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Der choque der Zivilisationen in Choquequirao

Sven Schaller | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Choquequirao - Foto: Quetzal-Redaktion, sccDie rätselhaften Kartenspieler von Choquequirao - Foto: Quetzal-Redaktion, ssc/auIm Schneidersitz sitzen sie sich gegenüber, die Hände nach vorn gestreckt, den Blick nach schräg unten gerichtet. Die vier Personen bildeten ein Kreuz. Alle 15 Minuten erheben sie sich unisono und bewegen sich im Uhrzeigersinn eine Position weiter. Sie nehmen wieder Platz. Die Zeremonie beginnt von vorn.

Kopfschüttelnd wendet sich José, einer der Archäologen im Komplex Choquequirao, an Peña, den Pferdetreiber. „Jetzt geht es hier auch schon los. Noch nicht mal vollständig ausgegraben, kommen die Esoteriker schon her und suchen nach der Kraft der Inkas. Warum können die nicht in Machu Picchu bleiben und uns in Ruhe arbeiten lassen?“ Zustimmendes Gemurmel. Diese Gesprächsfetzen hat auch Otto aufgeschnappt, ein ausgewanderter Deutscher, der sich mit Gelegenheitsjobs und als Tourismusführer am Leben erhält. Er unterbricht seine Arbeit, führt die Hand als Sonnenschutz an die Augen und schaut hinauf zum Zeremonienplatz, wo sich die Gruppe weiterhin diesem rätselhaften Ritual hingibt.

Dann fängt er plötzlich an zu lachen. „Mensch, Leute“, ruft er den neugierig gewordenen Archäologen zu, „das sind keine Esoteriker. Das sind todsicher Deutsche. Sie spielen Karten. Und alle Viertelstunde drehen sie sich eine Position weiter, damit sie sich nicht die Nasen verbrennen und eine andere Aussicht genießen können. Keine Sorge! Esoteriker sind das nicht!“

Er sollte Recht behalten. Am Abend kommen die Kartenspieler und die Archäologen zusammen, wie Angehörige zweier Zivilisationen aus getrennten Welten: Die einen suchen den richtigen Trumpf, die anderen den Trumpf im Sumpf. Sie schütteln sich kräftig die Hände, teilen dann Speis und Trank, plaudern miteinander. Endlich fragt José: „Wie kommt ihr eigentlich hierher?“ In der Tat stellen sich diese Frage die meisten der Archäologen, gilt Choquequirao ANNO 2002 doch noch als Geheimtipp für Touristen. Die Gespräche ersterben. Alle warten gespannt auf die Antwort. „Na, mit dem Flugzeug und dann mit dem Bus und noch einem Bus und noch einem, dann mit dem Taxi und den Rest zu Fuß“, entgegnet der „Dünne“. Und das stimmte. Denn für die Deutschen war es nicht nur eine kleine Weltreise bis Peru, sondern eine zweite von Lima bis nach Cachora, dem kleinen Dorf in der Nähe von Abancay, mitten in den peruanischen Anden. Von dort mussten die Deutschen noch 30 Kilometer und über 3000 Höhenmeter überwinden, um endlich die majestätische Anlage von Choquequirao zu erblicken. „Und warum spielt ihr nach so einer Reise Karten und erschreckt die Leute?“, fragt Peña unverblümt. „Tja, das liegt uns eben im Blut“, entgegnet der „Lange“.

Und so sitzen die Deutschen inmitten der neugierigen Peruaner und erzählen vom Leben hier und dort, vom Jetzt und der Zukunft. Dann wendet sich der „Dünne“ an José: „Sag mal, stimmt es, dass erst 30 Prozent der Anlage freigelegt sind?“ „Ja, wir graben hier zwar schon seit 30 Jahren, aber eher sporadisch. Der Staat hat eben kein Geld. Und deshalb ist das meiste nach wie vor unter der dichten Vegetation verborgen“, grummelt er zur Antwort. Dann fügt er hinzu: „Vielleicht ist das auch gut so. Schau mal, wie Machu Picchu von den Touristenströmen überrannt wird. Da bleibt bald nicht mehr viel übrig. Hier kommen im Jahr nur etwa 3000 Touristen – so wie ihr.“

