Costa Rica verfügt über eine blühende Literatur- und Theaterszene. Allein in der Hauptstadt San José gibt es mehr als ein Dutzend Kleinbühnen. Bücher erscheinen in ausreichender Menge (Erstauflagen zwischen 2000 und 5000 Exemplaren) und in hervorragender Qualität. Eigentlich ist es seltsam, daß die Literatur Costa Ricas von deutschsprachigen Verlagen ignoriert wird und nicht ein einziges Werk in deutscher Übersetzung erhältlich ist, erlebt das Land doch andererseits einen Touristenansturm aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wie so oft haben die Amerikaner die Nase vorn: Der Autor, Anthologist und Literaturprofessor Alfonso Chase (geb. 1945) arbeitet an einer nach Regionen gegliederten Anthologie costarikanischer Erzählungen, die als „Literary guide to Costa Rica“ an einer nordamerikanischen Universität in englischer Sprache erscheinen soll.
Historische Romane
Im Jahr 1992 erregte ein neuer Roman von Al-berto Cañas (geb. 1920), „Los molinos de Dios“ („Gottes Mühlen“), beträchtliches Aufsehen. Das Werk reflektiert 130 Jahre costarikanischer Geschichte, das „goldene Zeitalter“ der Kaffeepflanzer, die zumeist aus Deutschland stammen. Die Kritiker feierten das Werk, jüngere Kollegen verwarfen es jedoch als traditionell, in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehend sowie als geschichtsverfälschend, wobei besonders seine Darstellung der Revolutionsereignisse von 1948 auf Widerspruch stieß. Dem hielt der Autor entgegen: „Wenn man unter traditionell verständlich versteht, dann ist mein Roman ein traditionelles Werk. Ein Roman muß für den Leser verständlich sein, sonst ist er wertlos. Der Leser darf das Buch nach einigen Seiten nicht aus der Hand legen oder andauernd zurückblättern und sich fragen, von welcher Person gerade die Rede ist. (…) Meine Werke sind literarische, keine journalistischen Werke, sie besitzen einen literarischen Wahrheitsgehalt, keinen journalistischen. (…) Ich wollte zeigen, wie die Kaffeepflanzer und -händler die Gesellschaft beeinflußten und führten. Sie taten dies in anderer Weise als die ausländischen Besitzer der Bananenplantagen. Sie präsentierten und unterstützten immer Intellektuelle, z.B. Anwälte als Präsidenten oder Präsidentschaftskandidaten. Niemals Obristen. Sie installierten zivile Präsidenten, die sie dann jedoch selbständig regieren ließen. Anders Mr. Keith und die United Fruit Company. Deren Rolle beim Staatsstreich von 1917, den sie organisierten, steht heute außer Frage. (…) Mein Roman ist keine Anklage.“
Ebenfalls 1992 erschien der Roman „Asalto al paraiso“ von Tatiana Lobo Wiehoff. Die Autorin wurde 1939 in Chile geboren, ging mit 24 Jahren nach Deutschland und lebt seit 1966 in Costa Rica. „Angriff auf das Paradies“ – so die Übersetzung des Titels – nimmt die Problematik der 500-Jahr-Feiern der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus zum Anlaß für eine kritische Auseinandersetzung mit der Ankunft der Spanier in Amerika und der Zerstörung, die sie hinterließen. Tatiana Lobo Wiehoff beschreibt den Aufstand, den der Indio Presbere im Talamanca-Gebirge gegen die Spanier organisiert und der von diesen blutig niedergeschlagen wird. Presbere wird Pedro Albarán aus Cadiz gegenübergestellt, der in der Neuen Welt ein besseres Leben sucht. Inhaltlich und formal erinnert das Werk an die Gattung der novela picaresca (Kapitel 2: „über die ersten Tage, die Pedro Albarän in einem Ort der Neuen Welt verbringt und von den Einwohnern, die ihm geschwätzig und spottsüchtig erscheinen“). Neben Cañas‘ Kaffe-Saga „Gottes Mühlen“ ist „Angriff auf das Paradies“ der zweite wichtige historische Roman, der eine herausragende Stellung in der costarikanischen Literaturgeschichte einnehmen wird.
Ein „ökologischer“ Roman
Im Februar 1993 erschien bereits die 3. Auflage des Romans „La loca de Gandoca“ von Anacristina Rossi (geb. 1952). Dieser Roman ist eher ein journalistisches, weniger ein belletristisches Werk. Es erzählt eine wahre und haarsträubende Geschichte über den negativen Einfluß des Tourismus auf die Umwelt, über die Zerstörung eines karibischen Naturparadieses. Vergeblich versucht die Protagonistin ein unter Naturschutz stehendes Strandgebiet und Korallenriff vor dem Zugriff internationaler Investoren zu retten, denen es durch Bestechung gelingt, ein riesiges Touristenzentrum aus dem Boden zu stampfen. Gandoca an der Atlantikküste ist nicht der einzige Ort, der in dieser Hinsicht traurige Berühmtheit erlangt hat. Auch in der Nähe von Paquera auf der Nicoya- Halbinsel an der Pazifikküste wurde von der spanischen Gruppe Barceló illegal ein riesiges Hotel errichtet, das sich bei Touristen großer Beliebtheit erfreut und mittlerweile Eingang in die Kataloge deutscher Reiseveranstalter gefunden hat.
