Ich habe die Geschichte von einem Mann, der Geschichten erzählt. Ich habe ihm mehrmals gesagt, daß ich seine Geschichte nicht glaube. »Sie lügen«, habe ich gesagt, »Sie schwindeln, Sie phantasieren, Sie betrügen.«
Das beeindruckte ihn nicht. Er erzählte ruhig weiter, und als ich rief: »Sie Lügner, Sie Schwindler, Sie Phantast, Sie Betrüger!«, da schaute er mich lange an, schüttelte den Kopf, lächelte traurig und sagte dann so leise, daß ich mich fast schämte: »Amerika gibt es nicht.« Ich versprach ihm, um ihn zu trösten, seine Geschichte aufzuschreiben: Sie beginnt vor fünfhundert Jahren am Hofe eines Königs, des Königs von Spanien. Ein Palast, Seide und Samt, Gold, Silber, Barte, Kronen, Kerzen, Diener und Mägde; Höflinge, die sich im Morgengrauen gegenseitig den Degen in die Bäuche rennen, die sich am Abend zuvor den Fehdehandschuh vor die Füße geschmissen haben. Auf dem Turm fanfarenblasende Wächter. Und Boten, die vom Sattel springen, und Boten, die sich in die Sattel werfen, Freunde des Königs und falsche Freunde, Frauen, schöne und gefährliche, und Wein und um den Palast herum Leute, die nichts anderes wußten, als all das zu bezahlen.
Aber auch der König wußte nichts anderes, als so zu leben, und wie man auch lebt, ob in Saus und Braus oder Armut, ob in Madrid, Barcelona oder irgendwo, am Ende ist täglich dasselbe, und man langweilt sich. So stellen sich die Leute, die irgendwo wohnen, Barcelona schön vor, und die Leute von Barcelona möchten nach Irgendwo reisen.
Die Armen stellen es sich schön vor, wie der König zu leben, und leiden darunter, daß der König glaubt, arm sein sei für die Armen das richtige.
Am Morgen steht der König auf, am Abend geht der König ins Bett, und tagsüber langweilt er sich mit seinen Sorgen, mit seinen Dienern, seinem Gold, Silber, Samt, seiner Seide, langweilt sich mit seinen Kerzen. Sein Bett ist prunkvoll, aber man kann auch nicht viel anderes tun als schlafen.
Die Diener machen am Morgen tiefe Verbeugungen, jeden Morgen gleich tief, der König ist daran gewöhnt und schaut nicht einmal hin. Jemand gibt ihm die Gabel, jemand gibt ihm das Messer, jemand schiebt ihm den Stuhl zu, und die Leute, die mit ihm sprechen, sagen Majestät und sehr viele schöne Worte dazu und sonst nichts.
Nie sagt jemand zu ihm: »Du Trottel, du Schafskopf«, und alles was sie ihm heute sagen, haben sie ihm gestern schon gesagt.
So ist das.
Und deshalb haben die Könige Hofnarren.
Die dürfen tun, was sie wollen, und sagen, was sie wollen, um den König zum Lachen zu bringen, und wenn er über sie nicht mehr lachen kann, bringt er sie um oder so.
So hatte er einmal einen Narren, der verdrehte die Worte. Das fand der König lustig. Der sagte »Stajesmät« statt »Majestät«, der sagte »Lapast« statt »Palast« und »Tuten Gat« statt »Guten Tag«.
Ich finde das blöd, aber der König fand das lustig. Ein ganzes halbes Jahr fand er es lustig, bis zum siebten Juli, und am achten, als er aufstand und der Narr kam und »Tuten Gat, Stajesmät« sagte, sagte der König: »Schafft mir den Narren vom Hals!«
Ein anderer Narr, ein kleiner Dicker, Pepe hieß der, gefiel dem König sogar nur vier Tage lang, der brachte den König damit zum Lachen, daß er auf die Stühle der Damen und Herren, der Fürsten und Herzöge, Freiherren und Ritter Honig strich. Am vierten Tag strich er Honig auf den Stuhl des Königs, und der König mußte nicht mehr lachen, und Pepe war kein Narr mehr.
Nun kaufte sich der König den schrecklichsten Narren der Welt. Häßlich war er, dünn und dick zugleich, lang und klein zugleich, und sein linkes Bein war ein O-Bein. Niemand wußte, ob er sprechen konnte und absichtlich nicht sprach oder ob er stumm war. Sein Blick war böse, sein Gesicht mürrisch; das einzig Liebliche an ihm war sein Name: er hieß Hänschen.
