt haben, so daß sie innerhalb von einigen Minuten immer zaghafter wurden und schließlich ihr Vorhaben aufgaben und sich dafür entschieden, zur Mama zu laufen.
Wenn ich mich mit einer Sache beschäftige, führt mich alles, was ich tue, unweigerlich in dieselbe Richtung. An diesem Tag entschloß ich mich, nachmittags das Thema etwas gezielter anzugehen als vormittags im Park und vertiefte mich in die Ausgabe des „Tiempo Libre“ von vergangener Woche. Ich zählte die Theaterstücke, die zur Zeit in Mexico-City liefen. Es waren 66. 57 Autoren, davon 3mal Zorilla, 54 Regisseure und dabei 18 Stücke, bei denen der Autor mit dem Regisseur identisch war. Dann zählte ich 3 Gemeinschaftsproduktionen, ein Stück ohne Angaben zu Autor oder Regisseur und ein weiteres eines Autors ohne Angabe des Regisseurs. Wenn ich annehme, daß bei dem letzten Stück eine Frau Regie geführt hat, komme ich auf 7 Regisseurinnen, 5 Autorinnen (von denen zwei Ausländerinnen sind) und ein einziges Stück, bei dem die Autorin gleichzeitig Regie führte. Ich zähle zusammen: 93 Männer als Autoren und Regisseure, dagegen nur 11 Frauen.
Dieses Ergebnis meiner Berechnung bestürzte mich.
Danach wollte ich eine mutige Gegenrechnung aufmachen und rief mir die umfangreichen Leistungen der zahlreichen im Theaterbereich arbeitenden Frauen unseres lateinamerikanischen Kontinents ins Gedächtnis. Die erste, die mir einfiel, war Grisela Gambaro in Argentinien. Daß sie an der Spitze der argentinischen Theaterarbeit stand, beruhigte mich nicht, denn bei ihr handelt es sich um einen Einzelfall. Ich versuchte vergeblich, mich an andere Dramaturginnen zu erinnern, die man mit ihr vergleichen könnte.
Ich dachte an Peru, und sofort fiel mir Yuyashkani ein, diese mutige Theatergruppe mit jenen hervorragenden beiden Frauen Teresa und Ana. Dennoch erstaunte es mich, daß ich mich nicht an ihre vollständigen Namen erinnern konnte, wohl aber an den des Leiters der Gruppe, Miguel Rubio. Danach ging ich ins „La Candelaria „, wo meine eigene Theatergruppe so liebenswürdig von Santiago y Patricia empfangen worden war. Patricia, die Frau von Santiago Garcia, Garcia, der Direktor des „Candelaria“… aber Patricia was? Und war sie nicht zufällig Kodirektorin des Theaters mit ihrem Mann zusammen? Oder irrte ich mich? …Ich war durcheinander… Und mir fiel plötzlich Maria Escudero ein, sie mit ihrem vollständigen Namen. Sie lebt schon seit langem nicht mehr in Argentinien, seit der letzten Diktatur. Sie ging nach Ekuador, und dort blieb sie dann. Vielleicht unternimmt sie in diesem Augenblick ein neues Abenteuer mit einer Theatergruppe…Abenteuer, die um so mehr Geltung besitzen, weil sie ihr weder Geld noch Ruhm noch Ansehen eingebracht haben. Das Stichwort „Ansehen“ rief mir hingegen fast sofort einige Leiter lateinamerikanischer Theatergruppen ins Gedächtnis: Barba, Foreman, Schechner, Brook, Buenaventura, Boal… Sie leiten Theatergruppen wie Maria Escudero. Freilich, es gab eine europäische Ausnahme, Adrianne Mnoushki. Ich gab mich geschlagen. Dann stellte ich mir die Frage, ob die Schwester von Shakespeare noch nicht geboren sei? Hatte Virginia Woolf recht gehabt mit dieser glücklichen Metapher? Und doch bin ich überzeugt, daß wir zu ebensoviel Kühnheit, ebensoviel Phantasie und ebensoviel Ungeduld fähig sind wie er.
