Gotama wurde als Prinz in das Geschlecht der Sakya geboren. Seine Forste säumten meilenweit die Ausläufer des Himalaya. Seine Schätze wurden von Legionen von Soldaten bewacht. Tausende weißhäutige Sklavinnen glänzten liliengleich in der Wonne seiner Harems. Seine Gemahlin Yasodhara hatte ihm einen Sohn geschenkt und in seinem strahlend weißen Marmorpalast verlief sein Leben so beschaulich wie ein sanft dahinfließender Fluss.
Des Königs Astrologen stellten am Tag von Gotamas Geburt sein Horoskop. Voller Erstaunen und Hochachtung verkündeten sie übereinstimmend, der Prinz werde sonnengleich das Antlitz der Welt erhellen und unter ehrfurchtsvollen Verneigungen prophezeiten sie weiter, seine Herrschaft werde von unsterblicher Größe sein und für alle Zeiten im Gedächtnis der Menschheit verankert bleiben.
Und wie Gotama alle weltlichen Güter sein Eigen nannte, so verfügte er auch über die gesammelten Geheimnisse der Gelehrtheit.
Aber trotz der Fülle seiner Reichtümer war der Prinz unglückseliger als jener erbarmenswerte Bettler, der bei ihren allmorgendlichen Begegnungen die Hand aufhielt, und bei allem Glanz seiner Macht nicht weniger vergrämt als der unterste der Shudras, die ihm die Äcker bestellten, denn ein unbekanntes Sehnen vergällte ihm das Leben und die schreckliche Schlange der Trübsal, die zusammengerollt auf seinem Herzen lag, trug er überall mit sich hin.
Und sah man ihn schweigend und verschlossen seines Weges gehen, wunderte sich ein jeder, wie denn dieser stille Prinz, dem niemals ein Lächeln auf den Lippen lag, jemals zum Beherrscher der Menschen werden könne.
Um ein Heilmittel gegen sein Übel ausfindig zu machen, studierte Gotama die heiligen Überlieferungen der Veden, las die glorreichen Geschichten des Ramayana und vertiefte sich in das Gesetzbuch des Manu. Doch so wie die Nacht in der Abenddämmerung ihren Sieg über den Tag davonträgt, erhob sich über all den Büchern in steter Wiederkehr und triumphierend der Schatten seines Überdrusses. Und weil er in den Schriften dem Geheimnis seines Leidens nicht auf die Spur gekommen war, verließ er mit seiner Vorhut, seinem Gefolge und einer Karawane seiner sanftmütigsten Kamele die Heimat. Er durchquerte Wüsten, Wälder und Flüsse, um die Gelehrten von Golkonda und die Ärzte von Bijapur zu Rate zu ziehen.
Wie schon auf der Hinreise war auch auf dem Rückweg jene unerklärliche Schwermut Gotamas treue Gefährtin. In der Ödnis der Wüste waren sie beide die ganze Zeit über genauso eng miteinander verbunden wie der Schatten seines Kamels mit dem Sande. Unbeirrbar folgten sie einander unter den melancholischen Palmen, begleiteten sich in der Stille der Mangohaine und beim Befahren der Wasserwege. Die tiefe Bekümmernis Gotamas spiegelte sich in der Rätselhaftigkeit der Gewässer wider genauso wie die vier Lichter an den Totenschiffen, die des Nachts den heiligen Strom Ganges hinabglitten. In heimische Gefilde zurückgekehrt hieß Gotama nahe den Toren einer vor Menschen nur so wimmelnden Stadt sein Kamel anhalten. Im Schatten einer Turmruine hatte er eine im Straßenstaub lagernde lächelnde Bettlerin erblickt – eine abscheuerregende, unlängst aus der Stadt verbannte Sklavin, eine Tochter von Shudras. Egal wer an ihr vorbeikam und sie genauer anschaute, schauderte voller Entsetzen zurück, denn der wütende Hund des Aussatzes hatte sich schamlos an ihr ausgelassen. Anders jedoch Gotama! Kaum dass er sie entdeckt hatte, brachte er noch im selben Moment sein Kamel zum Stehen. Denn das Lächeln, das er im Grauen ihres entstellten Mundes hatte aufblühen sehen, war ihm ein zu lösendes Rätsel und so sprach er die Frau an: Wer bist du? Wie schaffst du es, gefangen in den Netzen aller Qualen eine solch freudige Miene zu zeigen …?
Herr, antwortete die Bettlerin, ich bin eine aussätzige Sklavin und gehöre der verfluchten Kaste der Tschandala an. Aber wieso hälst du, der Prinz der Sakyas, hier an, um mit der vaterlosen Tochter einer unglückseligen Shudra das Gespräch zu suchen …? Gotama, der aus dem Born der Bildung geschöpft hatte, schenkte – sich über Gesetz und Sitte hinwegsetzend – der Tschandala weiterhin seine Aufmerksamkeit und fragte sie: Wie bringst du ein Lächeln zustande …?
Herr, der Anblick deiner vorbeiziehenden Karawane hat mich dazu gebracht, denn mir kam in den Sinn, dass der stetige Gang meiner Stunden dem bedächtigen Trott der Kamele gleicht. Schleppend und gebeugt kriecht meine Zeit dahin, trägt sie doch auf ihren Schultern das enorme Gewicht meines Schatzes, nämlich nichts anderes als jenen unermesslichen Schmerz. Indem sie diesen fortschafft, bringt mich meine Karawane ohne jede Hast Schritt für Schritt vor den Thron Unseres Herrn Vishnu, und ich sehe sie mit Freuden und ganz ohne Furcht dahinziehen, da ich mir sehr sicher sein kann, dass kein Wegelagerer mir diese Kostbarkeit rauben wird.
Es zeugt von wahrer Größe, entgegnete Gotama, dass du durch die außerordentliche Demut deinen Feind, den Schmerz, besiegt hast; du hast dich mit den Juwelen deines Leidens geschmückt; du bist die Königin im Reich der Verzweiflung und der Schrecken deiner Geschwüre ist heilig, weil er aus der Hoffnung erwachsen ist.
Und Gotama kehrte zurück in die Stadt seiner Geburt. Immer wenn er sich die arme Tschandala in Erinnerung rief, erhellte sich die Nacht seiner Betrübnis. Daher versammelte er eines Tages alle Amts- und Würdenträger sowie die Bediensteten und Sklaven seines Reiches und eröffnete ihnen: Längst habe ich den unendlichen Schatz, den ich über viele Jahre hinweg vergebens gesucht habe, gefunden. Es ist die Hoffnung. Erbarmen sei der Tiegel, sie einzuschmelzen, meine Worte seien die Goldmünzen, die ich daraus prägen werde. Dieses überaus große Vermögen werde ich schultern und zu den Trostbedürftigen tragen, um sie zu erlösen. Von heute an bin ich der Beherrscher der Tränen, ich nehme den Thron des Mitgefühls ein und mein Herrschaftsgebiet ist der Schmerz. Meine Regentschaft wird für alle Zeit sein, denn von allen Imperien der Welt hat auf ewig nur dieses Bestand.
Und Unser Herr Gotama Sakyamuni nahm Abschied von Frau und Sohn. Er verteilte seine Reichtümer an die Armen, kleidete sich in grobes Leinen, ergriff die Almosenschale und begab sich in die Wüste, wo er vierzig Tage fastete …
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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler
Bildquellen: [1-3] Eschweiler