Literatur von Frauen
Bücher von Frauen haben in Costa Rica eine lange Tradition. Hierbei handelt es sich nicht in erster Linie um Frauenliteratur, Literatur für Frauen oder feministische Literatur. In der costarikanischen Literatur(geschichte) spielt die Frau traditioneller Weise eine bedeutende Rolle. An dieser Stelle seien nur einige Namen erwähnt, die in Costa Rica jeder literarisch Interessierte kennt: Maria lsabel Carvajal (Pseudonym Carmen Lyra 1888-1949), Caridad Salazar de Robles (Pseudonym Cira 1895-?), Yolanda Oreamuno (1916-1956), Julieta Pinto (geb. 1922), Victoria Urbano (geb. 1928) oder Carmen Naranjo (geb. 1931).
1993 veröffentlichte die Autorin Linda Berrón (geb. 1951) den Erzählband „Relatos de Mujeres. Antologia de Narradoras de Costa Rica“. Es handelt sich hierbei um das erste Buch des neu gegründeten Frauenverlages Editorial Mujeres, dessen Leiterin ebenfalls Linda Berrön ist. Dieser sehr heterogene Band vereint 33 Erzählungen von 24 bekannten und unbekannten Autorinnen. Die Herausgeberin verknüpft mit der Edition dieser Erzählungen die Hoffnung, daß weitere potentielle Erzählerinnen ermuntert werden, „das (geschriebene) Wort zu entdecken“. Die Themen des Sammelbandes reichen von der Mann-Frau-Beziehung über die Arbeitswelt bis hin zur Abtreibungsproblematik. Einige Beiträge sind lyrisch oder humorvoll, andere sind Zeugnisse der Wut und klagen Mißstände an.
Linda Berrón führt den „Boom“ der Bücher von Frauen in Costa Rica auf die Vorarbeit von Schrittmacherinnen zurück. Sie nennt die Monographie „La mujer costarricense a traves de cuatro siglos“ (1969) von Angela Acuña sowie die „Antologia del ensayo femenino en Costa Rica“ (1976), die von Leonor Garnier herausgegeben wurde. Als Huldigung an eine dieser Wegbereiterinnen erscheint auf dem Co-ver des Bandes der durchdringende Blick von Yolanda Oreamuno, der Schriftstellerin, die für viele jüngere Kolleginnen zum Vorbild wurde.
„Relatos de mujeres“ könnte man die Anthologie „Para no cansarlos con el cuento. Narrativa costarricense actual“ gegenüberstellen, die 1989 von Rodrigo Soto (geb. 1962), Carlos Cortes (geb. 1962) und Vernor Muñoz (geb. 1960) herausgegeben wurde. Es handelt sich um eine Sammlung von zeitgenössischen Erzählungen des Landes, die fast alle Autoren und Autorinnen der jüngeren Generation (Jahrgänge 1950-1960) vereint, deren wichtigster Vertreter Rodrigo Soto ist. Es fällt jedoch auf, daß von den 16 Autoren (21 Erzählungen) nur zwei Frauen sind: Dorelia Barahona und Anacristina Rossi – Schriftstellerinnen, die in keiner Anthologie fehlen dürfen.
„Eine Allegorie über die Revolution“
Neben seinem Erzählband „Mitomanias“ (1983) hat Rodrigo Soto die beiden Romane
„La estrategia de la arana“ (1985) und „Mun-dicia“ (1992) veröffentlicht. In dem Band „Para no cansarlos con el cuento. Narrativa costarricense actual“ ist seine bemerkenswerte Erzählung „La torre abolida“ aufgenommen. Darin schildert er den vergeblichen Kampf zweier Ehepaare gegen den von der Gesellschaft beschlossenen Abriß eines Turmes, der wichtige Erinnerungen und Erinnerungsstücke in sich birgt. Soto bezeichnet seine Erzählung als eine politische Allegorie, als „eine Allegorie über die Revolution aus der Sicht der Verlierer“. Der „abgeschaffte Turm“ repräsentiere die Geschichte, die Sprache erinnere an Kafka, der Inhalt eher an Cortázar. Die im Turm aufbewahrten Gegenstände sowie die beschriebene Landschaft seien typisch für Costa Rica.
Alle Autoren und Autorinnen betonten die (literarische) Abschottung Costa Ricas von anderen Ländern. Das Land spiele keine bedeutende Rolle in der lateinamerikanischen Literatur. Man kenne und lese zwar die wichtigsten Autoren und Autorinnen des Subkontinents, die Literaturen der zentralamerikanischen Nachbarländer seien jedoch gänzlich unbekannt. Die costarikanische Gesellschaft unterscheide sich in vielen Punkten von der El Salvadors oder Nikaraguas. Folglich sei auch die Literatur des Landes eine andere: Es handele sich um ein anderes Bild Lateinamerikas, das sich von dem, das der europäische Leser in den letzten 30 Jahren kennengelernt hat, grundsätzlich unterscheide. Die Indio- und Guerrilla-Thematik fehle ebenso wie der Diktatoren-Roman. Die Autoren griffen in der Regel eine städtische, moderne Thematik auf, da die costarikanische Gesellschaft eine zivile, europäisierte Gesellschaft sei.
Es bleibt zu hoffen, daß auch hierzulande Verleger den Mut finden, die Literatur Costa Ricas dem deutschsprachigen Leser zugänglich zu machen, um einen Beitrag zur Korrektur des in Deutschland vorherrschend negativen Lateinamerika-Bildes zu leisten. Und was wäre dazu besser geeignet, als Originalstimmen des Landes?