Das Gräßlichste aber war sein Lachen. Es begann ganz klein und gläsern ganz tief im Bauch, gluckste hoch, ging langsam über in ein Rülpsen, machte Hänschens Kopf rot, ließ ihn fast ersticken, bis er losplatzte, explodierte, dröhnte, schrie; dann stampfte er dazu und tanzte und lachte; und nur der König freute sich daran, die anderen wurden bleich, begannen zu zittern und fürchteten sich. Und wenn die Leute rings um das Schloß das Lachen hörten, sperrten sie Türen und Fenster zu, schlössen die Läden, brachten die Kinder zu Bett und verschlossen sich die Ohren mit Wachs.
Hänschens Lachen war das Fürchterlichste, was es gab.
Der König konnte sagen, was er wollte, Hänschen lachte.
Der König sagte Dinge, über die niemand lachen kann, aber Hänschen lachte. Und eines Tages sagte der König: »Hänschen, ich hänge dich auf.«
Und Hänschen lachte, brüllte los, lachte wie noch nie.
Da beschloß der König, daß Hänschen morgen gehängt werden soll. Er ließ einen Galgen bauen, und es war ihm ernst mit seinein Beschluß, er wollte Hänschen vor dem Galgen lachen hören. Dann befahl er allen Leuten, sich das böse Schauspiel anzuschauen. Die Leute versteckten sich aber und verriegelten ihre Türen, und am Morgen war der König mit dem Henker, mit den Knechten und dem lachenden Hänschen allein.
Und er schrie seinen Knechten zu: »Holt mir die Leute her!« Die Knechte suchten die ganze Stadt ab und fanden niemanden, und der König war zornig, und Hänschen lachte.
Da endlich fanden die Knechte einen Knaben, den schleppten sie vor den König. Der Knabe war klein, bleich, schüchtern, und der König wies auf den Galgen und befahl ihm zuzuschauen. Der Knabe schaute zum Galgen, lächelte, klatschte in die Hände, staunte und sagte dann: »Sie müssen ein guter König sein, daß sie ein Bänklein für die Tauben bauen; sehn Sie, zwei haben sich bereits daraufgesetzt.«
» Du bist ein Trottel«, sagte der König, »wie heißt du?«
»Ich bin ein Trottel, Herr König, und ich heiße Colombo, meine Mutter nennt mich Colombin.«
» Du Trottel«, sagte der König, »hier wird jemand gehängt.«
»Wie heißt er denn?« fragte Colombin, und als er den Namen hörte, sage er: »Ein schöner Name, Hänschen heißt er also. Wie kann man einen Mann, der so schön heißt, aufhängen?«
»Er lacht so gräßlich«, sagte der König, und er befahl dem Hänschen zu lachen, und Hänschen lachte doppelt so gräßlich wie gestern.
Colombin staunte, dann sagte er: »Herr König, finden Sie das gräßlich?« Der König war überrascht und konnte nicht antworten, und Colombin fuhr fort: »Mir gefällt sein Lachen nicht besonders, aber die Tauben sitzen immer noch auf dem Galgen; es hat sie nicht erschreckt; sie finden das Lachen nicht gräßlich. Tauben haben ein feines Gehör. Man muß Hänschen laufen lassen.«
Der König überlegte und sagte dann: »Hänschen, scher dich zum Teufel.« Und Hänschen sprach zum ersten Mal ein Wort. Er sagte zu Colombin: »Danke!« und lächelte dazu ein schönes menschliches Lächeln und ging.
Der König hatte keinen Narren mehr. »Komm mit«, sagte er zu Colombin. Des Königs Diener und Mägde, die Grafen und alle glaubten aber, Colombin sei der neue Hofnarr. Doch Colombin war gar nicht lustig. Er stand da und staunte, sprach selten ein Wort und lachte nicht, er lächelte nur und brachte niemanden zum Lachen. »Er ist kein Narr, er ist ein Trottel«, sagten die Leute, und Colombin sagte: »Ich bin kein Narr, ich bin ein Trottel.« Und die Leute lachten ihn aus.
Wenn der König das gewußt hätte, wäre er böse geworden, aber Colombin sagte ihm nichts davon, denn es machte ihm nichts aus, ausgelacht zu werden. Am Hofe gab es starke Leute und gescheite Leute, der König war ein König, die Frauen waren schön und die Männer mutig, der Pfarrer war fromm und die Küchenmagd fleißig – nur Colombin, Colombin war nichts.