Der Komplex Choquequirao in Peru - Foto: Quetzal-Redaktion, sscInzwischen ist es tiefe Nacht geworden. Das Kreuz des Südens beherrscht den Himmel. Und die Deutschen verziehen sich in ihre Zelte. Nur der „Dünne“ bummelt durch die Nacht hin zu den beiden Steinhäusern, die wahrscheinlich den Inkas als Speicher gedient haben. Trotz der bitteren Kälte hockt er sich auf die dahinter liegende Mauer und schaut 1300 Meter hinab auf den Río Apurímac, der sich wie ein silberner Faden, das Mondlicht reflektierend, im Tal windet. Wie eigenartig, denkt er: Haben die Inkas Choquequirao mit dem gleichen geübten Blick ausgewählt wie Machu Picchu? Findet sich nicht auch dieser Komplex so strategisch exzellent gelegen – auf einem Bergrücken, den Blicken aus dem Tal entzogen, fernab der Routen, mit genügend Platz für Terrassen zur Selbstversorgung, mit ausreichend Trinkwasser durch Kanäle, die von den schneebedeckten Anden gespeist werden, und mit den heiligen Bergen und dem Apu von Salcantay in Reichweite?

Es wird wohl so sein. Die Auswahl dieses Bergrückens auf 3085 Metern über dem Meeresspiegel, in dieser Lage – das ist kein Zufall. Aber wer hat Choquequirao eigentlich erbaut. Sprachen die Archäologen nicht davon, dass der Komplex ihrer Meinung nach nicht unter Pachacútec, sondern unter Tupac Yupanqui errichtet wurde. Das wäre dann gegen Ende des 15. Jahrhundert gewesen. Und als ich fragte, ob der Name darauf Hinweise gäbe, sagten sie, dass der ursprüngliche Name bei den Inkas gar nicht überliefert sei. Genau, das haben sie gesagt. Choquequirao wäre eher eine Mischung aus Aymara und Quechua und bedeutet „Wiege des Goldes“. Wenngleich: Der eine indígena erzählte davon, dass so der nahegelegene Berg heißt – und nur deshalb hätte man der Anlage den gleichen Namen gegeben.

Dem dünnen Deutschen schwirren die Gedanken, Jahre und Geschichten nun wild durch den Kopf: Inka-Priester, Eroberung von Cusco, 1534, Zufluchtsort, Vilcabamba, 1572, Condor, Contra, U90, morgen zurück, bitter kalt. Er beschließt, sich für ein paar Stunden in den Schlafsack zu verkriechen.

Am nächsten Morgen staunen die Deutschen nicht schlecht, als sie den Pferdetreiber Peña und einige Freunde aus dem Dorf Cachora erblicken. „Hey, was macht ihr da?“ „Wir bauen gerade das Eintrittshäuschen. Ab nächstes Jahr kassieren wir hier nämlich Eintritt. Außerdem sind gerade die Pferde zwischen den Inka-Hütten weiden.“ „Ja, wenn das so ist, dann spielen wir eben Karten, bis die Pferde zurückkommen.“ Und so setzen sich die vier im Schneidersitz nieder, bilden ein Kreuz, werfen die Karten und bewegen sich diesmal nicht alle 15 Minuten weiter. Die Archäologen lachen nur über diesen choque der Zivilisationen. Für sie ist es ein „Choque–(a)qui–ra(r)o“, „ein komisches Zusammentreffen hier“.

Das Kassenhaus von Choquequirao im Jahr 2002... - Foto: Quetzal-Redaktion, ssc Das Kassenhaus von Choquequirao im Jahr 2003... - Foto: Quetzal-Redaktion, ssc

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Bildquellen: [1], [3]-[5] Quetzal-Redaktion, ssc; [2] Quetzal-Redaktion, ssc/au

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