Wenden wir uns den Persönlichkeiten des Theaters von damals und von heute zu. Den großen Heldinnen, auch denen der Literatur: Freda, Antigone, Celestina, Madame Bovary, Nora, Ana Karenina, Ophelia, Lady Macbeth, Mariana Pineda, alle aus der Hand von Männern erschaffen. Das würde mich nicht beunruhigen, wenn wir heute unsere eigenen Heldinnen schöpfen würden und uns nicht darin verstrickten, die der Männer nachzuahmen. „Ich fühle, daß mir das einen Zwang auferlegt. Ich bin nicht ich, das ist nicht mein Gestus“ flüstert Katherine Mansfield in ihrem intimen Tagebuch…
Und auch ich beklage mich, wenn in den Dramaturgie-Werkstätten, an denen ich teilnehme, meine Kollegen sich meiner Kindheit und Jugend bemächtigen, wenn sie durch meine alten und jüngeren Erinnerungen spazieren und mit einer bewundernswerten Ungezwungenheit in mich hineinschauen und nicht in sich selbst… Es ist logisch, daß ich mich gegen sie wende und mich beschwere: „Das bin nicht ich, das ist nicht mein Gestus“. Warum beschäftigst du dich nicht mit dir? Warum gibst du mir nicht den Schlüssel zu deinen Träumen? Ja, ich weiß, was es bedeutet, in Tränen oder in Lachen auszubrechen, denn dort bin ich ganz ich, und die, die man nennt, trägt meinen Namen. Dann ist es so, daß ich weine oder lache, ohne es zu merken: mit der Mariana von Elena Garro, mit der Emma von Griselda Gambaro, mit der Maria Magdalena von Marguerite Yourcenar.
Dabei ist nie zu vergessen, daß die weiblichen Inhalte von beiden Geschlechtern mit der gleichen Fähigkeit und Stärke abgehandelt werden können, auch mit ähnlichem Interessen, natürlich ebenso die männlichen Inhalte. Es ist nur wichtig zu fragen, warum und für wen ich schreibe.
Fest steht, daß wenn Shakespeares Schwester noch nicht geboren ist, dies nicht nur an den engen Grenzen liegt, in denen wir uns bewegen, und die schon zur Genüge beschrieben sind, sondern auch an den Entscheidungen, die wir nicht bereit waren zu treffen. Ja, sie haben gewählt, wie sie jeden Tag leben wollten, die Gestalt jeder Aufgabe und jeder Untersuchung, sie, die weder in der Nacht noch am Morgen Ruhe fanden, immer bedacht auf die Vollendung ihres Werks: es sind Juana Ines de la Cruz oder Frida Kahlo, jede von uns kennt die Namen dieser Frauen, die uns formen.
Wir haben keine Gelegenheit zu Entschuldigungen, Vorwänden und Plädoyers: wir rechnen mit unseren ökonomischen Mitteln und einem eigenen Zimmer. Wir kennen unsere Grenzen mehr als genug. Grenzen, die andererseits nicht unsere allein sind: auch Van Gogh und Camille Claudel haben sie kennengelernt. Es ist also notwendig, daß wir erkunden, wer wir sind und wer wir sein wollen. Um es in Werke hineinzuschreiben, die ohne Lüge etwas über uns berichten können, so wie es Virginia Woolf sagt: „Wir schulen uns in der Freiheit und dem Mut, genau das zu sagen, was wir denken.“
Und wenn wir annehmen, daß wir wirklich allein sind, daß jede von uns allein ist ohne einen Arm, auf den sie sich stützen kann, und wir keinen Stock wollen…werden jene Kinderbeinchen, jene kleinen Mädchen am Rande des Brunnens sich die Gewißheit zu eigen machen, daß sie allein durch die Welt gehen können. Ohne Klagen -wozu sind Klagen gut- mit dem Tun unserer kleinen alltäglichen Geschichte. Wie werden eine Geschichte mit uns führen, unsere eigene, die unserer Mütter und Großmütter, die unserer Töchter und Schwestern… beginnen wir gleich jetzt damit, sie zu erzählen…So viele Geschichten von uns, die wir noch nicht erzählt haben…so viele, die wir uns noch nicht trauen zu…so viele Geheimnisse unaufhaltsamen Gesprächs und Austauschs.
* Beitrag auf den 22. Nationalen Theatertagen Mexikos vom 2.-10. November 1991 in Aguascalientes.
Übersetzt und bearbeitet von Gabi Pisarz.