Wenn jemand sagte: »Komm Colombin, kämpf mit mir«, sagte Colombin: »Ich bin schwächer als du.«
Wenn jemand sagte: »Wieviel gibt zwei mal sieben?«, sagte Colombin: »Ich bin dümmer als du.«
Wenn jemand sagte: »Getraust du dich, über den Bach zu springen«, sagte Colombin: »Nein ich getraue mich nicht.«
Und wenn der König fragte: »Colombin, was willst du werden?«, antwortete Colombin: »Ich will nichts werden, ich bin schon etwas, ich bin Colombin.«
Der König sagte: »Du mußt etwas werden«, und Colombin fragte: »Was kann man werden?«
Da sagte der König: »Jener Mann mit dem Bart, mit dem braunen, ledernen Gesicht, das ist ein Seefahrer. Der wollte Seefahrer werden und ist Seefahrer geworden, er segelt über die Meere und entdeckt Länder für seinen König.«
»Wenn du willst, mein König«, sagte Colombin, »werde ich Seefahrer.« Da mußte der ganze Hof lachen. Und Colombin rannte weg, fort aus dem Saal und schrie: »Ich werde ein Land entdecken, ich werde ein Land entdecken!«
Die Leute schauten sich an und schüttelten die Köpfe, und Colombin rannte aus dem Schloß, durch die Stadt und über das Feld, und den Bauern, die auf den Feldern standen und ihm nachschauten, rief er zu: »Ich werde ein Land entdecken, ich werde ein Land entdecken!«
Und er kam in den Wald und versteckte sich wochenlang unter den Büschen, und wochenlang hörte niemand etwas von Colombin, und der König war traurig und machte sich Vorwürfe, und die Hofleute schämten sich, weil sie Colombin ausgelacht hatten. Und sie waren froh, als nach Wochen der Wächter auf dem Turm die Fanfare bließ und Colombin über die Felder kam, durch die Stadt kam, durchs Tor kam, vor den König trat und sagte:
»Mein König, Colombin hat ein Land entdeckt!«
Und weil die Hofleute Colombin nicht mehr auslachen wollten, machten sie ernste Gesichter und fragten: »Wie heißt es denn, und wo liegt es?« »Es heißt noch nicht, weil ich es erst entdeckt habe, und es liegt weit draußen im Meer«, sagte Colombin.
Da erhob sich der bärtige Seefahrer und sagte: »Gut, Colombin, ich, Amerigo Vespucci, gehe das Land suchen. Sag mir, wo es liegt.« »Sie fahren ins Meer und dann immer geradeaus, und sie müssen fahren, bis sie zu dem Land kommen, und sie dürfen nicht verzweifeln«, sagte Colombin, und hatte fürchterliche Angst, weil er ein Lügner war und wußte, daß es das Land nicht gibt, und er konnte nicht mehr schlafen, Amerigo Vespucci aber machte sich auf die Suche.
Niemand weiß, wohin er gefahren ist. Vielleicht hat er sich auch im Wald versteckt.
Dann bliesen die Fanfaren, und Amerigo kam zurück.
Colombin wurde rot im Gesicht und wagte den großen Seefahrer nicht anzuschauen. Vespucci stellte sich vor den König, blinzelte Colombin zu und sagte laut und deutlich, so daß es alle hören konnten: »Mein König«, so sagte er, »mein König, das Land gibt es.«
Colombin war so froh, daß ihn Vespucci nicht verraten hatte, daß er auf ihn zulief, ihn umarmte und rief: »Amerigo, mein lieber Amerigo!«
Und die Leute glaubten, das sei der Name des Landes, und sie nannten das Land, das es nicht gibt, »Amerika«.
»Du bist jetzt ein Mann«, sagte der König zu Colombin, »von nun ab heißt du Kolumbus.«
Und Kolumbus wurde berühmt, und alle bestaunten ihn und flüsterten sich zu: »Der hat Amerika entdeckt.«
Und alle glaubten, daß es Amerika gibt, nur Kolumbus war nicht sicher, sein ganzes Leben zweifelte er daran, und er wagte den Seefahrer nie nach der Wahrheit zu fragen. Bald fuhren aber andere Leute nach Amerika und bald sehr viele; und die, die zurückkamen, behaupteten: »Amerika gibt es!«
»Ich«, sagte der Mann, von dem ich die Geschichte habe, »ich war noch nie in Amerika. Ich weiß nicht, ob es Amerika gibt. Vielleicht tun die Leute nur so, um Colombin nicht zu enttäuschen. Und wenn zwei sich von Amerika erzählen, blinzeln sie sich heute noch zu, und sagen fast nie Amerika, sie sagen meistens etwas Undeutliches von >Staaten< oder >Drüben< oder so.« Vielleicht erzählt man den Leuten, die nach Amerika wollen, im Flugzeug oder im Schiff die Geschichte von Colombin, und dann verstecken sie sich irgendwo und kommen später zurück und erzählen von Cowboys und von Wolkenkratzern, von den Niagarafällen und vom Mississippi, von New York und von San Francisco.
Auf jeden Fall erzählen alle dasselbe, und alle erzählen Dinge, die sie vor der Reise schon wußten; und das ist doch sehr verdächtig.
Aber immer noch streiten die Leute darüber, wer Kolumbus wirklich war.
Ich weiß es.
aus: Peter Bichsel, Kindergeschichten.
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